I^ITTSBURGH ACADEMY OF MEDIC
322 North Craig St.,
PITTSEUEGH, PA.
Zweiter Band
Klinische Psychiatrie.
PSYCHIATRIE.
EIN LEHRBUCH
FÜR
STUDIRENDE UND AERZTE
VON
Dk. EMIL KKAEPELIN,
PEOFESSOR AN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG.
SECHSTE, VOLLSTÄNDIG UMGEARBEITETE AUFLAGE.
IL BAND.
KLINISCHE PSYCHIATRIE.
m MIT 6 TAFELN IN AUTOTYPIE, 3 TAFELN IN PHOTOGRAPHIE, 16 CURVEN,
3 3 DIAGRAMMEN UND 13 SCHRIFTPROBEN.
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1 LEIPZIG,
§, VERLAG VON JOHANN AMBROSIIJS BARTH.
1899.
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Uebersetzungsrecht vorbehaltec.
322 Korth Craig St.,
Inhaltsverzeichniss.
Saite
Die Eintheilung der Seelenstörungen' 1
Lehrbücher der Psjxhiatrie 9
I. Das infectiöse Irresein 11
A. Die Fieberdelirien 12
Grade der Störung — Grundlage derselben — Prognose — Be-
handlung.
B. Die Infectionsdelirien 15
Initialdelirien — Delirien bei Pocken, Typhus, Lyssa.
,C. Die infectiösen Schtoächezustünde 19
Verstimmmig — Wahnbildungen — Expansive Formen — Poly-
neuritische Geistestörung.
II. Das Erschöpfungsirre sein . 30
Ä. Das Collapsdelirium 31
Krankheitsbild — Dauer — Ausgang — Diagnose (Delirium
acutum) — Behandlung.
B. Die acute Verwirrtheit (Ämentia) 37
Meynert's Amentia — Asthenische Verwirrtheit — Verlauf
' — Ursachen — Diagnose — Behandlung.
C. Die chronische nervöse Erschöpfung 45
Erworbene Neurasthenie — Hypochondrie — Ursachen — Ab-
grenzung — Behandlung.
III. Die Vergiftungen 57
1. Die acuten Vergiftungen 57
Stoffwechselerzeuguiäse — Chemische und pflanzliche Gifte.
^"7<^^
VI lalialtsverzeichniss.
Seite
2. Die chronischen Vergiftungen 59
^•1. Der AlTcöholismus 60
Bausch (psychologische Versuche; Thierbefunde) 60
Chronischer Alkoholismus 63
Psychische Störungen (Stumpfheit, Keizharkeit, Willensschwäche)
— Körperliche Störungen (AlkoholepUepsie, Hysterie) — Ur-
sachen — Behandlung, Vorbeugung.
Delirium tremens der Trinker 76
Auffassungsstörungen — Sinnestäuschungen — Beschäftigungs-
delirien — Körperliche Begleiterscheinungen — Pathologische
Anatomie — Ursachen — Behandlung.
Hallucinatorischer Wahnsinn der Trinker 93
Eifersuchtswahn der Trinker 98
Alkoholparalyse 100
B. Der Morphinismus 101
Acute Morphiumwirkung — Chronische Vergiftung — Abstinenz-
erscheinungen — Behandlungsmethoden.
C. Der Cocainismus 117
Cocainrausch — Charakterveränderung — Cocainwahnsinn.
rv. Das thyreogene Irresein 125
A. Das myxödematöse Irresein 125
Krankheitsbild — Ursachen — Kachexia strumipriva — Be-
handlung.
J5. Der Cretinismus 131
Krankheitsbild — Ursachen und Wesen — Bekämpfung.
V. Die Dementia praecox 137
Allgemeines Krankheitsbild 138
Sinnestäuschungen — Aufmerksamkeitsstörungen — Zerfahren-
heit — Wahnbildungen — Gemüthliche Verblödung —Willens-
störungen (Negativismus, Stereotypen, Automatie).
Körperliche Störungen 145
Anfalle.
Klinische Formen 148
Hebephrenische Formen 149
Katatonische Formen 159
Stupor — Erregung — Ausgänge — Eemissionen.
Paranoide Formen 182
Dementia paranoides — Pliantastische Verrücktheit.
Inhaltsverzeichniss. VII
Seite
Ursachen und Wesen 200
Abgrenzung 205
Behandlung 213
VI. Die Dementia paralytica 215
Psychische Krankheitszeichen 215
(iedächtnissstörung — Erinnerungsfälschungen — Urtheilslosig-
keit — Wahnbildungen — Eeizbarkeit, Stimmungswechsel —
Haltlosigkeit, Bestimmbarkeit.
Körperliche Krankheitszeichen 227
Analgesie — Anfalle — PupiUenstörungen — Sprache und
Schrift — Kückenmarkserscheinungen — Allgemeine Ernährungs-
störungen.
Klinische KrankheitsbUder 245
Depressive Form (hypochondrische, ängstliche Paralyse, Ver-
folgungswahn) 24Ä
Expansive Form (classische, circuläre Paralyse) 252
Agitirte Form (galoppirende Paralyse, Delirium tremens) . . 261
Demente Form 264
Verlauf der Krankheit 268
Ausgang 271
Pathologische Anatomie 272
Schädel, Hirnhäute — Zellenveränderungen — Faserschwund —
Eindenschrumpfung — Gliawucherung (Spinnenzellen) — Ge-
fässveränderungen — Kückenmarksveränderungen — Neuritis
— üebrige Organe (Aortenatherora).
Ursachen und Wesen der Paralyse 284
Alter (jugendliche Paralyse) — Geschlecht — Beruf — Syphilis
— Deutung (Metasyphilis, Erschöpfung).
Erkennung 297
Behandlung 303
VIL Das Irresein bei Hirnerkrankungen 307
Ausgebreitete Erkrankungen 307
Gliose der Hirnrinde — Diffuse Hirnsklerose — Lues hereditaria
tarda — Arteriosklerotische Hirnerkrankung, Perivasculäre
Gliose — Subcorticale Encephalitis — Multiple Sklerose.
Umgrenzte Erkrankungen 310
Geschwülste — Abscesse — Blutungen — Embolien, Throm-
bosen — Kopfverletzungen.
YlII Inhaltsverzeichniss.
Seite
VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters .317
A. Die Melanclidlie 317
Krankheitsbild (Einfache, hypochondrische Formen) — De-
pressiver Wahnsinn, nihilistischer Wahn — Angstmelancholie
— Katatonische Zeichen — Verlauf — Abgrenzung — Be-
handlung.
B. Der praesenile Beeinträchtigimgsivahn 342
Krankheitsbild — Abgrenzung.
C. Der Altei-sblödsinn 348
Krankheitsbild — SenUe Verwirrtheit — Depressions- und Er-
regungszustände — Seniles Delirium — Seniler Verfolgungs-
wahn — Leichenbefund — Abgrenzung — Behandlung.
IX. Das maniscli-depressive Irresein 359
Allgemeine Krankheitszeichen 361
Auffassungsstörungen — Bewusstseiusstörungen — Sinnes-
täuschungen, Wahnbildungen — Störungen des Vorstellungs-
verlaufes (Ideecflucht, Denkhemmung) — Stimmungsstörung
(Euphorie, Depression, Eeizbarkeit) — Beschäftigungsdrang
(Tobsucht) — Steigerung der Erregbarkeit — Eededrang
— Psychomotorische Hemmung — Schrift.
Manische Zustände 374
Hypomanie — Tobsucht — Deliriöse Formen — Körperliche
Zeichen — Verlauf, Dauer — Ausgang.
Depressive Zustände 386
Einfache Hemmung — Stupor — Wahnbüdungen — Körper-
liche Zeichen.
Mischzustände . - 394
Manie mit Denkhemmung — Manischer Stupor — Nörgelnde
Manie — Uebergangszustände — Ideenflüchtige Depression.
Ursachen 399
Praedisposition — Lebensalter, Geschlecht.
Umgrenzung 401
Einfache und periodische Formen (Manie, Melancholie) — Circu-
läres In'esein.
AVesen der Krankheit 407
Verlauf der Krankheit 408
Beginn — Dauer der Anfälle — Wiederkehr — Färbung der
Anfälle — Zwischenzeiten — Uebergänge.
JPrognose der Krankheit 416
Cyclothyniie — Formen mit kurzen Zwischenzeiten.
Inhaltsverzeichniss. IX
Seite
Erkennung der Krankheit 419
Behandlung • .... 422
X. Die Verrücktheit (Paranoia) 426
Btgriffsbestimmung 426
Krankheitsbild • . 430
Verfolgungswahn — Grössenwahn — Erotische Verrücktheit —
Sinnestäuschungen, Erinnerungsfälschungen — Handeln und
Benehmen.
Verlauf, Wesen (originäre Paranoia), Erkennung, Behandlung . . 442
Der Querulantenwahn 445
XI. Die allgemeinen Neurosen 455
-4. Das epileptische Irresein 456
Krankheitsbilder 456
Epileptischer Schwachsinn — Periodische Verstimmungen —
Dämmerzustände (psychische Epilepsie), prae- und postepUep-
tisches Irresein, Nachtwandeln — Epileptischer Stupor —
Aengstliches Delirium — Besonnenes Delirium.
Ursachen 473
Alkoholepilepsie (pathologische Eauschzustände, Dipsomanie).
Wesen der Krankheit 479
Hirnveränderungen — Stoffwechselstörungen.
Prognose 482
Diagnose 483
Psychische Aequivalente, Delirium transitorium.
Behandlung , 487
Vorbeugung — Ursächliche Behandlung — Bromsalze.
B. Das hysterische Irresein 492
Krankheitsbilder 492
Hysterische Persönlichkeit (Hypochondrische Störungen, Cha-
rakterveränderung) — Körperliche Begleiterscheinungen —
Dämmerzustände (SchlafanfäUe, Nachtwandeln, Delirien) —
Verstimmungen, Aufregungszustände.
Wesen und Ursachen 508
Geschlechtsunterschiede — Hysterie der Kinder (Chorea magna)
GenitaUeiden — Chemische, psychologische Theorien.
Verlauf, Prognose 512
Diagnose 514
Behandlung 516
Vorbeugung — Castration — Mastkur — Psychische Behandlung.
C. Die Schreckneurose 520
X Inhaltsverzeichiiiss.
Seite
XII. Die psychopatliisclien Zustände (Entartungsirresein) . . 529
A. Die constitutionelle Verstimmung 530
Depression (periodische Schwankungen) — Gereiztheit — Krank-
hafte Zornmüthigkeit
B. Das Zwangsirresein 538
Zwangsvorstellungen (Onomatomanie, Arithmomanie. Fragesucht,
Grübelsucht) — „Phobien" (Platzangst, Höhenangst, Krankhafte
Befangenheit, Erythrophobie, Kleiderangst, Aberglaube) —
Hypochondrie — Zweifelsucht (Papierangst, Schmutzaugst, —
Berührungsfurcht (Waschmanie) — Krisen.
C. Das impulsive Irresein . . . , 557
Brandstiftungstrieb — Stehltrieb, Sammeltrieb — Mordtrieb —
Monomanien.
B. Die conträre Sexualempfindung 562
Krankheitsbild — Psychische Hermaphrodisie — Effeminatio,
Viraginität — Häufigkeit — Erkennung — Ursprung und
Wesen des Zustandes — Behandlung.
Xni. Die psycMscIieii Entwicklungshemmungen 572
Ä. Die Imbecillität 573
Stumpfe, anergetische Formen — Lebhalte, erethische Formen
— Moralischer Schwachsinn (der „geborene" Verbrecher).
B. Die Idiotie 587
Grade der Störung — Anergetische und erethische Formen —
Körperliche Zeichen (Epilepsie) — Ursachen (Alkohol, Schädel-
verletznngen, Schädel verbildungen) — Pathologische Anatomie
(Entwicklungshemmungen, Elrankheitsvorgänge) — Erkennung
— Behandlung.
Register 002
Die Eiutheilung der Seeleustöruugen*).
Den Ausgangspunkt einer ärztlichen Erkenntniss der Geistes-
störungen bildet naturgemäss die Begriffsbestimmung und Um-
grenzung einzelner Krankheitsformen. Zu einer befriedigenden
Lösung dieser Aufgabe müssten uns einerseits die Veränderungen
im Ablaufe der physiologischen Vorgänge unserer Hirnrinde, anderer-
seits die mit ihnen zusammenhängenden psychischen Functions-
störungen genau bekannt sein. Nur dann offenbar wären wir im
Stande, aus den psychischen Erscheinungen auf die krankhaften
körperlichen Grundlagen derselben sowie weiterhin auf die Ur-
sachen des ganzen Krankheitsvorganges zurückzuschliessen und um-
gekehrt. Leider sind wir von einer derartigen tieferen Einsicht in
das Zustandekommen der Geisteskrankheiten heute nur allzuweit
noch entfernt. Wir können uns aber auch nicht verhehlen, dass
gerade die Annäherung an jenes uns zunächst vorschwebende Ziel
uns höchst wahrscheinlich immer eindringender die Unmöglichkeit
einer wirklich durchgiaif enden Eintheilung der Seelenstörungen dar-
thun wird.
Ueberall, wo wir den Versuch wagen, Lebensvorgänge ohne
Rest und ohne Zwischenstufen in ein Schema einzuordnen, machen
wir die Erfahrung, dass sich die anfangs scharf erscheinenden Grenzen
bei genauerer Erkenntniss des Gegenstandes immer mehr verwischen,
dass von jedem Beobachtungstypus zahllose, unmerklich abweichende
Glieder zu den benachbarten Typen hinüberführen. Der Un-
möglichkeit einer durchgreifenden Scheidung zwischen gesunden und
*) Kahlbaum, Die Gruppiruug der psychischen Krankheiten. 1863; Volk-
mann's klinische Vorträge, 126; Oebhecke, Vergleichende Ueber sieht der Classi-
ficationen der Psychosen, Diss. 1886.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 1
2 Eintheilting der Seelenstörungen.
krankhaften Zuständen haben wir früher schon gedacht; ebenso
werden wir mit Bestimmtheit erwarten müssen, zwischen ein-
zelnen schulmässigen „Krankheitsformen" alle möglichen Uebergänge
im Leben anzutreffen. Sehen wir doch auch in der inneren Medicin
selbst die eigenartigsten Krankheitsgruppen, die acuten Infections-
krankheiten, sich durch eine Menge von „nicht ausgesprochenen",
„abortiven" u. s. w. Fällen allmählich in anders benannte „Krankheits-
species'' hinein verlieren ! Eine besonders grosse Ausdehnung wird
das Gebiet der Zwischenformen bei den Geistesstörungen durch den
Umstand gewinnen müssen, dass die einzelnen Theile des Gehirns
nicht die gleichen Verrichtungen haben. Nicht nur die Art und
Stärke der krankhaften Yeränderungen, sondern auch ihr besonderer
Sitz wird daher vermuthlich eine unübersehbare Folge feinerer Ab-
stufungen in der Gestaltung des psychischen Zustandes zu erzeugen
im Stande sein.
Wenn wir somit von einer glatten Eintheilung der Seelen-
störungen, etwa im Sinne Linne's, für alle Zeiten und von einer
Aufstellung wissenschaftlich fest begründeter Typen für jetzt noch
absehen müssen, so fordert doch das praktische Bedürfniss schon
heute "wenigstens eine ungefähre Gruppirung des Erfahrungsrohstoffes,
die um so bleibenderen Werth besitzen wird, je w^eniger sie sich
durch vorgefasste Meinungen in der nüchternen Verarbeitung der
Thatsachen beeinflussen lässt.
Die sicherste Grundlage für eine derartige Eintheilung der
Irreseinsformen scheint, namentlich im Hinblicke auf die Erfahrungen
der inneren Medicin, zunächst die pathologische Anatomie zu
versprechen. Leider indessen liegt die Aussicht auf die Feststellung
verwerthbarer Leichenbefunde für die grosse Mehrzahl der Geistes-
störungen noch in weiter Ferne. Selbst dort aber, wo wir schon
heute gröbere Veränderungen im Gehirne nachzuweisen vermögen,
fohlt uns doch durchaus noch das genauere Verständuiss für den
Zusammenhang der anatomischen Thatsachen mit den klinischen Er-
scheinungen, so dass wir es nur in einzelnen Ausnahmefällen (Miss-
oder Hemmungsbildungen, ausgedehnte Zerstörungen, hochgradige
Atrophie) wagen dürften, am Sectionstische einigermassen zuver-
sichtliche Vermuthungen über den psychischen Zustand während des
Lebens auszusprechen. An der Unzulänglichkeit des Beobachtungs-
raaterials wie an der Schwierigkeit des Rückschlusses auf klinische
Anatomische, ursächliche, klinische Eintheilungen. 3
Erscheinungen sind daher auch die bisherigen Versuche einer patho-
logisch-anatomischen Eintheilung der Geistesstörungen sämmtlich ge-
scheitert.
Kaum weniger schwerwiegende Einwände lassen sich gegen den
Versuch einer Eintheilung der Psychosen nach den Ursachen
vorbringen, die noch in neuester Zeit mit Nachdruck als die allein
werthvolle hingestellt worden ist. Allerdings kennen wir schon heute
einige Ursachen, deren Einfluss sich in ganz bestimmten khnischen
Merkmalen geltend macht und somit umgekehrt aus diesen er-
schlossen werden kann. Dahin gehören namentlich die verschiedenen
Formen von Vergiftung und einzelne körperliche Erkrankungen,
Kopfverletzungen, ferner wahrscheinlich die Erschöpfung, vielleicht
manche heftige Gemüthserschütterungen und endlich die schwereren
Formen der erblichen Entartung, deren Wesen und Wirkungsweise
unserem Verständnisse freilich noch sehr fern liegt. Dem gegen-
über sind die Ursachen des Irreseins in der erdrückenden Mehrzahl
der Fälle für uns vollständig dunkel, wie jede ehrliche Würdigung
der täglichen Erfahrung ohne weiteres wird eingestehen müssen.
Das liegt nicht allein an äusseren Zufälligkeiten, an der Schwierig-
keit, gute Anamnesen zu erhalten, sondern ist wol in der Natur der
Geistesstörungen selbst begründet. Am häufigsten haben wir es hier
mit solchen Erkrankungen zu thun, deren wesentliche Ursachen in
der Veranlagung oder in völlig unbekannten inneren Zuständen des
Organismus gelegen sind. Ausserdem aber spielt die Eigenart des
Einzelnen auch für sein Verhalten gegen äussere Schädlichkeiten
in diesem Gebiete vielfach eine entscheidende Rolle. Gerade die
Erforschung und Zergliederung geistiger und körperlicher Persönlich-
keiten ist indessen leider bisher nicht über die allerersten Anfänge
hinausgekommen. Endlich wird zu berücksichtigen sein, dass die
Ursachen der Geistesstörungen anscheinend vielfach in Verbindung
mit einander wirken, so dass sich auch aus diesem Grunde der innere
Zusammenhang der gegebenen Erscheinungen fast niemals mit jener
Klarheit durchschauen lässt wie etwa bei dem Entstehen einer In-
fectionskrankheit.
Bei weitem am häufigsten ist der Weg einer Eintheilung der
Geistesstörungen nach ihren klinischen Zeichen eingeschlagen
worden, weil die Erscheinungen des Irreseins dem Beobachter am
unmittelbarsten in die Auo-en fallen. Auch dieses Verfahren stösst
4 Eintheilimg der Seelenstörungen.
sehr bald auf Schwierigkeiten, sobald es gilt, das Wesentliche vom
Zufälligen und Nebensächlichen zu unterscheiden. Es führt mit einer
gewissen Nothwendigkeit zur Ueberschätzung des einzelnen Merk-
mals, zu der Neigung, alle Krankheitsfälle zu einer Form zusammen-
zufassen, denen eine bestimmte auffallendere Störung gemeinsam ist.
Die Geschichte der Psychiatrie bis auf die Gegenwart herab ist voll
von derartigen Yerirrungen. Heute _freilich sollte allein das Bei-
spiel der Dementia paralytica lehren, dass es einzelne untrügliche
Kennzeichen auf dem Gebiete des Irreseins schlechterdings nicht
giebt, sondern dass nur das Gesammtbild eines Krankheits-
falles in seiner Entwicklung vom Anfang bis zum Ende die
Berechtigung zur Yereinigung mit anderen gleichartigen Beobach-
tungen gewähren kann. Dieselben Einzelerscheinungen können sich,
wie die Erfahrung zeigt, unter gewissen Umständen in sonst völlig
auseinandergehenden Fällen einstellen, wie etwa Fieber, Husten,
Brustschmerzen u. s. f. bei den verschiedenartigsten Lungenerkran-
kungen. Dazu kommt, dass uns bei der Unvollkommenheit unserer
Forschungsmittel die vielleicht durchaus verschiedene Entstehungs-
weise und Bedeutung für wesensgleich gehaltener Erscheinungen
gänzlich verborgen bleiben kann. Man denke nur an die Verwirrung,
welche etwa ein Zusammenwerfen aller körperlichen Erkrankungen
mit Albuminurie zur Folge haben würde!
Besässen wir auf einem der drei Gebiete, der pathologischen
Anatomie, der Aetiologie oder der Symptomatologie des Irreseins
eine durchaus erschöpfende Kenntniss aller Einzelheiten, so würde
sich nicht nur von jedem derselben her eine einheitliche und durch-
greifende Eintheilung der Psychosen auffinden lassen, sondern jede
dieser drei Gruppirungen würde auch — diese Forderung ist
der Grundpfeiler unserer wissenschaftlichen Forschung überhaupt
— mit den beiden anderen wesentlich zusammenfallen.
Die aus den gleichen Ursachen hervorgegangenen Krankheitsfälle
würden stets auch dieselben Erscheinungen und denselben Leichen-
befund darbieten müssen. Aus dieser Grundanschauung ergiebt
sich, dass die klinische Gruppirung der psychischen Störungen sich
auf alle drei Hülfsmittel der Eintheilung, denen man noch die aus
dem Verlaufe, dem Ausgange, ja der Behandlung gewonnenen Er-
fahrungen hinzufügen muss, gleichzeitig zu stützen haben wird.
Je mehr sich dabei die aus der verschiedenartigen Betrachtung ge-
Praktische Gesichtspunkte. 5
wonnenen Formen mit einander decken, desto grösser ist die Sicher-
heit, dass diese letzteren wirklich eigenartige Krankheitszustände
darstellen.
Gerade dieses Verfahren ist auf der heutigen Entwicklungs-
stufe unserer Wissenschaft das einzige, welches auch die an uns
herantretenden praktischen Forderungen einigermassen zu be-
friedigen vermag. Die erste Aufgabe des Arztes am Krankenbette
ist es, sich ein Urtheil über den voraussichtlichen weiteren Ver-
lauf des Krankheitsfalles zu bilden. Diese Frage wird unter allen
Umständen zunächst an ihn gerichtet. Der Werth jeder Diagnose für
die praktische Thätigkeit des Irrenarztes bemisst sich daher ganz
wesentlich danach, wie weit sie sichere Ausblicke in die
Zukunft eröffnet. Gleiche Krankheitsursachen werden im all-
gemeinen auch einen gleichen Verlauf des Leidens bedingen, und
aus den klinischen Zeichen müssen wir im Stande sein, die weiteren
Schicksale unseres Kranken in grossen Zügen herauszulesen. Zur
Erreichung dieses Zieles ist es nöthig, alle Handhaben zu ergreifen,
welche die Beobachtung uns irgend zu bieten vermag: das ist
der Grundsatz, der uns überall leiten sollte, wo wir es mit der
Abgrenzung und Begriffsbestimmung einzelner Ki'ankheitsformen zu
thun haben.
Wenn wir in diesem Sinne auch heute schon thatsächlich eine
ganze Reihe von Psychosen kennen, die mindestens ebensogut ge-
kennzeichnet sind wie die Mehrzahl der körperlichen ,,Krankheiten",
so setzen doch grosse Gebiete des Irreseins den Eintheilungs-
bestrebungen derartige Schwierigkeiten entgegen, dass man nicht
selten eine befriedigende Gruppirung der Seelenstörungen als eine
vielleicht überhaupt unlösbare Aufgabe betrachtet hat. Ich kann
diese Anschauung nur insoweit theilen, als sie die oben erwähnten
grundsätzlichen Hindernisse einer Einzwängung von Lebens-
vorgängen in scharf abgegrenzte Formen im Auge hat. Dagegen
scheint mir der soeben angedeutete Weg durchaus gangbar. Jedem
Irrenarzte ist es bekannt, dass uns bisweilen Fälle begegnen, welche
in jeder Beziehung, nach Entstehungsart, allen Einzelheiten der
Krankheitserscheinungen und weiterem Verlaufe eine geradezu ver-
blüffende Uebereinstimmung mit einander darbieten. Derartige Be-
obachtungen werden den natürlichen Ausgangspunkt unserer Ein-
theilungsbestrebungen zu bilden haben. Durch strenge Ausscheidung
6 Eintheilung der Seelenetönmgen.
aller nicht ganz dem ersten Typus entsprechenden Fälle ATerden
wir zunächst zur Aufstellung zahlreicher kleinerer, wenig von
einander abweichender Gruppen geführt, deren nähere und fernere
Verwandtschaft sich beim Ueberblick über grosse Beobachtungs-
reihen unschwer wird erkennen lassen. Die gewissenhafte Zer-
splitterung der Formen in ihre kleinsten und anscheinend unbe-
deutendsten Abänderungen, wie wir sie etwa heute in der Lehre
von der Muskelatrophie wiederfinden, ist somit die unerlässliche Vor-
stufe für die Gewinnung wirklich einheitlicher, der Natur entsprechen-
der Krankheitsbilder.
Bis zur Erreichung dieses Zieles bedarf es noch lange fort-
gesetzter, sorgfältiger Einzelbeobachtung. Niemand wird daher die
lediglich vorläufige Bedeutung aller heute möglichen Aufstellungen
verkennen wollen, aber man darf dennoch hoffen, dass die weitere
Entwicklung der klinischen, alle Eigenthümlichkeiten unseres
Gegenstandes gleichmässig verwerthenden Betrachtungsweise uns in
nicht allzu langer Zeit zu einer Gruppirung der Psychosen führen
wird, welche sich den entsprechenden Leistungen im Bereiche der
übrigen Medicin völlig gleichberechtigt an die Seite zu stellen vermag.
Die von mir im folgenden durchgeführte Eintheilung beginnt
mit denjenigen Formen des Irreseins, die durch äussere Ursachen
hervorgerufen werden. Dahin gehören die Geistesstörungen nach
infectiösen Erkrankungen, die Erschöpfungspsychosen, in-
sofern sie ebenfalls in der Regel durch schwere körperliche
Schädigungen erzeugt werden, endlich die Vergiftungen. An die
Vergiftungen durch von aussen eindringende Stoffe schliessen sich
die Selbstvergiftungen durch Stoffwechselerzeugnisse an, von
denen wir allerdings auf unserem Gebiete etwas genauer heute nur
die Folgezustände der Schilddrüsenerkrankungen kennen. Es
liegen indessen, wie ich glaube, eine Reihe von Anhaltspunkten für
die Annahme vor, dass auch noch andere Formen des Irreseins, iös-
besondere die Dementia praecox und die Paralyse, auf Selbst-
vergiftungen beruhen, deren Wesen und Entstehung dort freilich
noch gänzlich unbekannt ist, während wir hier als letzte Ursache
in der Regel eine sj^philitische Ansteckung zu verzeichnen haben.
Als weitere kleine Untergruppe wurde das Irresein bei
Hirnerkrankungen zusammengefasst. Hier ist meist von äusseren
Ursachen nicht mehr die Rede, wenn wir von den Geistesstörungen
Eigene Eintheilung. 7
nach Kopfverletzungen absehen. Höchstens können wir bei manchen
Geschwülsten, bei den Embolien, bei syphilitischen Veränderungen
die Himerkrankung auf allgemeinere oder an anderen Punkten des
Körpers gelegene Leiden zurückführen. Dagegen bestehen gewisse
klinische Beziehungen zu den schweren Vergiftungen und zur Para-
lyse, insofern wir es in allen diesen Fällen mit ausgebreiteten Zer-
störungen des Hirngewebes zu thun haben, die nicht nur in psychi-
schen, sondern auch in körperlichen Krankheitszeichen sich be-
merkbar machen. Aehnliches gilt für die Geistesstörungen der
höheren Lebensalter. Allerdings finden wir hier gröbere Erkrank-
ungen des Hirns in Gestalt von Alters Veränderungen nur bei den
eigentlich senilen Formen. Wir sehen indessen das Irresein der
Kückbildungsjahre so unmerklich in den eigentlichen Altersblödsinn
übergehen, dass es unmöglich erscheint^ beide Gruppen grundsätzlich
von einander zu trennen. Vielmehr dürfen wir vielleicht annehmen,
dass schon in der Rückbildungszeit sich die ersten Andeutungen
jener Störungen kundgeben, die späterhin zu schwerem geistigen
Siechthume führen können.
Die Gruppe der Rückbildungspsychosen leitet uns hinüber zu
denjenigen Formen des Irreseins, bei deren Entstehung mehr und
mehr die krankhafte Veranlagung in den Vordergrund tritt.
Zweifellos spielt schon dort ausser den aufreibenden Einflüssen der
Lebensarbeit auch die ursprüngliche Widerstandsfähigkeit eine
wichtige Rolle. In noch höherem Grade aber scheint das bei
jener allmählichen krankhaften Umwandlung der gesammten psychi-
schen Persönlichkeit der Fall zu sein, die wir als Verrücktheit
bezeichnen. Dasselbe gilt ohne jeden Zweifel vom manisch-depres-
siven Irresein. Der einzelne Anfall des Leidens kann dabei aller-
dings recht wol durch äussere Schädigungen ausgelöst werden. Da-
gegen zeigt uns die häufige Entstehung ohne Anlass und namentlich
die Uebereinstimmung der klinischen Krankheitsbilder unter den
verschiedensten Bedingungen, dass die eigentliche Ursache nicht in
äusseren Anstössen, sondern in der besonderen krankhaften Ver-
anlagung des Einzelnen gelegen ist.
Ist hier die grundlegende krankhafte Eigenthümlichkeit während
der Zwischenzeiten zwischen den Anfällen meist gar nicht erkenn-
bar, so macht sie sich in der Regel dauernd recht deutlich bemerk-
bar bei der nun folgenden Gruppe von Erkrankungen, die unter
8 Eintheilung der Seelenstörungen.
dem gebräuchlichen Namen der allgemeinen Neurosen zusaramen-
gefasst werden sollen. Hier können mit oder ohne besonderen An-
stoss mannigfaltige, aber klinisch gut gekennzeichnete Psychosen zu
Stande kommen, meist von kürzerer Dauer, nach deren Ablauf der
krankhafte Grundzustand unverändert wieder hervortritt. Was diese
Gruppe vor anderen auszeichnet, ist die Häufigkeit der verschieden-
artigsten functionellen nervösen Störungen.
Den allgemeinen Neurosen nahe verwandt sind, die einfachen
psychopathischen Zustände, die mit geringen Schwankungen das
ganze Leben hindurch wesentlich unverändert andauern. Wir haben
es hier mit krankhaft gearteten Persönlichkeiten zu thun, welche
nach irgend einer Kichtung hin aus dem Kahmen des gesunden
Seelenlebens heraustreten. Vorübergehende stärkere Störungen ihres
psychischen Gleichgewichtes, Erregungen, Verstimmungen, kommen
auch hier nicht selten zur Beobachtung, aber es handelt sich dabei
nicht um abgegrenzte Krankheitsbilder, wie bei den allgemeinen
Neurosen, sondern einfach um Verschlimmerungen des mehr oder
weniger deutlich fortbestehenden eigenthüm liehen Zustandes.
Den Schluss der langen Reihe bilden diejenigen Zustände,
welche wesentlich seelische Entwicklungshemmungen bedeuten.
Das klinische Bild entspricht hier noch weniger, als in der vorigen
Gruppe, einer eigentlichen Krankheit, sondern nur einer unvoll-
kommenen Ausbildung der psychischen Persönlichkeit. Bisweilen
liegen diesen Defectzuständen geradezu körperliche Entwicklungs-
hemmungen zu Grunde. Häutiger aber sind, wie es scheint, Krank-
heitsvorgänge im unentwickelten Gehirne, die durch theilweise Ver-
nichtung desselben die psychische Ausbildung unmöglich machen.
Streng genommen sollte man die Eälle letzterer Art den Hirnkrank-
heiten zurechnen. Allein wir sind auf der einen Seite heute noch
nicht im Stande, hier im Leben überall sicher zwischen Entwicklungs-
hemmung und Hirnerkrankung zu unterscheiden; andererseits aber
wird das klinische Bild in so hohem Grade durch das gemeinsame
Merkmal der angeborenen psychischen Unfähigkeit beherrscht, dass
sich einstweilen wenigstens die Trennung jener beiden ursächlich
auseinanderweichenden Gruppen nicht empfiehlt. Ja, wir werden
sogar noch einen Schritt weiter gehen und diesen Defectzuständen
auch diejenigen Schwachsinnsformen zurechnen, welche in den ersten
Lebensjahren durch schwere Hirnerkrankungen erzeugt werden. Auch
Eigene Eintheilung. 9
bei ihnen wird die Entwicklung einer psychischen Persönlichkeit in
der ersten Anlage vernichtet.
Am Schlüsse dieser Ausführungen darf ich nicht unterlassen,
nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass so manche der im folgenden
abgegrenzten Krankheitsbilder nur Versuche sind, einen gewissen
Theil des Beobachtungsraaterials wenigstens vorläufig in der Form
des klinischen Lehrstoffes darzustellen. lieber ihre wahre Bedeutung
und über ihr gegenseitiges Verhältniss wird erst die dringend noth-
wendige monographische Durcharbeitung des ganzen Gebietes allmäh-
lich Klarheit bringen. Es ist ferner unbestreitbar, dass es uns heute
trotz redlichsten Bemühens noch in einer recht erheblichen Zahl von
Fällen schlechterdings nicht gelingt, sie in den Kahmen einer der
bekannten Formen des „Systems" einzuordnen. Ja, nach manchen
Richtungen hat die Anzahl derartiger Beobachtungen sogar zuge-
nommen, und an die Stelle zuversichtlichen Wissens ist vielfach Un-
sicherheit und Zweifel getreten. Für den Schüler hat diese That-
sache gewiss etwas Beunruhigendes — dem Forscher bedeutet sie
nichts, als den Bruch mit der herkömmlichen Verschwommenheit
unserer Diagnosen zu Gunsten einer schärferen Begriffsbestimmung
und eines tieferdringenden Verständnisses der klinischen Erfahrungen.
Lehrbücher der Psychiatrie.
W. Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten.
4. Aufl. 1876. Eine 5. Auflage ist 1892 von Levinstein-Schlegel
herausgegeben worden.
H. Schule, Khnische Psychiatrie (v. Ziemssen's Handbuch der Pathologie und
Therapie, XVI). 3. Auflage. 1886.
E. V. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 6. Auflage. 1897.
J. Salgö (Weiss), Compendium der Psychiatrie. 2. Auflage. 1889.
E. Arndt, Lehrbuch der Psychiatrie. 1883.
H. Neumann, Leidfaden der Psychiatrie für Mediciner und Juristen, 1883.
Th. Meynert, Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirus. Erste
Hälfte. 1884.
J. L. A. Koch, Kurzgefasster Leitfaden der Psychiatrie. 2. Auflage. 1889.
Th. Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie. 1890.
Th. Kirchhoff, Lehrbuch der Psychiatrie. 1892.
Fr. Scholz, Lehrbuch der Irrenheilkunde. 1892,
10
0. Dornblüth, Compendium der Psychiatrie. 1894.
Th. Ziehen, Psychiatrie. 1894.
C. Wer nicke, Grundriss der Psychiatrie, Theil I. 1894; II. 1896.
Aus der neueren französischen Literatur wären hier zu erwähnen die grösseren
Werke von Dagonet (1876, Neue Bearbeitung 1894), Luys (1881), Ball (2. Aufl.,
1890), dann die kleineren von Bra (1883), Cullerre (1889), Regis (2. Auflage, 1892)^
Max Simon (1891), Sollier (1893). Dazu kommen die gesammelten Abhandlungen
von A. Voisin (1883), Baillarger (1890), Cotard (1890), Falret (1890), Magnau
(1893), Seglas (1895), endlich der Abschnitt über Geisteskrankheiten von Ballet
aus dem grossen Handbuche der Medicin von Bouchard (1895). In England sind
Lehrbücher erschienen von Clouston (4. Auflage, 1896), Savage (1894, deutsch
von Knecht, 1887), Lewis (1890), Blandford (4. Auflage, 1894), Shaw (1892),
Campbell Clark e (1897), Kellogg (1897), sowie das grosse Sammelwerk von
Hack Tuke (1892), in America die Werke von Spitzka (1887) und Hammond
(1883), in Italien das kurze Lehrbuch von Agostiui (1897) und die Bearbeitung
des Balle t'schen Werkes mit Blocq's Darstellung der progressiven Paralyse
von Morselli, weiterhin in Dänemark die Vorlesungen von Poutoppidan (1892
und 1893), endlich in Russland das Buch von Kowalewski (1887) und dasjenige
von Korssakow (1893).
I. Das infectiöse Irresein.
Wir beginnen unsere Darstellung der klinischen Krankheits-
formen mit denjenigen Geistesstörungen, die durch Infectionsgifte
erzeugt werden. Gemeinsam ist ihnen die Verbindung mit den
körperlichen Allgemeinerscheinungen, welche das Eindringen und
Wuchern der verschiedenen Krankheitserzeuger begleiten. Ob die
Rindenveränderungen, die sich hier abspielen, überall auf dieselbe
Weise, durch unmittelbare Giftwirkung bestimmter Toxine, zu Stande
kommen, erscheint noch zweifelhaft; für gewisse Formen liegt die
Annahme nahe, dass wir es mit giftigen Zerfallsstoffen zu thun haben,
die erst mittelbar aus den Störungen des Körperhaushaltes hervor-
gehen. Höchst wahrscheinlich aber haben wir jedem Krankheitsgifte
eigenartige Wirkungen zuzuschreiben, auch wenn wir heute die ein-
zelnen Formen klinisch und anatomisch noch nicht klar auseinander
zu halten vermögen. Ansätze zu einer derartigen Scheidung sind
immerhin schon vorhanden ; auch giebt es Infectionskrankheiten,
wie z. B. den Tetanus, die trotz der schwersten nervösen Störungen
das Seelenleben fast unberührt lassen. Die bei anderen Giften
immer deutlicher hervortretende Verschiedenheit in Art und Richtung
der Beeinflussung, zu der unsere electiven Färbeverfahren ein Seiten-
stück liefern, dürfte sich demnach auch für die durch Infectionen
erzeugten Gifte allmählich nachweisen lassen. Vor der Hand frei-
lich werden wir uns hier darauf beschränken müssen, einzelne,
klinisch schon etwas besser gekannte Krankheitsgruppen in groben
Umrissen zu zeichnen. Es sei uns gestattet, dabei die gewöhnlichen
Fieberdelirien, die eigenartigen Infectionsdelirien und die
infectiösen Schwächezustände auseinander zu halten, wie wir
sie als länger dauernde Nachkrankheiten schwerer Infectionen be-
obachten.
12 I. Das iafectiöse Irresein.
A. Die Fieberdelirien.
Den Fieberdelirien hat man wegen ihrer kurzen Dauer und
ihrer nur „symptomatischen" Bedeutung häufig die Zugehörigkeit zu
den Geisteskrankheiten überhaupt streitig gemacht; eine fortschreitende
Erfahrung hat uns indessen noch weit kürzer dauernde Psychosen
kennen gelehrt und uns zu einer wesentlich symptomatischen Auf-
fassung jeglichen Irreseins geführt. Das Krankheitsbild, welches die
Fieberdelirien darbieten, ist kein gleichförmiges; vielmehr können
wir mit Liebermeister*) mehrere Grade der Störung unter-
scheiden, welche augenscheinlich der Ausbildung des krankhaften
Vorganges im Gehirn entsprechen und uns von den Erscheinungen
der Reizung allmählich in diejenigen der Lähmung und völligen
Yernichtung des Seelenlebens hinüberführen.
Der erste Grad des Fieberdeliriums kennzeichnet sich durch
allgemeines Unbehagen, Eingenommenheit des Kopfes, Empfindlich-
keit gegen stärkere Sinneseindrücke, Reizbarkeit, Unlust zu geistiger
Arbeit, leichte Unruhe und Störung des Schlafes mit lebhaften,
ängstlichen Träumen. Im zweiten Grade greift die Bewusstseins-
störung tiefer; die Wahrnehmung wird durch illusionäre und
hallucinatorische, rasch sich mehrende Sinnestäuschungen verfälscht.
Die Vorstellungen gewinnen eine grosse Lebendigkeit; der Verlauf
derselben entzieht sich in buntem, traumartigem Zusammenhange
dem bewussten Einflüsse der Kranken. Sie glauben sich von fabel-
haften Gestalten bedroht und ringen in verzweifeltem Kampfe mit
vermeintlichen Gegnern ; sie sehen aus den Mustern der Tapete sich
grinsende Fratzen oder Engelsköpfe bilden, die sich loslösen und
im Zimmer herumfliegen; sie fühlen, wie ihnen der Kopf abgenommen
wird, wie Jemand an ihrer Bettdecke zupft. Federleicht, schwebend
werden sie über bunte, fabelhafte Gegenden, durch prächtig ge-
schmückte Räume getragen; Glockenläuten ertönt und wirres
Schreien, ein feindliches Verdammungsurtheil oder liebliche Musik.
In alle diese zusammenhangslosen Einbildungen hinein mischen sich
dann einzelne wirkliche Wahrnehmungen, die auch wol für Augen-
blicke den Kranken zur Besonnenheit zurückrufen; alsbald aber
*} liiebermeister, Deutsches Arcliiv für klin. Medicin I, 543.
Fieberdelirien. 13
versinkt er wieder in die Flutli der massenhaft hereindringenden
Täuschungen. Zugleich wächst die Unruhe; lebhafte heitere oder
traurige Stimmungen tauchen auf und entwickeln sich zu Gemüths-
bewegungen, bis dann auf der Höhe des dritten Grades das Krank-
heitsbild einer starken Bewusstseinstr Übung mit völliger ünbesinn-
lichkeit, verworrener Ideenjagd, heftigen, oft wechselnden Gefühls-
ausbrüchen und mächtigem, selbst rasendem Bewegungsdrange zur
Ausbildung gelangt ist. Allerdings gesellen sich nun schon häufig
einzelne Lähmungszeichen diesen psychischen Reizungserscheinungen
hinzu (vorübergehende Schlafsucht, Schwäche und Unsicherheit der
Bewegungen) und deuten bereits den Uebergang in den völligen
Verfall des psychischen Lebens an. Im vierten Grade schwächt
sich die Erregung zum Flockenlesen und unsicheren Herumtasten
ab. Der Kranke murmelt einzelne zusammenhangslose Worte oder
Sätze vor sich hin (blande, mussitirende Delirien) und versinkt
schliesslich in einen Zustand dauernder Betäubung (Koma, Lethargie),
aus dem er gar nicht oder doch nur durch sehr kräftige Reize vor-
übergehend erweckt werden kann (Koma vigil).
Die besondere Art der fieberhaften Erkrankung scheint die Ge-
staltung der Delirien im ganzen wenig zu beeinflussen. Nur die
Schnelligkeit, mit welcher sich das Fieber entwickelt, die Stärke
und Dauer desselben sowie der Zustand der lebenswichtigen Organe
ist massgebend. Immerhin dürften bei Variola, Scharlach, Erysipel,
bisweilen auch beim Gelenkrheumatismus, rasch ausbrechende ver-
wirrte Aufregungszustände überwiegen, während in der Pneumonie
und im Typhus mehr die deliriöse Benommenheit und leichte Be-
täubung beobachtet werden. Eine eigenartige Gruppe der Fieber-
delirien bilden die bisweilen beim Gelenkrheumatismus, seltener
auch bei Scharlach und einigen anderen Erkrankungen beobachteten
Fälle mit plötzlicher Entwicklung hyperpyretischer Temperaturen
( — 44"). Hier pflegen nach leichten Vorboten, Unruhe, Sprechen im
Schlafe, Geschwätzigkeit oder Stumpfheit, rasch ausserordentlich heftige
deliriöse Erregungszustände einzutreten, die bis zum Tode andauern
oder allmählich in schwere Benommenheit übergehen.
Als die krankhafte Grundlage der Fieberdelirien können
einmal das Fieber selbst (Temperatursteigerung, Beschleunigung des
Stoffwechsels, Auftreten besonderer Zerfallsstoffe), sodann Kreislaufs-
störungen (Wallungen, später Stauungen, namentlich bei Beein-
14 I. Das infectiöse Irresein.
trächtigung der Herzthätigkeit), Organerkrankungen und endlich die
"Wirkung infectiöser Krankheitsgifte angesehen werden. Möglicher-
weise sind sogar diese letzteren die eigentlich massgebenden Ur-
sachen, so dass wir die Fieberdelirien vielleicht nur als eine be-
sondere Form der Infectionsdelirien anzusehen haben. Nicht selten
kommt jedoch auch dem Alkoholismus eine wesentliche ursächliche
Bedeutung zu, vor allem bei der Pneumonie. Im übrigen spielt die
Veranlagung bei der eingreifenden Natur der Krankheitsursachen
eine verhältnissmässig geringe Rolle, doch ist es eine sehr bekannte
Erfahrung, dass jüngere Lebensalter, Frauen und nervöse Menschen
schon bei niedrigeren Fiebergraden leichter zu Delirien geneigt sind.
Die Prognose dieser Störungen wird durch den Umstand ge-
trübt, dass sie vorzugsweise schwerere Erkrankungs fälle zu begleiten
pflegen; nach meiner Statistik starben 35,6% ^^^^ Kranken, doch
haben dabei nur sehr ausgeprägte Formen der Delirien Yerwerthung
gefunden. Von den hyperpyretischen Fällen scheinen nur etwa 1/5
mit dem Leben davonzukommen. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle (70,6%) übersteigt die Dauer des Irreseins eine Woche nicht;
fast regelmässig schwindet die Störung mit dem Abfalle des Fiebers.
Nicht allzu selten indessen bestehen wenigstens einzelne auf der
Höhe der Erkrankung entstandene Einbildungen noch einige Zeit
lang fort. Der im Delirium gesammelte Reichthum, die prächtigen
Kutschen, über welche der Kranke verfügte, das über ihn gesprochene
Todesurtheil, die Unthat, die er begangen hat, beglücken und quälen
ihn noch so lange, bis allmählich die getrübte Besonnenheit sich
vollständig wieder klärt. In einzelnen Fällen gehen die Fieber-
delirien unmittelbar in die später zu schildernden infectiösen
Schwächezustände über, oder es entwickeln sich nach dem Abfalle
des Fiebers jene Krankheitsbilder, die wir als Erschöpfungspsychosen
zu betrachten pflegen. Endlich kann natürlich die fieberhafte Krank-
heit unter Umständen auch solche Formen des Irreseins auslösen,
die eigentlich eine ganz andere Entstehungsweise haben. Nament-
lich die einzelnen Anfälle des manisch-depressiven Irreseins kommen
hier in Betracht, ferner bisweilen die Paralyse und die Dementia
praecox; so sah ich z. B. eine Katatonie sich an eine Lungen-
entzündung anschliessen. Natürlich ist in solchen Fällen das Fieber
nicht die Ursache, sondern nur der äussere Anstoss zum Ausbruche
der anderweitig vorbereiteten Geistesstörung.
Infectionsdelirien. 15
Die Behandlung der Fieberdelirien ist im allgemeinen die-
jenige des Grundleidens. Ausserdem kann man sich des Eisbeutels
auf den Kopf zur^Bekämpfuug der Hirnhyperaemie bedienen. Einen
sehr entschiedenen Einfluss auf die Milderung der Fieberdelirien
üben ferner die Anwendung kühler Bäder sowie kalte Einwickelungen
und Abreibungen aus, die man bei gleichzeitiger Herzschwäche
zweckmässig mit der Darreichung von starkem Kaffee verbindet.
Wenig oder gar nichts leisten die eigentlichen Fiebermittel, die ja
zum Theil selbst Delirien zu erzeugen im Stande sind. Ausser den
durch die körperliche Erkrankung selbst erforderten Massnahmen ist
auf sorgfältige Ueberwachung deliriöser Kranker Bedacht zu
nehmen, da dieselben unter allen Umständen sich und Andern ge-
fährlich werden (Gewaltthaten begehen, entfliehen, aus dem Fenster
springen) können. Heftige Aufregungszustände pflegen in Kranken-
häusern mit der Zwangsjacke behandelt zu werden; in der Irren-
anstalt gelingt es unter dem Beistande eines ruhigen und gewandten
Personals regelmässig, ohne jenes bedenkliche Hülfsmittel mit der
einfachen Bettbehandlung oder Dauerbädern, im äussersten Nothfalle
mit Polsterbett oder Polsterzimmer durchzukommen. Die Anwendung
von Schlafmitteln oder Narkoticis dürfte sich meist eher schädlich,
als nützlich erweisen. Nach dem Fieberabfalle ist planmässige
Wiederherstellung des gesunkenen Kräftezustandes die wesentliche
Aufgabe der Behandlung.
B. Die Infectionsdelirien.
Wenn wir schon bei der Entstehung der Fieberdeiirien an die
Mitwirkung infectiöser Gifte denken müssen, so begegnen uns bei
einer Reihe von Infectionskrankheiten weiterhin geistige Störungen,
die mit Sicherheit auf eigenartige Vergiftungen zurückgeführt werden
dürfen.
Dahin gehören namentlich die Delirien der Lyssa, dann die
im ersten Beginne der Erkrankung auftretenden „Initialdelirien" des
Typhus und der Variola, ferner jene Formen der Intermittens
larvata*), bei denen an Stelle der typischen Fieberanfälle Delirien
*) V. Krafft-Ebing, Psychiatrische Arbeiten, I, 161.
16 I. Das infectiöse Irresein.
treten, bisweilen ganz ohne Fieber. Am besten bekannt sind die
Initialdelirien beim Typhus. Aschaffenburg*) unterscheidet
zwei Formen. Bei der ersten handelt es sich um ruhige Delirien
mit ausgeprägten Wahnbildungen und Sinnestäuschungen. Die
Kranken glauben sich vergiftet, in mannigfacher Weise verfolgt,
sind verdammt, verworfen, haben eine schadhafte Luftröhre; sie
hören ihre fernen Angehörigen reden, sehen drohende Gestalten,
Feuer u. dergl. Bisweilen erzählen sie ausführlich eingebildete,
abenteuerliche Erlebnisse. Dabei besteht lebhafte ängstliche oder
traurige Verstimmung. Die zweite Form, die sich auch aus der
ersten entwickeln kann, trägt die Züge der manischen Erregung,
die im Beginne bisweilen eine ganz gelinde ist, wie ich auch bei
einem Falle von Flecktyphus beobachtete. Doch steigert sich die
Störung rasch zu völliger deliriöser Verwirrtheit mit Ideenflucht,
Sinnestäuschungen, zusammenhangslosen Wahnvorstellungen, heftigster
Angst und sinnlosem Bewegungsdrang. Diesen letzteren Zuständen
pflegen die Initialdelirien der Variola und das Irresein bei larvirter
Intermittens zu gleichen. Dagegen erinnern die Delirien bei schwerer
Sepsis mit ihrer Unbesinnlichkeit und ihrem mussitirenden Charakter
häufig mehr an gewisse Fieberdelirien, auch wenn die Temperatur
nahezu oder ganz normal ist. Ob wir es hier mit Giftwirkungen
oder einfach mit den Folgezuständen der Herzschwäche zu thun
haben, mag dahingestellt bleiben ; vielleicht ist nicht die Art, sondern
der Grad der Störung die Ursache, dass hier die Lähmungserschei-
nungen gegenüber den Reizsymptomen in den Vordergrund treten.
Endlich giebt es im Verlaufe der Blatternerkrankung zwischen
dem Eruptions- und dem Eiterungsfieber eigen thümliche Geistes-
störungen, bei denen ebenfalls an eine Entstehungs weise durch Ver-
giftung gedacht werden muss. Es handelt sich um das plötzliche
Auftreten sehr deutlicher Gehörs- und Gesichtstäuschungen bei
Kranken, die nicht verwirrt, sondern vöUig besonnen und nur durch
die Trugwahrnehmungen beunruhigt sind. Die Kranken sehen Per-
sonen in das Zimmer treten, Tauben und Blumen in der Luft herum-
fliegen, hören Musik, Beschuldigungen, Drohungen, soUen Rechen-
schaft ablegen, haben gestohlen, werden von der Polizei gesucht.
Diese Zustände erinnern so sehr an die erste Form der Initial-
*) Aschaffenburg, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LU.
lufectionsdelirien. 17
delirien und an gewisse Fälle von Alkohol- und Cocainwahnsinn,
dass ich im Gegensatze zu einer früher von mir geäusserten An-
schauung geneigt bin, sie auf eine Vergiftung zurückzuführen,
welche durch die Yariola erzeugt wird. Emminghaus hat die von
ihm im Harn Pockenkranker gefundenen Fettsäuren mit jenen eigen-
thümlichen, rasch günstig verlaufenden Zuständen in ursächliche Be-
ziehung gebracht.
Zu den psychischen Störungen gesellen sich die körperlichen
Anzeichen der einzelnen Erkrankungen, die Keflexkrämpfe der Lyssa,
die Hinfälligkeit und die Kopfschmerzen des Typhus, das Prodro-
malexanthem der Variola, die Milzsch wellung der Intermittens, end-
lich leicht erhöhte, bisweilen aber auch auffallend niedrige Temperatur,
nicht selten Eiweiss im Harn, sowie fast völliger Mangel des Schlafes
und der Esslust.. Ausserdem treten hie und da die Zeichen schwererer
Hirnveränderungen auf, namentlich epileptiforme Krämpfe, Hemi-
paresen, Sprachstörungen. Der Verlauf ist vielfach ein schwanken-
der. Bei der Lyssa schieben sich nicht selten kürzere Zeiten völliger
Besonnenheit ein, in denen der Kranke seine Umgebung selber vor
sich warnt. Ebenso bieten die Initialdelirien öfters Nachlässe dar,
namentlich am Tage, aber der Kranke befindet sich auch dann in
einem Zustande dumpfer Benommenheit, die ihn keine rechte Klar-
heit über seine Lage gewinnen lässt. Die Dauer der Störung
beträgt in der Kegel nur einige Tage, selten mehr als eine Woche.
Beim Wechselfieber pflegen sich die eine Reihe von Stunden
dauernden Anfälle in intermittirendem Typus mehrmals zu wieder-
holen.
Die Prognose gestaltet sich sehr verschieden. Die Delirien
der Lyssa endigen regelmässig im tödtlichen Collaps. Beim Typhus
kann die Störung gerade mit dem stärkeren Ansteigen des Fiebers
gänzlich verschwinden, wie ich zweimal beobachtete, oder aber sie
geht unmittelbar in eigentliche Fieberdelirien über. In jedem Falle
ist hier die Gefahr eines tödtlichen Ausganges der Erkrankung eine
ganz ungewöhnlich grosse; nur 40 — 50 ^'/o der Kranken bleiben am
Leben und gelangen zur Genesung. Dem gegenüber ist die Prognose
der Intermittensdelirien , abgesehen von der Selbstmordgefahr, eine
durchaus günstige.
Die Erkennung dieser Psychosen hat, namentlich beim Initial-
delirium, bisweilen Schwierigkeiten. Nicht allzuselten kommt es
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 2
18 I. Das infectiöse In-esein.
vor, dass dasselbe für einen epileptischen Dämmerzustand gehalten
wird, mit dem es in der That sehr grosse Aehnlichkeit besitzen kann.
Yor der Verwechselung schützt die Beachtung der Ideenflucht, die
der Epilepsie fremd ist. Ausserdem wird hier der weitere Verlauf
natürlich immer Aufklärung bringen. So habe ich es bisher vier-
mal erlebt, dass mir Kranke mit beginnendem Typhus (einmal
exanthematischem) als geistesgestört zugeführt wurden. Jedesmal ge-
lang es, aus dem eigenthümlichen Symptomenbilde mit grosser Wahr-
scheinlichkeit die Diagnose eines Initialdeliriums zu stellen. Im
ersten Beginn können einzelne Kranke für manisch gehalten werden,
doch stellt sich bald eine gewisse Betäubung ein, wie sie der Manie
fehlt. Gegenüber den Erschöpfungspsychosen und der Paralyse
kann die Abgrenzung äusserst schwierig sein. Die Vorgeschichte
muss hier die wichtigsten Anhaltspunkte liefern, das Fehlen er-
schöpfender Ursachen einerseits, der durchaus plötzliche Ausbruch
der Krankheit andererseits. Ausserdem wird wiederum auf die
Schwerbesinnlichkeit und Betäubung der Kranken, gegenüber der
Paralyse auch auf das Lebensalter Gewicht gelegt werden müssen.
Für die Unterscheidung von der Katatonie ist ebenfalls die schwere
Benommenheit gegenüber der guten Auffassung katatonischer
Kranker zu beachten, ferner das Fehlen von Negativismus und
Befehlsautomatie. Die Intermittensdelirien können mit epileptischen
Aequivalenten verwechselt werden; die Beachtung der Malaria-
vergiftung, wol auch die typische Wiederkehr der Anfälle kann davor
schützen.
Ein sehr wichtiger Fortschritt in der Lehre von den Initial-
delirien ist dem Umstände zu verdanken, dass Nissl in einem von
mir beobachteten Falle die genauere Untersuchung der Hirnrinde
vornehmen konnte. Es fanden sich starke Füllung aller Blut-
gefässe, Vermehrung der weissen Blutzellen, vor allem aber aus-
gebreitete Zerfallsvorgänge an den Nervenzellen, ähnlich denen, die
durch künstliche Infection 'erzeugt werden. Der Zellleib war ge-
schwollen, die gefärbte Substanz zerfallen, so dass der feinere Bau
vollständig unkenntlich geworden w^ar. Die Fortsätze waren auf
weite Strecken difi'us gefärbt. Auf Tafel IV ist in Figur 2 eine
solche Pyramidenzelle wiedergegeben, deren schwere Veränderung
durch den Vergleich mit der gesunden Zelle Figur 1 ohne weiteres
erkennbar ist. Ausserdem liess sich Karyokinese an den Gliakernen
Infectiöse Scliwäcliezustiinde. 19
nachweisen. Damit ist nicht nur die infectiöse Natur jenes Falles
gesichert, sondern wir können auf Grund desselben auch mit grösster
Wahrscheinlichkeit annehmen, dass wir es bei derartigen Vergiftungs-
delirien thatsächlich mit mehr oder weniger schweren, greifbaren
Veränderungen in der Hirnrinde zu thun haben. Die vielfachen
fi'üheren, auf ein ähnliches Ergebniss hinauslaufenden anatomischen
Untersuchungen über Typhusdelirien erhalten durch diesen klaren
Befund ihre bestimmte Deutung.
Die Behandlung der Delirien fällt mit derjenigen der zu
Grunde liegenden Erkrankungen zusammen. Vielleicht kann man
im Hinblicke auf die Vergiftung an eine reichliche Durchspülung
des Körpers denken, unter Umständen mit Hülfe von Kochsalz-
infusionen. In einem so behandelten Falle vermochten wir zwar
nicht den tödtlichen Ausgang zu verhindern, erzielten aber jedesmal
eine deutliche, vorübergehende Besserung. Ferner verdient erwähnt
zu werden, dass die Intermittenspsychose dem günstigen Einflüsse
des Chinin sich zugänglich zu erweisen pflegt. Genaue Ueberwachung
ist begreiflicherweise überall dringend geboten.
C. Die infectiösen Schwäcliezustände.
Da die Veränderungen der Rindenzellen, die durch infectiöse
Gifte erzeugt werden, sich unter Umständen nur allmählich oder
selbst gar nicht vollständig wieder ausgleichen, werden wir es er-
klärlich finden, dass geistige Störungen hier bisweilen auch dann
noch fortdauern können, wenn die Grundkrankheit bereits abgelaufen
ist. Der Beginn derartiger Psychosen fällt meist schon in die fieberhafte
Zeit der Krankheit, doch werden wir auch wol manche noch später
einsetzende Störungen als infectiöse betrachten dürfen, mit demselben
Rechte, mit dem wir die neuritischen Nachkrankheiten des Typhus, der
Pocken, der Diphtherie u. s. f. auf das Krankheitsgift zurückführen.
Bestärkt werden wir in dieser Auffassung durch den Umstand, dass
anscheinend jede Infectionskrankheit gewisse klinische Bilder be-
sonders häufig hervorruft. Allerdings dürfte es heute kaum möglich
sein, hier aus den psychischen Krankheitserscheinungen allein mit
einiger Sicherheit auf die bestimmte Ursache zurückzuschliessen. Wir
werden uns daher mit einer kurzen Schilderung der häufigsten Zu-
20 I- Das infectiö.se Irresein.
Standsbilder begnügen müssen. Gemeinsam ist allen ein mehr
oder weniger hoher Grad geistiger und gemüthlicher Schwäche,
zu der sich meist traurige oder ängstliche Yerstimmungen, vielfach
auch ausgeprägte Wahnbildungen hinzugesellen. Freilich gehören
durchaus nicht alle länger dauernden Geistesstörungen nach Infections-
krankheiten dieser Gruppe an. Ausser den später zu besprechenden
Erschöpfungszuständen können durch die schwere körperliche Schädi-
gung auch die verschiedenartigsten anderen Formen des Irreseins
ausgelöst werden, deren besondere Gestaltung dann aber natür-
lich gar keine engere Beziehung zu der Grundkrankheit mehr er-
kennen lässt.
Die leichtesten Formen der infectiösen Schwächezustände schliessen
sich unmittelbar der gewöhnlichen geistigen und körperlichen Hin-
fälligkeit der Reconvalescenten nach schweren Infectionskrankheiten
an. Die Kranken fühlen sich nach dem Schwinden des Fiebers
nicht befreit und erleichtert, erholen sich nicht rasch, sondern sind
matt, denkunfähig, ermüden ausserordentlich leicht, bringen ihre
Gedanken nicht mehr zusammen, sind unfähig zu lesen, einen Brief
zu schreiben. Ihre geistige Regsamkeit ist gelähmt; sie sind theil-
nahmlos, gleichgültig, liegen unthätig im Bette, vermögen sich nicht
aufzuraffen, Entschlüsse zu fassen, lassen alles gehen wie es geht.
Die Besonnenheit und Orientirung ist dabei ungestört, ebenso die
"Wahrnehmung, doch stellen sich bisweilen beim Augenschluss leb-
hafte Gesichtsbilder ein, unverständliche, flüsternde Geräusche in
den Ohren, eigenthümliche Empfindungen im Körper, die als schwere
Krankheitserscheinungen gedeutet werden. Die Stimmung ist trübe,
finster, oft mürrisch, reizbar, launenhaft; nicht selten sind plötzliche
Angstanfälle, besonders des Nachts. Düstere Ahnungen steigen auf,
Todesgedanken, Misstrauen gegen Arzt und Umgebung, Vergiftnngs-
furcht, hypochondrische Yorstelliingen, wol auch Versündigungsideen.
In Folge dessen kann es zu heftigen Ausbrüchen gegen die Um-
gebung, Selbstmordversuchen, Nahrungsverweigerung kommen. Eine
meiner Kranken machte ihr Testament und berief telegraphisch ihre
Verwandten an ihr vermeintliches Todtenbett. Meist sind die
Kranken sehr zurückhaltend und wortkarg, selbst stuporös, äussern
wenig von ihren Wahnvorstellungen; erst später in der Genesungs-
zeit erfährt man dann die Einzelheiten. Schlaf und Esslust sind
regelmässig sehr gestört; das Körpergewicht ist stark gesunken.
Infectiöse Schwächezustäiide. 21
Diese leichtesten Formen der infectiösen Scliwächezustände be-
obachten wir namentlich nach Influenza und Gelenkrheumatismus,
bisweilen auch bei Kindern nach Keuchhusten. Ihre Dauer beträgt
in der Regel einige Wochen oder Monate; dann pflegt Genesung
einzutreten. Sie erinnern vielfach an das Bild der nervösen Er-
schöpfung, doch sind die Erscheinungen erheblich schwerer und
hartnäckiger als dort, weichen nicht so rasch der Euhe und Er-
holung; zudem fehlt das klare Krankheitsbewusstsein.
Eine zweite Gruppe von Beobachtungen ist durch das Auftreten
von ausgeprägten Sinnestäuschungen, abenteuerlichen Wahnbildungen
und lebhaften ängstlichen Erregungszuständen gekennzeichnet. Den
Beginn bilden in der Regel schwere Benommenheit und Delirien
während des Fiebers. Die Kranken sind unklar über ihre Lage,
verkennen Ort und Personen, denken und reden zusammenhangslos.
Zugleich bestehen zahlreiche Sinnestäuschungen. Hinter dem Bette
schreien die Todten; auf der andern Seite steht ein Sarg; Wände
und Ofen bewegen sich; Frauenzimmer setzen sich auf das Bett;
der Teufel und die Mutter Gottes erscheinen. Der Kranke weiss
nicht, ob er im Himmel oder in der Hölle ist; man trachtet ihm
nach dem Leben; sein Leib verfault; die Genitalien stinken; der
Kopf ist nicht am Leibe. Alles drückt auf ihn; er ist im Bette an-
genagelt, schon gestorben.
Dieser Zustand von Yerworrenheit dauert fort, auch wenn die
Eigenwärme gesunken ist und die übrigen Krankheitserscheinungen
schwinden. Der Kranke wird wol allmählich etwas klarer und ge-
ordneter, findet sich in seiner Umgebung besser zurecht, aber Sinnes-
täuschungen und Wahnideen verlieren sich zunächst nicht. Er hört
drohende, beschimpfende Stimmen; durch das Fenster sehen Fratzen
hinein, die auf ihn spucken; er wird aus dem Bette gezogen, muss
darin ersticken; es hängt so viel an seinem Kopfe; man bohrt und
dreht an seinem Körper herum, zupft an seinen Kleidern. Das
Essen ist Pferdefleisch; er wird verfolgt und unterdrückt, wider
alles Recht zurückgehalten. Ein Arzt hatte die heimliche Furcht,
dass seine Collegen ihn zu wissenschaftlichen Zwecken lebendig zer-
schneiden würden.
Die Stimmung der Kranken ist niedergeschlagen, ängstlich, ver-
driesslich, missmuthig; zeitweise 'kommt es zu heftigen Gefühls-
ausbrüchen mit Selbstmordversuchen, Gewaltthaten, Angriffen gegen
22 !• Das infectiöse Irresein.
die Umgebung. Die Kranken sind unzufrieden, nörgelnd, störrisch,
widerstreben, verweigern die Nahrung. Meist sind sie hochgradig
abgemagert, schlafen wenig und unruhig, lassen oft lange Zeit alles
unter sich gehen.
Im weiteren "Verlaufe verlieren sich unter Auftreten reger Ess-
lust und grossen Schlafbedürfnisses nach und nach Sinnestäuschungen
und Wahnvorstellungen. Das Körpergewicht hebt sich; die Stimmung
wird freier; der Kranke gewinnt Yerständniss für seine Störung, be-
ginnt sich zu beschäftigen und knüpft in seinem Denken und Fühlen
allmählich wieder an die früheren gesunden Zeiten an. Gleichwol
pflegt noch ziemlich lange grosse Ermüdbarkeit, Herabsetzung der
geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit und Gedächtnissschwäche
zurückzubleiben. Bisweilen scheint überhaupt keine völlige Wieder-
herstellung einzutreten, sondern ein Schwächezustand mit un-
vollkommener Berichtigung der Wahnvorstellungen den Ausgang zu
bilden; in einzelnen Fällen erfolgt der Tod durch Erschöpfung oder
complicirende Erkrankungen. Die Dauer der geistigen Störung be-
trägt auch im günstigsten Falle eine Reihe von Monaten, nicht
selten über ein Jahr, Sie entwickelt sich am häufigsten nach Typhus,
ferner nach den Pocken, in leichterer Form nach Gelenkrheumatis-
mus und Cholera. Die Erkennung dieser Form wird an der Hand
der Yorgeschichte keine Schwierigkeiten bieten; höchstens könnte
bei älteren Kranken die Yerwechselung mit einer Melancholie in
Frage kommen, die nur durch die acute Krankheit ausgelöst wurde.
Das starke Hervortreten der Sinnestäuschungen, das Ueberwiegen
der Yerfolgungsideen über den Yersündigungswahn, die eigenthüm-
lich reizbare Stimmung im Gegensatze zu der Angst der Melancho-
lischen könnte hier die Unterscheidung ermöglichen. Gegenüber
der Dementia praecox ist auf den stärkeren AfFect und namentlich
auf die anfängliche schwere Störung der Auffassung, Besonnenheit
und Orientirung hinzuweisen, ferner auf das Fehlen von Negativis-
mus und Stereotypie, gegenüber den Depressionszuständen des circu-
lären Irreseins auf das Fehlen der psychomotorischen Hemmung
und den körperlichen Zustand.
Auch die dritte, schwerste Form der infectiösen Schwäche-
zustände pflegt mit heftigen Delirien zu beginnen, geht aber bald
in stuporöso Zustände über. Die Kranken werden trotz Besserung
der körperlichen Erscheinungen blöde, unfähig, äussere Eindrücke
Iiifectiöse Scliwäclieznstände. 23
aufzufassen und zu verarbeiten, gedächtnissschwach, urtheilslos.
Ihre Stimmung ist gleichgültig, bisweilen weinerlich; sie sind still,
stumpf oder kindisch unruhig, liegen unter Umständen regungslos
im Bette, ausser Stande, Nahrung zu sich zu nehmen oder sich rein
zu halten, müssen gefüttert und gepflegt werden wie kleine Kinder.
Die Ernährung ist meist auf das äusserste gesunken, die Muskulatur
geschwunden; hie und da machen sich die Anzeichen einer schweren
Hirnerkrankung bemerkbar, halbseitige Lähmungen, Sprachstörungen,
opileptiforme Krämpfe.
Die Prognose dieser Erkrankungen, die hauptsächlich nach
Typhus, in leichterer Form auch nach Cholera beobachtet werden,
ist eine sehr zweifelhafte. Nur in etwa der Hälfte der Fälle erfolgt,
nach meist sehr langer, über viele Monate sich erstreckender Dauer,
ziemlich rasch völlige Genesung. In den übrigen Fällen kommt es
wol meist zu einer allmählichen Besserung, aber die Kranken bleiben
geistig und gemüthlich unfähig, gedankenarm, vergesslich, urtheilslos,
gleichgültig und willensschwach. In zwei derartigen Fällen sah ich
dauernd epileptische Anfälle zurückbleiben. Die Erkennung dieser
Zusfände stützt sich gegenüber dem katatonischen Stupor, abgesehen
von der Entstehungsgeschichte und den etwa vorhandenen Hirn-
erscheinungen, auf das Fehlen des Negativismus, gegenüber dem
circulären auf das Fehlen der Hemmung, sodann auf die Unbesinn-
lichkeit und Gedächtnissschwäche.
Die Behandlung aller dieser Formen besteht wesentlich in einer
sehr sorgfältigen körperlichen Pflege, deren Hauptpunkte Bettruhe,
reichlichste Ernährung, Reinlichkeit und gute Ueberwachung bilden.
In den schwersten Fällen kann späterhin wegen des Muskelschwundes
Massage und allgemeine Faradisation angezeigt sein.
Ein wesentlich anderes Gepräge, als die bisher betrachteten
Störungen, trägt eine grössere Gruppe von Fällen, wie sie ebenfalls
vorzugsweise nach Typhus, bisweilen vielleicht auch nach Cholera
beobachtet werden. Es handelt sich hier um die rasche Entwicklung
lebhafter verwirrter Erregungszustände mit ausgeprägter
Ideenflucht und abenteuerlichen Grössenideen. Nach un-
bedeutenden Vorboten beginnen die Kranken, öfters schon während
der Fieberzeit, sehr unruhig zu werden. Sie verlieren die Orientirung,
fassen mangelhaft auf, sind ungemein ablenkbar, hören Stimmen,
sehen Engel an der Decke, Blumen im Zimmer, Theatergestalten,
24 I- Das infectiöse Irresein.
mit denen sie sich unterhalten. Zugleich tritt ein blühender Grössen-
wahn hervor, der ungemein dem paralytischen ähnelt. Der Kranke
ist Gott, sein Getränk Nektar; er besitzt zahllose Schlösser, empfängt
Besuche von Königen und Kaisern, verkehrt geschlechtlich mit
Prinzessinnen. Dem entsprechend werden Personen und Yorkomm-
nisse gedeutet. Die Mitkranken sind hohe Persönlichkeiten, einige
Papierfetzen werthvolle Banknoten, Acnepusteln die Spuren feind-
licher Kugeln; aus Koth und Sputum werden unschätzbare Kunst-
werke, Brillanten geformt. Der Kranke fabulirt in der unsinnigsten
Weise, lässt sich dabei ungemein leicht lenken. Die Stimmung ist
bald mehr unwillig und reizbar, bald heiter und überschwäugiich,
aber wechselnd, leicht in Weinen umschlagend. Jede Spur von
Krankheitsgefühl fehlt; ein äusserst hinfälliger Kranker mit schweren
Muskelcontracturen an beiden Beinen behauptete, das Göthedenkmal
in Frankfurt mit einer Hand heben zu können. Dabei besteht leb-
hafter Rededrang, Ideenflucht, Neigung, sinnlos zu reimen, ver-
worrene Schriftstücke und Zeichnungen zu liefern. Die Kranken
sind unruhig, bleiben nicht im Bette, singen, schmieren, schlafen
wenig und nehmen unregelmässig Nahrung zu sich. Der Ernährungs-
zustand ist ein sehr schlechter.
Das hier gezeichnete Krankheitsbild, das ich selbst bisher in
zwei Fällen beobachten konnte, ist vielleicht nur eine weitere Ent-
wicklung der zweiten oben geschilderten Form des Initialdeliriums.
Ob es gegenüber den Depressionszuständen als besondere Erkrankung
zu betrachten ist, erscheint zweifelhaft, wenn wir bedenken, dass uns
bei der Paralyse ähnlich verschiedene Bilder als Erscheinungsformen
des gleichen Krankheitsvorganges begegnen. Die äusserliche Aehn-
lichkeit gerade dieses Bildes mit demjenigen der expansiven Para-
lyse ist eine sehr auffallende; wir werden dabei unwillkürlich an
die anscheinende Verwandtschaft gewisser Rindenzellenveränderungen
erinnert, welche im Typhus und in manchen Formen der Paralyse
gefunden werden. Die klinische Unterscheidung wird übrigens
durch die Vorgeschichte, das Fehlen der Pupillenstarre und Sprach-
störung, unter Umständen auch durch das Alter ermöglicht; meine
beiden Kranken waren ganz junge Leute. Vielleicht wäre übrigens
dieses Bild besser dem Erschöpfungsirresein anzureihen, da es etwas
der acuten Verwirrtheit ähnelt. Massgebend für die hier vertretene
Auffassung ist der Umstand gewesen, dass die Störung bisweilen
Tnfectiöse Schwächezustände. 25
schon in der ersten Zeit des Typhus einsetzt und ferner in ihrer
Eigenart fast nur nach Typhus, nicht aber nach anderen erschöpfen-
den Ursachen beobachtet wird. Zudem ist die Auffassung und Ver-
arbeitung der Eindrücke hier weit weniger gestört, als bei der
acuten Verworrenheit. Gegenüber manischen Erregungszuständen
ist auf die schwere Beeinträchtigung der Orientirung und die üppige
Erzeugung unsinniger Wahnbildungen hinzuweisen.
Der Verlauf der Erkrankung ist in einem Theil der Beobachtungen
ein rascher und günstiger. Meist indessen schwinden Erregung und
Wahnideen erst allmählich im Verlaufe von Monaten. Die Kranken
bleiben dann noch längere Zeit erregbar, leicht ermüdbar, gerathen
bei geistiger Anstrengung ausserordentlich leicht wieder in ihre
Ideenflucht und in das wahnhafte Fabuliren hinein, bis sich unter
bedeutendem Ansteigen des Körpergewichtes die endgültige Ge-
nesung vollzieht. In einer nicht ganz geringen Zahl von Fällen
scheint sich aber der Schwächezustand überhaupt nicht völlig aus-
zugleichen, sondern es kommt unter Fortbestehen abenteuerlicher
Wahnvorstellungen zur Entwicklung einer dauernden Verblödung.
Die Behandlung hat auch hier nichts zu thun, als das kranke Hirn
durch Fernhaltung aller Schädigungen (Bettruhe, Dauerbäder) zu
schonen und für die körperliche Erholung möglichst günstige Be-
dingungen herzustellen (reichlichste Ernährung).
Eine eigenartige Stellung unter den infectiösen Schwächezuständen
nimmt die von Korssakow zuerst genauer beschriebene polyneuri-
tische Geistesstörung*) ein. Dieselbe ist namentlich durch das
Auftreten einer schweren Störung der Merkfähigkeit und des Ge-
dächtnisses mit ausgeprägten Erinnerungsfälschungen neben den
körperlichen Zeichen einer polyneuritischen Erkrankung gekenn-
zeichnet. Das Leiden entwickelt sich meist ziemlich rasch, bisweilen
mit einem deliriösen Aufregungszustande. Die Kranken verlieren
die Orientirung und werden verwirrt, unruhig, ängstlich, namentlich
in der Facht; öfters treten deutliche Sinnestäuschungen, besonders
des Gesichtes auf. Die bei weitem hervorstechendste Erscheinung
aber ist die Unfähigkeit, die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit
*) Korssakow, Archiv f. Psychiatrie, XXI. 669; Allgem. Zeitschr. f. Psy-
chiatrie XLVI, 475; Tiling, ebenda XLVIII, 549; Derselbe, über alkoholische
Paralyse und infeotiöse Neuritis multiplex. 1897; Jolly, Chariteannalen, XXII;
Mönkemöller, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie LIV, 806.
26 I. Das infec'tit>se IiTesein.
im Gedächtnisse zu behalten. Obgleich die Auffassung selbst keine
erheblicheren Störungen erkennen lässt, schwindet der Inhalt des
Erlebten doch schon nach kurzer Zeit, sogar nach wenigen Minuten^
vollständig aus der Erinnerung. Die Kranken wissen nicht, was sie
gestern, vor einer halben Stande gethan, ob sie schon zu Mittag ge-
gessen, den Arzt schon einmal gesehen haben ; sie sind also gänzlich
unfähig, irgend welche neuen Erfahrungen zn sammeln, lassen sich
ohne Widerspruch immer wieder dieselben oder auch ganz unverein-
bare Dinge erzählen, wiederholen ungezählte Male die gleichen
Fragen und Wünsche. Besonders schwer geschädigt pflegt die
Fähigkeit der zeitlichen Localisation zu sein; die Kranken wissen
nicht anzugeben, ob ein Ereigniss vor einem Jahre oder gestern
stattgefunden hat. Dabei kann das Gedächtniss für lange zurück-
liegende Erfahrungen vollständig ungestört sein, doch scheinen auch
Erinnerungsverluste vorzukommen, die viele Jahre umfassen, so dass
die Kranken alle Schicksale aus ihren letzten Lebensabschnitten
vergessen haben und sich in längst vergangenen Tagen zu befinden
glauben.
Alle diese Lücken werden nun aber durch flottes Fabuliren
ausgefüllt. Wirkliche und frei erfundene Erinnerungen werden von
den Kranken mit voller Seelenruhe und im Tone der Ueberzeugung
vorgebracht, sobald sie über ihre Vergangenheit Auskunft geben sollen.
Sie schildern genau mit allen Einzelheiten die Reisen und Spazier-
gänge, die sie in den letzten Tagen angeblich unternommen haben, sind
von längst verstorbenen Verwandten besucht worden, haben dem
Begräbnisse eines Bruders beigewohnt, den sie nie besassen, sprechen
von Kindern, die gar nicht vorhanden sind, erzählen denselben Vor-
gang immer wieder mit anderen Einzelheiten, werden gereizt, Avenn
man sie auf diese Widersprüche aufmerksam macht. Meist gelingt
es dabei, durch geeignete Fragen den Inhalt der Erinnerungen nach
Belieben zu lenken.
Die Stimmung ist im Beginne ängstlich, später meist gleich-
gültig, stumpf, oder reizbar, unzufrieden, nörgelnd; vorübergehend
kommt es auch einmal zu lebhafterer Erregung. Bisweilen herrscht
mehr eine kindisch-heitere Stimmung vor, die jedoch leicht in
Weinerlichkeit umschlägt. Die Reden der Kranken sind öfters leid-
lich verständig, aber abgerissen; hie und da werden Störungen in
der Satzbildung beobachtet. Auch das Benehmen scheint, abgesehen
Infectiöse Schwächezustände. 27
von stärkeren Erregungszuständen, äusserlich geordnet zu sein, wenn
die Kranken auch wegen ihrer Gedächtnissstörung zu irgend einer
selbständigen Beschäftigung nicht fähig sind.
Auf körperlichem Gebiete bestehen die Erscheinungen der Poly-
neuritis, Lähmung oder Schwäche in verschiedenen Nervengebieten,
Druckempfindlichkeit von Nerven und Muskeln, Öensibilitätsstörungen,
Herabsetzung der Reflexe, in schweren Fällen auch Pulsbeschleunigung
und Athemnoth. Die befallenen Muskelgruppen sind atrophisch, zeigen
unter Umständen Entartungsreaction ; auch Contracturen und ört-
liche Krämpfe werden beobachtet. Die allgemeine Ernäiirung liegt
sehr dainieder; die Nahrungsaufnahme ist mangelhaft, der Schlaf
meist unruhig. Im Beginne der Erkrankung tritt nicht selten hart-
näckiges Erbrechen auf.
Der ersten stürmischeren Entwicklung folgt in der Regel eine
Zeit langsameren Verlaufes, doch kann in einzelnen Fällen mit zu-
nehmender Herz- und Athmungslähmung und dem Eintreten soporöser
Zustände der Tod erfolgen. Meist jedoch pflegt sich nach einigen
Monaten, allmählich eine fortschreitende Besserung einzustellen, Rück-
kehr der Orientirung und Nachlassen der Vergesslichkeit. In einer
gewissen Zahl von Fällen schreitet diese Besserung im Verlaufe von
5 — 9 Monaten bis zur völligen Genesung fort, wenn auch noch
längere Zeit grosse Ermüdbarkeit, Gedächtnissschwäche und gemüth-
liche Reizbarkeit zurückbleibt. Vielfach aber, namentlich bei aus-
geprägtem Alkoholismus, ist der Ausgang ein dauernder, unheilbarer
Schwachsinn, der seinen Ursprung noch durch das Fortbestehen der
Erinnerungsfälschungen erkennen lässt.
Die Grundlage der hier geschilderten Störung muss nach der
übereinstimmenden Ansicht der meisten Forscher in einer Vergiftung
gesucht werden, die anscheinend durch eine Reihe der verschieden-
sten Krankheitsvorgänge erzeugt werden kann, durch Magendarm-
katarrhe, Typhus, Zersetzungen in Geschwülsten, todtfaulen Früch-
ten u. s. f. Eine ganz hervorragende ursächliche Rolle spielt aber
ohne Zweifel der Alkohol. Jelly ist geneigt, die Erkrankung gerade-
zu als eine schwerere Erscheinungsform des Delirium tremens
zu betrachten. Dennoch geht es, wie Jelly ebenfalls betont, offen-
bar nicht an, hier einfach von einer alkoholischen Geistesstörung zu
sprechen; vielmehr dürften die schweren Schädigimgen des Alkohol-
missbrauches nur die günstigen Bedingungen für das Zustande-
28 I. Das infectiöse Irresein.
kommen dieser Form des Irreseins bieten, wie durch die immerhin
nicht geringe Zahl von Fällen ohne jene Grundlage dargethan wird.
Aber auch die Beziehungen der besonderen Geistesstörung zur
Polyneuritis scheinen keineswegs unverbrüchliche zu sein, da es
nicht nur sehr zahlreiche Fälle von letzterer Krankheit ohne Irre-
sein, sondern auch Beobachtungen giebt, in denen genau das gleiche
psychische Krankheitsbild ohne neuritische Erscheinungen auftritt.
Dabei ist übrigens zu bemerken, dass die verschiedenen Fälle von
Polyneuritis Avegen ihrer ganz verschiedenen Ursachen schwerlich
als einheitliche Krankheit anzusehen sind. Wir kommen demnach
zu dem Schlüsse, dass die hier beschriebene Geistesstörung höchst
wahrscheinlich durch Gifte entsteht, die meist, aber nicht immer,
auch Polyneuritis erzeugen, und deren Auftreten durch chronischen
Alkoholismus ganz besonders begünstigt wird. Da die Bedeutung,
die hier gewissen Infectionen vom Darm aus, dem Typhus, der
Tuberculose u. s. f. zukommt, mit einiger Wahrscheinlichkeit auf
Bakteriengifte hinweist, haben wir diese Form zu den infectiösen
Schwächezuständen gestellt, mit deren zuletzt besprochener Gruppe
sie auch eine ungefähre klinische Yerwandtschaft aufweisen dürfte.
Einer der dort erwähnten Kranken bot in der That ebenfalls die
Zeichen einer ziemlich schweren Polyneuritis nach Typhus dar.
Die Eigenart des klinischen Bildes, namentlich in Begleitung
der neuritischen Störungen, wird zumeist die Erkennung der Er-
krankung leicht machen. Immerhin können Verwechselungen mit
der Paralyse vorkommen, um so leichter, als wir auch dort nicht
selten eine ähnliche Gedächtnissschwäche mit Erinnerungsfälschungen,
ja sogar hie und da Andeutungen von neuritischen Störungen be-
obachten. Die Unterscheidung wird einmal durch die ursächlichen
Yerhältnisse ermöglicht, durch die meist langsamere Entwicklung der
Paralyse mit den bekannten Yorboten, ferner durch die eigenartige
Sprachstörung sowie die Pupillenstarre der Paralytiker. Sehr aus-
geprägte Neuritis spricht weit mehr für die hier beschriebene Form.
Yielleicht ist auch der Umstand zu verwerthen, dass in der Paralyse
das Urtheil mindestens ebenso stark gestört zu sein pflegt wie das
Gedächtniss, während beim polyneuritischen Irresein die ungemein
starke Beeinträchtigung auf letzterem Gebiete durchaus in den
Vordergrund tritt. In der senilen Verwirrtheit kommt ebenfalls ein
ähnliches Bild zu Staude. Abgesehen von der verschiedenen Ent-
Infectiöse Schwächezustände. 29
stehiingsweise dürfte hier namentlich die grössere Zerfall reu lieit der
Senilen, die läppische Erregung, der Eigensinn und die Stereotypie
dieser Kranken für die Unterscheidung zu verwerthen sein.
Die mikroskopische Untersuchung der Hirnrinde hat bisher nur
„erheblichen Schwund der Tangentialfasern bei mehr oder weniger
ausgesprochener Atrophie der Rinde" ergeben, hat sich aber auch
nur auf die Fasern erstreckt. Die Behandlung hat die gleichen
Aufgaben wie bei den übrigen infectiösen Schwächezuständen, wenn
wir von den besonderen Anforderungen absehen, welche die neu-
ritische Erkrankung an die Thätigkeit des Arztes stellt.
II. Das Erschöpfungsirresein.
Als Erschöpfungsirresein wollen Avir diejenigen Formen geistiger
Störung bezeichnen, als deren Ursache wir einen übermässigen Ver-
brauch oder einen ungenügenden Ersatz von Nervenmaterial in der
Hirnrinde ansehen dürfen. Am meisten Berechtigung hat die An-
nahme einer Erschöpfung zunächst bei denjenigen Psychosen, die
sich unmittelbar an schwere körperliche Umwälzungen, na-
mentlich an acute Krankheiten, grosse Blutverluste, das Wochenbett
anschliessen. Wie die Erfahrung lehrt, kommt es in der That unter
der Einwirkung der genannten und ähnlicher Schädlichkeiten zur
Entwicklung gewisser gleichartiger psychischer Krankheitsbilder,
denen eine tiefe Störung der Auffassung, des Gedankenzusammen-
hanges und der Benkthätigkeit gemeinsam ist. Dazu pflegen sich
Sinnestäuschungen, Ideenflucht und motorische Erregung zu gesellen.
Nach dem mehr oder weniger stürmischen Auftreten und Ablaufe
dieser Erscheinungen empfiehlt es sich, zwei Krankheitsbilder, das
CoUapsdelirium und die Amen tia (acute Verwirrtheit) auseinander-
zuhalten. Dagegen scheint mir die früher ebenfalls zu den Er-
schöpfungskrankheiten gerechnete acute Demenz ausschliesslich den
infectiösen Schwächezuständen anzugehören, soweit sie sich nicht als
der Beginn einer Katatonie oder des manisch-depressiven Irre-
seins herausstellt, wie ich es in den letzten Jahren regelmässig er-
lebt habe.
Eine weitere wichtige Ursache der Erschöpfung ist die geistige
und gemüthliche Ueberanstrengung, ferner dauerndes körper-
liches Siechthum. Die Krankheitserscheinungen, die uns im
Gefolge dieser Schädigungen entgegentreten, sind weit weniger
stürmische und in die Augen fallende, aber sie sind vielleicht
noch wichtiger, als die acuten Erschöpfungspsychosen, weil sie
C'ollapsdoliriuni. '.)\
ausserordentlich viel iiäufiger siod. Es sei uns ^estattet, sie unter
dem Namen der chronischen nervösen Erschöpfung hier zu-
sammenzufassen.
A. Das Collapsdelirium.
Das Collapsdelirium ist ein äusserst stürmisch sich entwickeln-
der Zustand hochgradiger Benommenheit und Verwirrtheit
mit traumhaften Sinnestäuschungen, Ideenflucht, Stim-
mungswechsel und lebhafter motorischer Erregung. Die
Krankheit beginnt in der Regel ziemlich plötzlich; bisweilen macht
sich Schlaflosigkeit und leichte Unruhe schon kurze Zeit vorher be-
merkbar. Die Kranken verlieren rasch die Orientirung in ihrer
Umgebung, die ihnen verändert und unheimlich vorkommt. Das
Bewusstsein trübt sich; es stellen sich allerlei abenteuerliche Illusionen,
fast immer auch Hallucinationen ein, oft in grossen Massen. Die
Tapeten schneiden Fratzen; ein Crucifix nickt mit dem Kopfe; Engel
fliegen zum Fenster herein; die Nachbarn rufen draussen; das
Armensünderglöckchen läutet. Die Kranken glauben sich in fabel-
haften Lebenslagen, wohnen dem Weltuntergange, ihrem eigenen
Begräbnisse bei, erleben eine Fülle merkwürdiger, traumhaft zu-
sammengewürfelter Ereignisse. Ihre Gedanken und Reden verwirren
sich; sie werden ideenflüchtig und beginnen in unsinnigen Allitera-
tionen, Aufzählungen, selbst in Yersen und Reimen zu sprechen
oder zu singen. Regelmässig bestehen zusammenhangslose, wechselnde
Wahnideen, bald mehr expansiven, bald mehr depressiven Inhalts.
Sie haben den Welterlöser geboren, tragen die Dornenkrone, sollen
deswegen ans Kreuz genagelt, ertränkt werden, aber eine Heilige
kann nicht untergehen. Der böse Feind stellt ihnen nach, hat sie
vergiftet, in drei Theile zerschnitten; die Mächte der Finsterniss sind
überwunden. Die Umgebung wird vollständig verkannt; das Kranken-
zimmer ist die Hölle, ein Gotteshaus, der Arzt Christus, der Pfarrer
oder irgend ein Bekannter.
Die Stimmung ist vorwiegend heiter, bisweilen etwas erotisch,
doch schieben sich leicht vorübergehend ängstliche oder zornige Ge-
fühlsausbrüche ein. Stets ist lebhafte motorische Erregung vor-
handen. Die Kranken bleiben nicht im Bett, drängen hinaus, auch
32 II. Das ErschÖpfangsirresein.
zum Fenster, kriechen zu ihren Mitpatienten hinein, entkleiden sich,
zerreissen, schmieren. Sie schwatzen lebhaft, bald laut und hochtrabend,
bald geheimnissvoll flüsternd, gesticuliren, schneiden Fratzen, klatschen
in die Hände. Meist ist es unmöglich, von ihnen eine besonnene
Antwort zu erhalten; nur hie und da geben sie einmal auf eine ein-
fache Frage flüchtige Auskunft oder folgen sie einer Aufforderung.
Vielfach stösst man beim Baden, Entkleiden und sonstigen noth-
wendigen Massregeln auf ein unsinniges, ganz planloses Widerstreben.
Zuweilen scheint ein dumpfes Krankheitsgefühl zu bestehen. Der
Schlaf ist auf der Höhe der Krankheit völlig aufgehoben ; höchstens
kommt es einmal zu einem ganz kurzen, rasch durch die Unruhe
wieder unterbrochenen Schlummer. Die Nahrungsaufnahme ist
sehr unregelmässig. Die Kranken stossen zeitweise alles zurück,
spucken aus, während sie kurz nachher das Dargebotene gierig
hinunterschlingen oder es sich wenigstens einlöffeln lassen.
In schweren Fällen wird das ganze Krankheitsbild sehr bald
ausschliesslich durch den rücksichtslosesten Bewegungsdrang be-
herrscht. Die psychische Thätigkeit scheint sich völlig in ein Ge-
misch verworrener Antriebe aufzulösen. Die spärlichen Zeichen
einer Auffassung äusserer Eeize, die Andeutungen von Sinnes-
täuschungen schwinden; die sprachlichen Aeusserungen zerfallen in
eine Folge einzelner sinnloser Laute. Dabei besteht eine triebartige
Unruhe, die sich in einfachen, zuweilen ganz gleichförmigen Be-
wegungen, in unablässigem Trommeln, Wälzen, Zappeln, Wischen,
Schnauben u. dgl. entladet.
Der Ernährungszustand ist im Collapsdelirium stets ein sehr
schlechter. Die Kranken sind kühl, blass, oft erschreckend abge-
magert und schwach, obgleich sie das in ihrer Unruhe nicht zu
empfinden scheinen. Das Körpergewicht sinkt ungemein schnell.
Der Puls ist klein, häufig sehr verlangsamt. Die Reflexe sind
gesteigert; einige Male sah ich lebhaftes Zittern. An der Haut
finden sich nicht selten Abschürfungen, blaue Flecke und dergl.
in Folge der Rücksichtslosigkeit, mit der die Kranken ihre Glieder
bewegen.
Die Dauer des CoUapsdehriums beträgt in der Regel nur einige
Tage, bisweilen nur Stunden, selten mehr als ein bis zwei Wochen.
Die Besonnenheit tritt fast immer plötzlich wieder hervor, oft nach
einem längeren Schlafe. Die Täuschungen sind verschwunden; die
CoUapsdeliriimi. P,P,
K]"anken beginnen sich zu orientiren, erkennen die Umgebung, li;il)en
Krankheitseinsicht, nelimen Nahrung zu sich. In einzelnen Fällen
kann vorübergehend Klarheit mit neuerlicher Wiederkehr der Ver-
wirrtheit sich einstellen. Die Erinnerung an die überstandene
Psychose ist meist eine ganz unklare; seltener sind die Kranken
im Stande, einzelne deliriöse Erlebnisse zusammenhängend zu er-
zählen. Die motorischen Reizerscheinungen verlieren sich in der
Regel langsam. Eine leichte Ideenflucht, grosse Wankelmüthigkeit
der meist gehobenen Stimmung, nörgelndes, miss vergnügtes Wesen,
Neigung zu vielem Sprechen und eine gewisse Unruhe können noch
wochenlang die Wiederkehr der Besonnenheit überdauern. Meist
tritt übrigens allmählich sehr deutlich das Gefühl der Denkträgheit
und Schwerbesinnlichkeit sowie grosser körperlicher Hinfälligkeit und
Schwäche hervor, welches dem Kranken die Bettruhe
erwünscht erscheinen lässt. Der Appetit wird gewöhn-
lich sehr stark, und das Körpergewicht steigt fast
ebenso schnell, wie es gesunken war, zeitweise täglich ''^'
1 — 2 Pfund, im ganzen nicht selten um 20, 30, ja
40 Pfund innerhalb weniger Wochen, wie die neben- no
stehende Curve*) zeigt.
Der Ausgang des Collapsdeüriums ist regelmässig ^
ein günstiger, wenn es gelingt, cUe Kranken am Leben
zu erhalten. Die Gefahr eines körperlichen Zusammen-
bruches ist allerdings wegen des elenden Zustandes "''''
der Kranken oft eine recht grosse, namentlich wenn Curve I.
etwa das ursächliche Leiden noch besondere Schädi- uach
gungen nach sich zieht. Bei einigen anscheinend hier-
her gehörigen Fällen sah Alzheimer in der ganzen Rinde ver-
breiteten feinkörnigen Zerfall der gefärbten Substanz mit leichter
Färbung der ungefärbten Bahnen ohne Gliawucherung und meist
auch ohne Erkrankung des Kernes. Andererseits hat man bei dem
schnellen Verlaufe der Psychose selbst in anscheinend ganz ver-
zweifelten Fällen bisweilen die Genugthuung, plötzliche, überraschende
günstige Wendungen zu sehen. So konnte ich vor einigen Jahren
einen jungen Menschen geheilt entlassen, der wenige Wochen früher
*) Bei dieser wie bei nllun folgenden Curveu bedeuten die Abschnitte der
Abscisscuachse je 5 Wochen, diejenigen der Ürdiiiateuachse je .5 Pfund.
Kraepelin, Psychiatrie, 6. Aufl. 3
/
/
/
/
34 IT- D^'' Evsoli(ipfnngsiiTeseiii.
•während eines Collapsdeliriiims nach Gelenkrheumatismus, Endokar-
ditis und Chorea, mit Eiweiss im Harn, mächtigem Druckbrand, einer
Temperatur von 33,8 •> und im Zustande schwerster therapeutischer
Morphiumvergiftung fast sterbend in die Klinik aufgenommen wurde.
Bei den genesenen Kranken sieht man übrigens oft noch recht lange
eine mehr oder w^eniger deutliche Erhöiiung der gemüthlichen Er-
regbarkeit fortbestehen.
Die erste, ausgezeichnete Beschreibung des Collapsdeliriums
hat 1866 Hermann Weber gegeben, der dasselbe im Anschlüsse
an den Temperaturabfall nach acuten Krankheiten beobachtete. Die
weitere klinische Erfahrung hat, wie ich glaube, gelehrt, dass die
gleichen Krankheitserscheinungen überall da zu Stande kommen
können, wo auf irgend eine Weise tief eingreifende äussere Schäd-
lichkeiten eine plötzliche Erschöpfung herbeiführen. Es scheint sich
dabei um eine ganz acute Gleichgewichtsschwankung in unserem
Centralnervensystem zu handeln, welche mit Steigerung der cen-
tralen motorischen Erregbarkeit, Abstumpfung gegen äussere Ein-
drücke und sensorischen Eigenerregungen einhergeht, Erscheinungen,
deren erste Andeutungen sich durch den psychologischen Yersuch
schon bei der Erschöpfung im Verlaufe einer durcharbeiteten Nacht
nachweisen lassen. Möglich, ja wahrscheinlich ist es allerdings,
dass neben der Erschöpfung öfters noch andersartige Ursachen wirk-
sam sind, namentlich etwa gewisse Krankheitsgifte und Zerfall stofTe.
Ausser den acuten Krankheiten, von denen besonders Pneu-
monie und Influenza, ferner Erysipel, Masern, Scharlach und Cholera
zu nennen sind, kommen als Ursachen vor allem das Wochenbett in
Betracht, Blutverluste, fortgesetzte Nachtwachen, vielleicht auch iieftige
gemüthliche Erregungen. Diese letzteren scheinen besonders als
auslösende Ursachen bei einer schon vorbereiteten Herabsetzung
der psychischen Widerstandsfähigkeit von Bedeutung zu sein. Nicht
selten sieht man z. B. gegen Ende der ersten Woche des Kind-
betts oder gar noch später die Störung an einen Schreck, einen
Streit sich anschliessen. Erbliche Veranlagung liess sich etwa in
der Hälfte der von mir aus den letzten Jahren gesammelten Fälle
nachweisen; wichtiger dürften erworbene Schwäciumgen sein, wie
sie durch chronische Leiden, schlechte Ernährung, Kummci' und
widrige Lebensschicksale erzeugt werden. Einmal konnte ich die
Entwicklung des Collapsdeliriums in der Anstalt bei einer bis dahin
Collaii.sdfliriuin. 35
nur loicht melancholisdi vorstinunten IVuu von Anfang an verfolgen,
als sie eine schwere Influenza mit nachfolgender Sprach- und Schluck-
lähnumg durchmachte; im Verlaufe einer periodischen Manie beob-
achtete icii ein Coilapsdelirium während der Genesung von einem
schweren Erysipel. Eine Frau erkrankte nach angestrengten Nacht-
wachen mit dem Eintritte der Menses, eine andere zum ersten
Male in der Lactation, zum zweiten Male 18 Jahre später nach einer
fieberhaften Lungenerkraiikung. Frauen sind, schon wegen der Ge-
fahren des Fortpflanzungsgeschäftes, erheblich mehr zum Coilaps-
delirium geneigt, als Männer.
Die Erkennung des CoUapsdeliriums ist namentlich für die
Behandlung von Wichtigkeit. Sie stützt sich in erster Linie auf die
ursächlichen Verhältnisse, den Ernährungszustand und die plötzliche
Entstehung der Psychose, kann aber auch aus dem psychischen
Verhalten mit grosser Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden. Die
Verwirrtheit und Desorientirtheit der Kranken sowie ihre Sinnes-
täuschungen lassen in erster Linie Verwechselungen mit epileptischen
Dämmerzuständen oder dem Delirium tremens möglich erscheinen.
Von beiden Formen unterscheidet sich das Coilapsdelirium deutlich
durch die Ideenflucht und den triebartigen, nicht, wie dort, durch
Vorstellungen oder Angstaft'ecte ausgelösten Beweguugsdrang. Ferner
können die triebartigen Erregiuigen der Katatoniker dem Coilaps-
delirium äusserlich ungemein ähnlich sehen. Was sie aber deutlich
davon unterscheidet, ist die gute Erhaltung der Besonnenheit sowie
die geringe Störung der Auflassung, des Denkens und der Orientirung,
im Gegensatze zu der traumartigen Benommenheit im CoUapsdeliruun.
Dagegen begegnen wir in der Dementia paralytica deliriösen Auf-
regungszuständen, die nur unter Berücksichtigung des ganzen bis-
herigen Krankheitsverlaufes oder der ^freilich oft unsicheren, eigen-
artig paralytischen Zeichen (geistige Schwäche, unsinnige Grössen-
oder Kleiuheitsideen, nervöse Störungen) vom Coilapsdelirium zu
unterscheiden sind. Der Nachweis länger zurückgehender Vorläufer-
erscheinungen und das Fehleu ^einer eingreifenden äusseren Schäd-
lichkeit sprechen für Paral^^se. Der weitere Verlauf ertscheidet
natürlich die Frage früher oder später, wenn nicht der Tod die Be-
obachtung abschneidet.
Es ist daher erklärlich, dass luan bisweilen die schwereren
Fornuui det; Coilapsdeliriuius mit gewissen tödtlich verlaufenden
3*
36 11- r)'is Erscböpfungsivrespin.
Fällen des paralytischen Delirinms und der Katatonie als be-
sondere Krankheit unter dem Namen des „Delirium acutum"
zusaramengefasst hat, dem sogar bestimmte anatomische Yerände-
rnngen (Hirnhyperaemie, Oedem, Answandernng von weissen nnd
selbt rothen Blutkörperchen in die Lymphräume des Hirns) zu Grunde
liegen sollen. Ich habe mich von der selbständigen Berechtigung
dieser Krankheitsform bisher nicht überzeugen können. Von ge-
wissen deliriösen Anfällen des manisch-depressiven Irreseins ist das
CoUapsdelirium ohne Kenntniss der Vorgeschichte (Ursachen, frühere
Anfälle) nur sehr schwierig zu unterscheiden. Mir scheint indessen,
dass die Auffassung äusserer Eindrücke im Erschöpfungsdelirium
weit stärker gestört ist, als bei jenen Kranken; zudem ist der körper-
liche Zustand zu berücksichtigen. Gegenüber der nahe verwandten
Amentia kommt die stürmischere Entwicklung, die grosse Heftigkeit
der gesammten körperlichen und psychischen Krankheitserscheinungen
und der rasche Verlauf des CoUapsdeliriums in Betracht.
Die Behandlung dieser Krankheit hat ungemein wichtige und
zugleich dankbare Aufgaben zu erfüllen; es giebt keine Geistes-
störung, bei welcher das Können des Arztes so entscheidend in das
Schicksal des Kranken einzugreifen vermag. Selbstverständlich ge-
hören derartige Kranke so schnell wie möglich auf die Wach-
abtheilung einer Irrenanstalt. Hier sind hauptsächlich zwei Auf-
gaben zu erfüllen: es gilt, die Kräfte des Kranken zu erhalten und
womöglich zu heben, andererseits ihn vor Verletzungen und Schä-
digungen durch die eigene Unruhe oder durch seine Umgebung zu
schützen. Gerade bei diesen Kranken pflegt sich in ausgezeichneter
Weise das Dauerbad zu bewähren. In demselben tritt meist sehr
bald eine gewisse Beruhigung ein; die Kranken bleiben dann gern
im Bad und fangen häufig an, reichlich Nahrung zu sich zu nehmen.
Man wird daher von Einwicklungen, die wegen der Behinderung der
Athmung unter Umständen nicht unbedenklich sind, vom Festhalten
im Bett und von der Anwendung des Polsterzimmers fast immcM-
absehen können. Ebenso möchte ich den Gebrauch von narko-
tischen oder Schlafmitteln ganz allgemein widerrathen, da ilii-e Ge-
fahren hier zu ihrem Nutzen in keinem richtigen Verhältnisse stehen.
Doch ist der Alkohol in kräftigeren Gaben sehr am Platze; er bringt
Ruhe, oft raschen Schlaf und wird ausgezeichnet vertragen. Auch
das Paraldehyd mag man versuchen. Bei sehr grosser Schwäche
Acute Verwirrtheit. 37
habe ich starken Kafi'ee, CuffcVueinspiitzungen und Campher vorüber-
gehend angewendet.
Die Nalirungsaufnahme orfordert sehr sorgfältige Berücksichtigung.
Häufiges Anbieten, Auswahl nahrhaftei- Speisen, besonders flüssiger
oder breiiger (Milch, Cognac mit Ei und Zucker, Fleischbrühe mit
zerhacktem Fleisch), kann hier viel leisten. Im Nothfalle muss zur
Ernährung durch die Sonde gegriffen werden, bei der man den Alkohol
nicht vergesse. Nicht selten schlafen die Kranken nach einer solchen
Fütterung sofort ein. Wo sie vertragen wird, erweist sich geradezu
eine gewisse Ueberernährung als zweckmässig. Sobald die Sonde
aus irgend einem (jirunde (Magenblutung, Erbrechen) nicht anwend-
bar ist oder die hochgradige Erschöpfung sehr rasches Eingreifen
erfordert, zögere man nicht, zur Kochsalzinfusion zu schreiten. Kasche
Aufhellung des Bewusstseins und willige Aufnahme von Nahrung
ist die gewöhnliche, freilich zunächst nur vorübergehende "Wirkung,
die nach Bedarf durch Wiederholung der Massregel erneuert werden
kann. Bisweilen genügen auch schon häufige, vorsichtige Kochsalz-
klystiere. Wenn die volle Besonnenheit zurückgekehrt ist, hat die
Behandlung nur die Aufgabe, von dem noch sehr empfindlichen
Reconvalescenten alle äusseren Schädlichkeiten, namentlich gemüth-
liche Erregungen, fernzuhalten, bis das frühere körperliche und
psychische Gleichgewicht vollkommen erreicht ist. Massgebend für
die Beurtheilung der Genesung ist dabei in erster Linie die Wieder-
erlangung des früheren Körpergewichts.
B. Die acute Verwirrtheit (Ameutia)*),
Unter dem Namen der Yerwirrtheit (Amentia) hat Meynert
eine Krankheitsform beschrieben, die hauptsächlich durch das Auf-
treten einer leichteren oder tieferen Bewusstseinstrübung mit mannig-
fachen Reizerscheinungen auf sensorischem und motorischem Ge-
biete gekennzeichnet ist. In Folge einer wesentlich symptomatischen
Auffassung des Krankheitsbildes finden sich in demselben eine Reihe
von Zuständen vereinigt, die meiner Ueberzeugung nach durchaus
*) Meynert, Jahrb. f. Psychiatrie, 1881; Klinische Vorlesungen über Psy-
chiatrie, S. 33 ff; Mayser, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLII, 1; Wille,
Archiv f. Psychiatrie, XIX, 2; Chaslin, la confusion mentale primitive. 1895;
Poulseu, Studier over primaer idiopathisk amentia. 1896.
38 II. Das P>schöpfiingsirresein.
von einander unterschieden werden sollten, ausser dem soeben be-
schriebenen Collapsdelirium z. B. gewisse epileptische und perio-
dische Geistesstörungen. Es scheint mir daher z\Yeckmässiger, die
Bezeichnung der Amentia nur für den eigentlichen Kern der Mey-
nert 'sehen Beobachtungen festzuhalten, für diejenigen Fälle, bei
welchen sich in Folge einer greifbaren äusseren Schädlich-
keit acut ein Zustand traumhafter Verworrenheit, illu-
sionärer oder hallucinatorischer Verfälschung der VTahr-
nehraungund motorischer Erregung entwickelt, der bei günsti-
gem Verlaufe frühestens nach 2 — 3 Monaten zur Genesung führt.
Vielleicht können wir diese Krankheitsgruppe geradezu als ein ver-
längertes Collapsdelirium bezeichnen. Sie deckt sich zum grossen
Theile mit dem von Fürstner beschriebenen ,,hallucinatorischen
Irresein der Wöchnerinnen".
Den Beginn der Krankheit bilden gewöhnlich Schlaflosigkeit und
innere Unruhe. Die Kranken fühlen sich beängstigt, aufgeregt, vor-
gesslich, haben Todesahnungen, können ihre Gedanken nicht mehr
recht sammeln und klagen über Benommenheit und Verwirrtheit
im Kopfe. Im Laufe weniger Tage steigert sich die Störung rasch
bis zu völliger Unfähigkeit, sich in der Umgebung und in den Er-
eignissen zurechtzufinden. Alles erscheint verändert; die Personen
werden verkannt; vereinzelte oder zahlreichere Hallucinationen
stellen sich auf verschiedenen Sinnesgebieten ein, um ebenso wie die
verfälschten wirklichen Eindrücke zu traumhaft verworrenen, wider-
spruchsvollen Wahnideen verarbeitet zu werden. Die Kranken sehen
Gesichter in der Luft, den ewigen Juden, den Teufel im Ofen,
fliegende Vögel, wilde Thiere unter dem Bett, zwei Gehängte am
Fenster; sie werden verspottet, hören Vorwürfe, Drohungen, Ver-
heissungen. Man ruft sie; es wird ein Lied gesungen, „als ob es
keinen Gott mehr gäbe". Alles ist todt zu Hause; eine Schlacht ist
geschlagen durch ihre Schuld; das Gottesgericht wird abgehalten;
sie müssen den Doppelkampf in Gethsemane durchmachen. Es
giebt Anfechtungen in der Luft mit Spiegeln und Magnetismus,
Verschwörungen, Sciilangen und Geister; der Teufel kommt in
dreierlei Gestalt. Sie fürchten, vergiftet, todtgeschosson, gesotten und
gebraten, im Keller hingerichtet zu werden, da sie „der schrecklichste
aller Drachen" sind; sie sind schon gestorben; der Todtenwagen
fährt schon draussen.
Acute WTwirrllieit. 39
In einzelnen Fällen überwiegen Grössenideen : ilio Kranken sind
hohe Personen, sind im Himmel gewesen, haben den Heiland ge-
sehen, reisen nach Amerika. Nicht selten gerathen die Kranken
dabei in ein eigenthümlich deliriöses Fabnliren. Die Auffassung der
wirklichen Umgebung ist stets eine sehr unvollkommene. Die
Kranken sind zerstreut, schwer zu fixiren, wissen nicht, wo sie sich
befinden, verkennen die Personen, meist ohne jede Rücksicht auf die
Aehnlichkeit, halten aber an den einmal gemachten falschen Be-
zeichnungen oft längere Zeit hindurch fest.
Dabei ist die Aufmerksamkeit der Kranken auf die Um-
gebung gerichtet; sie bemühen sich, aufzufassen und zu begreifen,
was um sie herum vorgeht. Fast immer gelingt es, durch vorge-
haltene Gegenstände, Geberden, zugerufene Worte den Gedanken-
gang in bestimmte Richtung zu lenken. Um so auffallender ist
aber regelmässig die Unfähigkeit, auch nur die einfachsten Vorgänge
richtig zu verstehen. Manchen derartigen Kranken erscheint alles
falsch, verwechselt, verdreht. Sie werden mit falschen Thermometern
gemessen; es sind „falsche Zeitungen'', die man ihnen giebt; es ist
„immer alles anders"; sie sind an einen „ganz verkehrten Ort" ge-
rathen, „gehören gar nicht hierher", „sind gar nicht der Richtige"
und wissen nicht, „w^as das alles bedeuten soll". Die alltäglichsten
Dinge gewinnen auf diese Weise für den Kranken den Anschein
des Räthselhaften, Unverständlichen und Unheimlichen; er fühlt sich
ihnen gegenüber rathlos, was sich meist in seinem ganzen Verhalten
sehr deutlich ausdrückt. Es werden immer so die Thüren auf- und
zugemacht; da wird ein Packet auf den Tisch gelegt, und dann
nickt Einer mit dem Kopfe; bald heisst es so, bald heisst es so; da
sind mit einem Mal so viele Frauen — warum stellen die sich Alle
so? Dabei äussert sich gewöhnlich ein deutliches Gefühl dieser
Unfähigkeit, zu verstehen; der Kranke klagt, dass er nicht recht
denken könne, dass man ihn ,.ganz irre" mache, wünscht sich leb-
haft fort, damit er endlich aus dieser Verwirrung herauskomme.
Diese letzteren Fälle, in denen die eigentlichen Sinnestäuschungen
gänzlich hinter der Auffassungsstörung zurücktreten, sind es, die ich
früher als ,.asthenische Verwirrtheit" der hallucinatorischen Form
gegenübergestellt habe. Die weitere Erfahrung hat mir indessen
gezeigt, dass die beiden Krankheitsbilder zweckmässiger unter ge-
meinsamer Bezeichnung zusammengefasst werden.
40 n. T)iis Erscliopfungsirresein.
Offenbar haben Avir es mit einer schweren Denkstörung zu
<hun. Dieselbetritt sein- deutlich auch in der Verworrenheit des
Gedankenganges hervor, die der Psychose den Namen gegeben
hat. Die Kranken sind unfähig, eineErzählung zu Ende zu
führen, weil sich immer wieder andere Vorstellungen dazwischen
schieben. Zufällig aufgefasste "Worte oder Geräusche flechten sie
sofort in ilire Reden ein. Bisweilen lösen sich die Aeusserungen
der Kranken in einzelne abgerissene und zusammenhangslose Worte
auf. Vielfach ti'eten dabei Wortanklänge und Reime in den Vorder-
grund. Ein Beispiel giebt die folgende Nachschrift:
„Sie brauchen keine yoMene Brille, Silber, Edelsteine — und hat so oft in das
Meer der Ewigkeit gesenkt — und Alle wollen veriirtheilt werden — und ich soll mich
meiner ersten Eltern nicht schämen — und ich habe doch einen Lorbeerkranz ver-
dient, aber ich habe ihn noch nicht Angesichts des Herrn erhalten, und diese
Fahnenweihe (sieht draussen die Fahnen von Kaisers Geburtstag) war es doch
nicht, wo ich vor meinen Scliulkindern — ich will aber doch den Sieg erlangen
nnd richtige Fahnenweih mitfeiern und für ganz Deutschland eine Fahne weihen,
)iicht eher, bis ich meine Fahne sehe, die mir gehört in Eichtigkeit. — Diese richtige
Fahne habe ich weder Blutvergiessen noch Unschuld, wohin Alle noch zu gelangen
wünschten, nicht eher bis sie die richtige Fahne sehen; sie ist nicht goid, nicht
roth, nicht schwarz, nicht gelb wie die Falschheit — zu viel Falschheit treiben
die Kindermädchen und schütten Einem Gift ins Essen, damit die Todten wieder
lebendig werden."
Neben den Zeichen von Ideenflucht und Ablenkbarkeit macht
sich das Kleben an einzelnen Vorstellungen geltend, ferner völlige
Zusammenhangslosigkeit, unklare Verfolgungsideen und das Ge-
fühl, dass es „nicht richtig" ist. Das Bewusstsein ist traum-
haft getrübt, die Ordnung der Eindrücke und Vorstellungen unge-
mein erschwert. Am auffallendsten treten diese Erscheinungen in
den Zeiten hervoj', in denen die Kranken ruhig sind. Die tiefe Ver-
Avirrtheit bei völlig ruhiger, gleichniüthiger Stimmung bietet ein sehr
eigenartiges Bild.
Die Stimmung ist in der Amentia eine sehr verschiedene. Bis-
weilen überwiegt dauernd die freudige Gehobenhoit, liäiifiger eine
gewisse Depression. Fast immer findet sich ein deutlicher Wechsel
des Zustandes: kurze Zeiten unvermittelter Heiterkeit mit geschlecht-
licher Ei'reguug, Lachen und Singen oder Ausbrüche zorniger Ge-
reiztheit entwickeln sich auf einer Grundlage leichten ängstlichen
Unbehagens und Misstrauens. Zeitweise treten auch Anzeichen von
Amte Verwirrtheit. 41
Stumpfheit oder von inneren Spannungszuständen mit heftiger Auf-
regung, Schreien, Weinen, Schimpfen liervor.
Im Benehmen der Kranken macht sich ein mehr oder weniger
ausgeprägter Bewegungsdrang geltend. Sie sind unruhig, bleiben nicht
im Bette, machen Fluchtversuche, entkleiden sich, zerreissen, knoten
die Betttücher zusammen, trommeln, klappen, klettern, greifen nach
glänzenden Gegenständen, klammern sich an. Sie singen, schwatzen,
predigen, verdrehen in kindischer Weise die Worte; zeitweise werden
sie ärgerlich, schlagen, stossen und spucken, werfen das Essen ins
Zimmer, bringen verwirrte Schimpfereien vor. Ihre Handlungen
werden nicht sehr schnell, ohne grossen Nachdruck, planlos, zu-
sammenhangslos ausgeführt; die Erregung tritt mehr anfallsweise
auf, während dazwischen vollkommene Beruhigung vorhanden sein
kann. Der Gesichtsausdruck ist abwesend, verständnisslos.
Der Schlaf der Kranken ist stets sehr gestört; nicht selten
])flegt sich gerade in der Nacht grössere Unruhe einzustellen. Die
Nahrungsaufnahme ist von Anfang an gering; zeitweise kommt
es wegen der verwirrten Unruhe und wegen des ängstlichen Miss-
trauens der Kranken zu völliger Nahrungsverweigerung. Das Körper-
gewicht sinkt daher beträchtlich; gleichwol bleibt der Ernährungs-
zustand meist ein besserer, als im Collapsdelirium. Die Reflexe sind
häufig erhöht, der Puls verlangsamt, die Temperatur niedrig normal;
vielfach besteht Unreinlichkeit.
Die volle Höhe der Erkrankung wird gewöhnlich schon inner-
halb der ersten zwei Wochen erreicht. Der weitere Verlauf ist
regelmässig ein eigenthümlich schwankender. Die stürmischen Er-
scheinungen lassen im ganzen allmählich nach; die Kranken werden
etwas zusammenhängender in Gedanken und Reden, um vorüber-
gehend doch wieder völlig desorientirt und sehr unruhig zu sein.
Nicht selten kommt es schon im Beginne der Krankheit zu kurzen,
ganz tiefen Nachlässen, in denen für Stunden und selbst Tage
vollständige Klarheit, Einsicht und Schwinden der Täuschungen be-
obachtet wird. Treten solche Besserungen plötzlich und unver-
mittelt ein, so sind sie nicht von Bestand. Vielmehr pflegt sich die
wirkliche Genesung fast immer unter ganz langsamer Abnahme
aller Krankheitserscheinungen zu entwickeln. Regelmässig sind die
Kranken schon längere Zeit ruhig, während sie noch immer nicht
recht ihre Gedanken zu sammeln, die Vorgänge in ihrer Um-
42 II- l^;is Erschöiifiiii^siriTsein.
gebung zu verstehen, sich in ihrer Lage zurechtzufinden ver-
mögen.
Bei längerem Sprechen, in Briefen gerathen die Kranken in
Folge ihrer grossen Ermüdbarkeit noch ungemein leicht in die frühere
VerwoiTcnheit hinein, auch wenn sie anfangs völlig klar und zusammen-
hängend gewesen sind. In den leichtesten, häufigeren Fällen wird
ausserdem der Eintritt völliger Besonnenheit vielfach noch kürzere Zeit,
einige Wochen etwa, überdauert von einer einfachen, leicht manischen
oder depressiven Verstimmung, die sich je nachdem in Geschäftig-
keit, vielem Sprechen, gehobenem Selbstgefühl oder in Misstrauen,
Kleinmtithigkeit, Aengstlichkeit, Todesgedanken, vielleicht auch in
grosser Reizbarkeit äussert. Die Gesammtdauer der Krankheit pflegt
hier 3 — 4 Monate nicht zu überschreiten.
Bei schwererer Störung werden die Kranken zwar auch nach
einigen Monaten klar, aber einzelne Sinnestäuschungen dauern noch
längere Zeit hindurch fort, ohne indessen irgendwie wahnhaft ver-
arbeitet zu werden. Die Kranken hören Zurufe, vernehmen im
Zwitschern der Yögel, in entferntem Pfeifen gelegentlich eine Auf-
forderung oder Drohung. Ganz vorübergehend taucht auch wol ein-
mal eine unsinnige Grössen- oder Yerfolgungsidee auf, um sehr bald
wieder vergessen zu werden. Dabei besteht ein eigenthümlich nör-
gelndes, reizbares, unzufriedenes, auch wol hochfahrendes und ge-
spreiztes "Wesen. Die Anstalt ist ein Gefängniss, in dem sich die
Kranken Aviderrechtlich zurückgehalten glauben. Sie sind gar nicht
krank, auch nicht krank gewesen, nur etwas aufgeregt über die
schlechte Behandlung und das miserable Essen. Alles ist nicht gut
genug für sie; man soll sie nur nach Hause lassen; sie seien lange
genug da. NamentHch zur Zeit der Menses können sich noch
stärkere Erregungen einstellen. Ganz allmählich verlieren sich auch
diese Krankheitserscheinungen. Die Täuschungen und Wahnideen
verschwinden ganz; die Kranken werden freundlicher, zugänglicher
und etwas einsichtiger, aber in ihrer geringen gemüthlichen Widei*-
standsfähigkeit und einem gewissen Mangel an klarem Verständnisse
ihrer Krankheit erkennt man deutlich, dass eine dauernde psychische
Schwäche zurückgeblieben ist. Bis zur Ausbildung eines einigermassen
feststehenden Zustandes können hier viele Monate, selbst Jahr und
Tag vorgehen; auch schwere Rückfälle nach gemüthlichen Erregungen
oder körperlichen Schädigungen werden beobachtet.
Aciito Yoruirrtlnoil.
4?,
Der Abschluss des Kfankheitsvorqanges wii-d (Uircli das An-
steigen des Körpergewichtes angezeigt, welches in leichteren Fäilon
sehr rasch, bei dem letzterwähnten Ausgange dagpgen langsam und
mit vielen Schwankungen zu erfolgen pflegt. Die beigefügte Curve II
zeigt einen über lO'/a Monate sich erstreckenden Krankheitsverhuif
mit mehrfachen Verschlechterungen und endlicher Genesung.
Der Ausgang in Tod ist bei der Amentia nicht gerade häufig;
doch kann bei sehr hochgradiger Erregung im Beginne oder bei
besonders ungünstigem Körperzustande (Herzfehler, Plithise, Sepsis)
ein CoUaps erfolgen; ausserdem bleibt natürlich die Sei hstmordgefahr
immerhin zu beachten.
Ursachen der Amentia sind erschöpfende Einflüsse, nament-
lich das Wochenbett, ferner acute Krankheiten (Rheumatismus, Ery-
sipel, Typhus), Blutverluste, vielleicht auch schwere körperürhe Ueber-
anstrengung, Nachtwachen. Im ganzen hat es den Anschein, als ob
hier gegenüber dem Collapsdelirium die langsamer einwirkenden,
den Boden erst allmählich vorbe-
reitenden Krankheitsursachen über-
wiegen. Dem entsprechend spielt auch
die erbliche Veranlagung hier an-
scheinend eine etwas grössere Rolle,
als dort. Die letzte Gelegenheits-
ursache zum Ausbruche der Stö-
rung giebt nicht selten eine heftige
Gemüthsbewegung (König Lear).
Das weibliche Geschlecht ist aus
nahe liegenden Gründen weit
stärker vertreten als das männ-
liche.
Die Diagnose der Amentia wird^unter Berücksichtigung der
ursächlichen Verhältnisse, des acuten Beginnes und der eigenartigen
Krankheitszeichen — Erschwerung der Auffassung trotz vorhandener
Aufmerksamkeit, illusionäre oder hallucinatorische Täuschungen, Ab-
lenkbarkeit, tiefe Denkstörung bis zur Verworrenheit, Ideenflucht,
wechselnde Stimmung, motorische Erregung — meist sehr bald mög-
lich sein. Schwierigkeiten, und zwar erhebliche, entstehen nur
gegenüber der Katatonie und gewissen manischen Erregungszuständen.
Vor allem wird man hier auf den Anschluss der Krankheit an eine
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Amentia im Wocheiiliptt.
44 II. Das Erschöpfangsirresein.
erschöpfende Ursache Werth legen müssen. Das klinische Bild
selbst lässt sich von der Manie abgrenzen durch das entschiedene
Missverhältniss zwischen der schweren Störung der Auffassung und
des Verstandes einerseits, der psychischen Erregung andererseits,
Avie es bei der Amentia noch bis weit in die Genesungszeit hinein
fortzudauern pflegt. Die Kranken sind noch yerworren und geistig
unfähig, wenn die Erregung längst geschwunden ist, während inanisclie
Kranke auch bei grosser Unruhe ziemlich gut aufzufassen und ihre
Umgebung zu vei'stehen pflegen. Zudem spielt sich die Erregung
in der Amentia weit langsamer, planloser ab, als der Bewegungs-
drang der Manie; die Kranken sprechen und liandehi langsamer,
Aveniger überstürzt, und sind dazwischen oft ganz ruhige aber trotz-
dem unklar, rathlos, verworren. Gegenüber der Katatonie ist nament-
lich auf die schwere Störung der Auffassung und Orientirung bei
erhaltener Aufmerksamkeit hinzuweisen. Katatoniker pflegen auch in
der stärksten Erregung durch ihr genaues Yerständniss der Um-
gebung, ihre richtige Zeitrechnung, ihre Personenkenntniss, ihr gutes
Gedächtniss für die Vorgänge der letzten Zeit zu überraschen. Da-
gegen vermögen die Kranken mit Amentia sich selbst in der Buhe,
wenn wir von den Nachlässen im Anfange absehen, weder zeitlich
noch örtlich zu orientiren, haben keine Ahnung von den Personen
in der Umgebung, vergessen rasch wieder, Avas sich zuträgt. Dazu
kommt das Fehlen ausgeprägt katatonischer Krankheitszeichen. Zwar
kann Katalepsie und in Andeutungen avoI auch diese oder jene
andere Form der Befehl sautomatie vorhanden sein, aber echter Ne-
gativismus, Verbigeration, Mutacismus, Stellungsstereotypen, Manieren
und Schrullen dürften unter allen Umständen gegen Amentia sprechen.
In der hier gegebenen Umgrenzung ist die Amentia eine ziem-
lich seltene Krankheit. Unter etwa 1500 Kranken der letzten Jahre
möchte ich mit Bestimmtheit nur 6, also noch nicht V2%) zu dieser
Krankheitsform rechnen. Die übergrosse Mehrzahl der Fälle, die
mit dem Namen der hallucinatorischen Verwirrtheit belegt zu av erden
pflegen, gehört nach meiner Ueberzeugung in Wirklichkeit dem
manisch-depressiven oder katatonischen Irresein an.
Schon aus diesem Grunde kann ich mich nicht zu einer Be-
handlung der Amentia mit Bakteriengiften entschliessen, Avie sie
neuerdings von BinsAvangor*) vorgeschlagen Avurde. Violmehr
*) ßiuswauger, ßcrliiiLT Idiniaclic Wocbensclu-ill, 18U7, 23.
Cliroiiisclif novvöso Erscliüpfiin«^'. 4;")
jolaubo icli, dass wir cinfiicli diejenigen Anzeigen /u erfüllen haben,
die sich aus der bestehenden f]rsch(>pfnng unmittelbar ergeben.
Beruhigung wird durch Bettlagerung oder Dauerbäder erreicht;
auch der Alkohol thut oft sehr gute Dienste. Gelegentliche Gaben
von Hypnoticis (Brom, Trional, Paraldehyd) sind hier bei grosser,
unbesiegbarer Unruhe eher einmal gestattet. Die Ernährung er-
fordert sorgfältige Berücksichtigung. Bei droliendei- Erschöpfung
zögere man nicht, zur Sonde zu greifen, um eine reichliche Nahrungs-
zufuhr zu erreichen. "Wenn der Magen gut ist, empfiehlt es sich
auch hier, Ueberernährung anzustreben, die nicht selten Beruhigung
bringt. Bei drohendem CoUapse sind Kochsalzklystiere oder In-
fusionen am Platze. Wegen der grossen Neigung zu Rückfällen
muss man hier den Kranken in der Genesungszeit besonders vor-
sichtig vor Schädigungen, namentlich zu frühzeitiger Entlassung
hüten. Jedenfalls ist ausser völliger, dauernder Rückkehr der
Ruhe, Klarheit und Einsicht immer auch die Wiedererreichung
des gesunden Köpergewichts abzuwarten, bei dem Drängen der
Kranken bisweilen eine unangenehme, aber durchaus nothwendige
Geduldsprobe.
C. Die clironische nervöse Erschöpfuug.
Die chronische nervöse Erschöpfung, wie sie im folgenden be-
schrieben werden soll, deckt sich mit denjenigen Zuständen, die man
gewöhnlich mit dem Namen der erworbenen Neurasthenie zu
bezeichnen pflegt. Ohne Zweifel bestehen zwischen dieser Erkrankung
und den psychopathischen Zuständen der angeborenen Neurasthenie
fliessende Uebergänge je nach dem Verhältnisse, in welchem äussere
Ursachen einerseits, krankhafte Veranlagung andererseits an der
Entwicklung des Leidens betheiligt sind. Dennoch habe wol ich
nicht allein die Unklarheit empfunden, welche durch das Zusammen-
werfen so weit auseinanderweichender Krankheitsbilder in die
klinischen Darstellungen der Neurasthenie hineingetragen wird. Ich
habe daher den Versuch gemacht, hier zunächst diejenigen Krankheits-
erscheinungen auszuscheiden, welche aucii bei gesunder Veranlagung
durch dauernd einwirkende erschöpfende Ursachen erzeugt werden.
Die gesunde Erfahrung lehrt uns die ersten Anfänge der Er-
40 n. Das Eri!icliö2)fuugsirreseiii.
Schöpfung in der Beizbarkeitssteigerung kenuen, die sich bei
fortgesetzter Arbeit nach üeberwindung des Müdigkeitsgefühls ein-
steilt. Wir sind bekanntlich im Stande, jenes Warnungszeichen
durch eine Willensanstrengung zu unterdrücken; unter dem Einflüsse
gemüthlicher Erregung bleibt es von selbst aus. In beiden Fällen
jedoch gestaltet sich das Verhältniss zwischen Verbrauch und Ersatz
rasch immer ungünstiger; die Bedingungen für den Eintritt der Er-
schöpfung bilden sich lieraus. Leider fehlt es uns noch an Ver-
suchen über die Wirkung dauernder Ueberanstrengung auf das
Seelenleben. Wir wissen jedoch aus vielfacher Erfahrung, dass bei
fortgesetzt ungenügendem Ausgleiche der Ermüdungs Wirkungen zur
nächst die Fähigkeit zu gieichmässiger Anspannung der Aufmerksam-
keit abnimmt. Der Kranke vermag nicht mehr, klar und scharf zu
denken, längere Zeit hindurch bei demselben Gegenstande zu ver-
weilen, sondern er wird leicht durch irgend welche zufälligen Ein-
flüsse nach dieser oder jener Richtung hin abgezogen; er wird un-
aufmerksam, zerstreut, vergesslich, namentlich in Bezug auf Namen
und Zahlen. Seine Ermüdbarkeit steigert sich; nach immer
kürzerer Arbeitszeit stellt sich eine rasch stärker anwachsende Er-
schwerung der geistigen Thätigkeit, ein Gefühl der Ermattung
ein, das zu baldigem Aufhören zwingt. Zugleich verliert der Kranke
die Freude an der gewohnten Beschäftigung. Nur noch mit ganz
unverhältuissmässiger Anstrengung vermag er die Aufgaben zu lösen,
die ihm bis dahin nicht die geringste Schwierigkeit verursachten;
er muss sich mit Gewalt zwingen zu der Arbeit, die er sonst mit
Lust und Befriedigung verrichtete.
Unter dem Drucke dieser Veränderungen, des immer deutlicher
hervortretenden Gefühls der mangelnden Leistungsfähigkeit, pflegt
sehr bald die Stimmung in erheblichem Maasse zu leiden. Der
Kranke wird aufgeregt, missmuthig, verdriesslich, reizbar, heftig und
ungerecht; er fühlt sich unbehaglich und unbefriedigt von seinem
J-Jerufe und seinen Lebensverhältnissen. Lächerlich kleine Anlässe,
eine Unart seiner Kinder, kleine geschäftliche Unannehmlichkeiten,
die ihn in gesunden Tagen unberührt gelassen hätten, vermögen
ihm für Stunden und Tage die Laune zu verderben und ihn zu
Hettigkeitsausbrüchen hinzureissen, die er später selber bedauert.
In anderen Fällen dagegen bemächtigt sich des Kranken das Gefühl
einer unüberwindlichen .Schlairneil und Müdigkeit; er verliert die
Chronificlie hptvöso Erscli(i)irini^'. 47
Freude an seinei] liebsten Veignüguuj^en und vermag sich zu
keinem Entschlüsse mehr aufzuraffen, da ihm alles gleichgültig ge-
worden ist.
Hand in Hand mit diesen psychischen Veränderungen gehen
stets auch eine Reihe von körperlichen Krankheitszeichen.
Zunächst und am stärksten wird der Kopf in Mitleidenschaft ge-
zogen. Am häufigsten ist es das Gefühl eines dumpfen, allgemeinen
Druckes, welches dem Kranken die Arbeitsfreudigkeit raubt und in
der Regel bei irgend einer Anstrengung sich rasch bis zum Uner-
träglichen steigert. Die Localisation dieser Empfindung ist eine ver-
schiedene. Am meisten scheint dabei die Stirngegend betheiligt zu
sein, ferner die Scheitelhöhe, seltener der Hinterkopf; bisweilen haben
die Kranken das Gefühl eines festen Reifens, der sich rings um den
Kopf spannt, oder des Zusammenpressens von beiden Seiten her.
In anderen Fällen sind es wirkliche Schmerzen, über welche die
Kranken zu klagen haben, bisweilen halbseitiger (Migräne), häufiger
doppelseitiger Natur. Namentlich die Augengegend und das Hinter-
haupt sind der Lieblingssitz solcher schmerzhaften Empfindungen;
häufig erweisen sich dann die Austrittssteilen der Trigeminusäste
und des Occipitalis major als auf Druck empfindlich. Nicht selten
wird von den Kranken auch das Auftreten leichter, rasch vorüber-
gehender Schwindelanfälle oder Beängstigungen berichtet. In den
Augen stellen sich bei geringen Anstrengungen lebhafte Schmerzen,
Verschwimmen der Eindrücke und mouches volantes ein (neurasthe-
nische Asthenopie).
Sehr häufig ist das Gefühl allgemeiner körperlicher Schwäche
und Hinfälligkeit. Der Kranke fühlt sich ermüdet und angestrengt^
wenn er einen kurzen Spaziergang gemacht, ein Schwimmbad ge-
nommen hat oder einige Treppen gestiegen ist. Eine wirkliche
Abnahme der Muskelkraft lässt sich jedoch dabei gewöhnlich nicht
nachweisen; vielmehr scheint es wesentlich der Mangel an Thatkraft
zu sein, welcher den Kranken schon bei geringen Leistungen zu sehr
bedeutenden Anstrengungen zwingt und ihn daher verhältnissmässig
leicht ermüden lässt. Bisweilen w^erden leichte Zuckungen in ein-
zelnen Muskeln, besonders des Gesichts, von dem Kranken wahr-
genommen, die ihn sehr beunruhigen; auch über erschwertes
Sprechen, leichtes Stottern wird geklagt, namentlich in grösserer
(iesellschaft oder bei besonderer Gelegenheit. Bei der Untersuchung
48 II. Das Erschöiifungsirresein.
pflegt der Bewegungsapparat keinerlei wesentliche Störungen aufzu-
weisen; nur lebliaftes Zittern der Lider bei kräftigem Augensehluss
sowie starke fibrilläre Zuckungen in der Zunge sieht mau sehr häufig.
Weiterhin können sich allerlei schmerzhafte und unangenehme Em-
pfindungen mannigfachsten Inhalts und Sitzes einstellen. Längs der
Wirbelsäule werden rieselnde, schauernde, ziehende Paraesthesien
wahrgenommen; in den Beinen, den Hoden, den Armen stellen sieh
ausstrahlende oder zuckende Schmerzen, das Gefühl von Unrulie,
Brennen, Jucken, Ameisenkriechen, Pelzigwerden, Yertauben ein.
Objectiv sind Empfindungsstörungen nicht nachzuweisen; die Reflexe
erscheinen oft erhöht.
Seitens der Kreislaufsorgane sind es namentlich das Herz-
klopfen, bisweilen auch noch andersartige, nagende oder brennende
Empfindungen am Herzen, welche den Kranken ängstigen. Nicht
selten macht sich ihm auch das Gefühl des Klopfens und Pulsirens
im Kopfe und in anderen Theilen des Körpers, fliegende Hitze,
leichtes Erröthen, abnorme Trockenheit der Haut oder übermässige
Schweissabsonderung unangenehm bemerkbar. Die Zahl der Pulse
zeigt grosse Schwankungen, auch wol leichte Unregelmässigkeiten,
wird durch Arbeit und Gemüthsbeweguugen stark beeinflusst.
Auf dem Gebiete der Geschlechtsfunctionen wird erhöhte Erregbar-
keit, Neigung zu häufigen Pollutionen oder psychisch bedingte Im-
potenz beobachtet. Der Appetit ist meist gering, der Leib aufge-
trieben, die Zunge belegt, der Stuhlgang träge und nur durch Nach-
hülfe zu erreichen; seltener besteht Neigung zu plötzlichen Durch-
fällen. Bei leerem Magen stellen sich peinliche, nagende Empfindungen
ein, die durch Essen sich rasch beseitigen lassen (Heisshunger). Dei"
Schlaf ist fast immer schlecht; die Kranken liegen sehr lange wach,
bevor sie einschlafen, oder wachen unter plötzlichem Zusammen-
schrecken bald wieder auf. Sie träumen viel und lebhaft und sind
am Morgen nicht erquickt, sondern unsäglich müde und abgespannt.
Erst im Laufe des Tages pflegt sich dann wenigstens ein Theil ihrer
früheren Regsamkeit wiederherzustellen. In anderen Fällen besteht
dauernd eine unüberwindliche Schläfrigkeit, die den Kranken lioi
der geringsten Anstrengung, selbst in grosser Gesellschaft, im Th(^ater
zum Einschlafen bringt.
Regelmässig stellt sich im Anschlüsse an die geschildei'ten,
mehr oder weniger entwickelten Störungen ein ausgeprägtes Krank-
Chronische nervöse Erschöpfung. 49
heitsgefühl ein. Der Kranke empfindet die Veränderung, welche
sich mit ihm vollzogen hat, und wenn er auch, namentlich in Augen-
blicken missmuthiger Erregung, alle möglichen äusseren Umstände
dafür verantwortlich macht, so ist er doch darüber vollständig klar,
dass sein Zustand als ein ungesunder betrachtet werden müsse.
Leicht bemächtigt sich seiner die bange Befürchtung, dass er im
Beginne eines schweren, verhängnissvollen Leidens stehe, und dem
befangenen Blicke bieten sich auch Anhaltspunkte genug zur Be-
gründung dieser Anschauung dar. Auf diese Weise entwickelt sich
sehr häufig jene Störung, die man früher als leichteste Form psy-
chischer Erkrankung mit dem Namen der Hypochondrie be-
zeichnete, während man sie jetzt als eine Theilerscheinung des
neurasthenischen Irreseins kennen gelernt hat. Je nach dem
Bildungsgange und den Anschauungen des Kranken gestalten sich
natürlich die hypochondrischen Vorstellungen verschieden. Meist
ist es dasjenige Leiden, welches dem Kranken am geläufigsten ist
und am schrecklichsten vorschwebt, dessen Zeichen er an sich zu
entdecken glaubt. Ein chronischer Rachenkatarrh mit starkem
Auswurf erscheint ihm als die beginnende Schwindsucht; einzelne
Akneknötchen lassen ihn den Ausbruch der Syphilis befürchten, der
Bodensatz im Nachtgeschirr eine schwere Nierenerkrankung, das
Herzklopfen beim Treppensteigen und das Pulsiren einen Herzfehler.
Die Vergesslichkeit bedeutet dem Mediciuer das Herannahen der
Paralyse, der Kopf druck den Hirntumor, die Paraesthesien in den
Beinen die Tabes.
In der Regel werden diese Befürchtungen, anfangs wenigstens,
von dem Kranken als unsinnig zurückgewiesen, aber gerade hier,
wo es sich um das eigene Wohl und Wehe handelt, geht am
leichtesten der kritische Widerstand gegenüber der Krankheit ver-
loren. Die hypochondrischen Vorstellungen können daher unter
Umständen den Kranken in eine so hofiuungslose, verzweiflungsvolle
Stimmung versetzen, dass er sein Testament macht, sein Lebensglück
für unwiederbringlich verloren hält, vielleicht sogar sich mit Selbst-
mordgedanken trägt.
Die Entwicklung der nervösen Erschöpfung ist in der Regel
eine allmähliche, doch scheint es auch vorzukommen, dass im An-
schlüsse an rasch eintretende und heftig wirkende Schädlichkeiten
(Gemüthsbewegungen, acute Krankheiten, besonders Influenza) die
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anli. H. Baua. 4
50 n. Das Erschöpfungsirresein.
ganzen Erscheinungen sich ziemlich plötzlich einstellen. Dabei ist
allerdings die Frage offen, ob wir derartige Zustände mit der hier
besprochenen Erkrankung zusammenwerfen dürfen. Für die nach
Schreck beobachteten Fälle glaube ich die Frage ohne weiteres ver-
neinen zu müssen. Aber auch die bekannte nervöse Schwäche in
der Genesung nach schweren Krankheiten ist wol nur zum Theile
auf einfache Erschöpfung zurückzuführen. Im Wochenbette, nach
Blutungen, Operationen kann man sich damit zufrieden geben; bei
allen lufectionskrankheiten dagegen werden wir immer mit der Mög-
lichkeit von Giftwirkungen und -nachwirkungen zu rechnen haben.
Die „Neurasthenie" im Gefolge chronischer Vergiftungen hat mit der
nervösen Erschöpfung nur eine ganz äusserliche Aehnlichkeit.
Der Y erlauf der Krankheit vollzieht sich fast immer in viel-
fachen Schwankungen. Abgesehen von den häufigen Besserungen
gegen Abend, können sich die Kranken bei besonderem äusserem An-
lasse gewöhnlich soweit „zusammennehmen", dass die Erscheinungen
vorübergehend in den Hintergrund treten, um allerdings mit dem
Nachlasse der Anspannung gewöhnlich in um so grösserer Heftig-
keit zurückzukehren. "Wir sehen in diesen Erfahrungen nur Er-
weiterungen der Thatsachen, die uns der psychologische Versuch
über die Wirkung der Anregung und gemüthhcher Schwankungen
auf die Beseitigung der Müdigkeit liefert.
Die leichtesten Formen der nervösen Erschöpfung sind überaus
häufige Erkrankungen. Trotzdem wurde eine eingehendere Kennt-
niss des ganzen Krankheitsbildes erst durch Beard*) im Jahre 1880
vermittelt, welcher in dem rastlosen Treiben des amerikanischen
Lebens ganz besonders häufig Gelegenheit hatte, die Krankheit zu
beobachten. Ohne Zweifel liegen wesentliche Entstehungsbedingungen
des Leidens in einer üeberanstrengung des Gehirns. Namentlich
scheint es die mit lebhafter gemüthlicher Erregung, mit grosser Ver-
*) Die Nervenschwäche, ihre Symptome, Natur, Folgezustände und BehauJ-
lung, deutsch von Neisser, 2. Aufl. 1883; v. Ziemssen, Klinische Vorträge IV, 'J.
1888; Bouveret, Die Neurasthenie, deutsch von Dornblüth 1893; F.C.Müller,
Handbuch der Neurasthenie. 1893; Löwenfeld, Pathologie und Therapie der
Neurasthenie und Hysterie. 1893; Möbius, Neurologische Beiträge, II, S. 62. 1894;
Levillain, Essais de neurologie cliuique, Neurasthenie de Beard et etata neur-
asthenifornus. 1890. Vergl. auch deu späteren Abschnitt über das Kntartungs-
irresein.
Cliroiiisclie nervöse Ersch(>pfnng. 51
antwortung verbundene Thätigkeit zu sein, welche das Zustande-
kommen der chronischen Erschöpfung in besonderem Maasse be-
günstigt. Der stille Gelehrte ist ihr in weit geringerem Grade aus-
gesetzt, als der Kaufmann, der Offizier im Kriege, der Politiker, der
beschäftigte Arzt. Es liegt daher in der Natur der Sache, dass vor-
zugsweise die begabteren, lebhafteren und gebildeteren Menschen den
Gefahren der Neurasthenie zugänglich sind. Vielleicht ist dabei der
Umstand nicht ohne Bedeutung, dass anscheinend grosse üebungs-
fähigkeit sich häufig mit grosser Ermüdbarkeit verbindet. Frauen
mit ihrer grösseren gemüthlichen Erregbarkeit und geringeren Wider-
standsfähigkeit sind etwas stärker gefährdet, als das männliche Ge-
schlecht, namentlich überlastete Mütter, Lehrerinnen, Kranken-
pflegerinnen. Andererseits können unzweifelhaft auch regelmässige
körperliche Ueberanstrongimgen, wie sie im Kriege, in Manövern,
aber auch bei übertriebenen Leibesübungen (Bergsteigen, Rudern,
Radfahren) vorkommen, das Bild der nervösen Erschöpfung erzeugen.
Weiterhin ist natürlich die allgemeine Lebensweise und die Er-
nährung von grosser Bedeutung. Ein überlastetes, unregelmässiges
und ausschweifendes Ijoben ohne die ausreichende Erholung durch
Ruhe und Schlaf führt auch bei weit geringeren Leistungen viel
rascher zur Neurasthenie, als der geregeltere Tageslauf etwa des Be-
amten und Lehrers.
Auf der anderen Seite ist es unzweifelhaft, dass die Erschöpfung
natürlich um so leichter eintritt, je geringer die ursprüngliche
Widerstandsfähigkeit des Einzelnen ist. Von jenen beneidenswerthen
Naturen, deren Nervensystem mit staunenswerther Geschwindigkeit
und Spannkraft alle Schädigungen sofort wieder ausgleicht, die ihm
durch die unermüdliche Lebensarbeit zugefügt werden, führt eine
stetige Reihe von Uebergängen hinüber zu solchen, die sich den
Anforderungen des Lebens schon nach sehr kurzer Zeit nicht
mehr gewachsen fühlen, deren Arbeitskraft schon bei massigen
Leistungen sich rasch und vollständig erschöpft, und denen daher
jede ernstere Anstrengung von vornherein durch neurasthenischo
Nachwehen verbittert wird. Je entscheidender indessen bei dem
Zustandekommen der Erschöpfung die persönliche Anlage mitgewirkt
hat, desto mehr mischen sich in das Krankheitsbild die Züge des
Entart ungsirroseius, dessen wir späterhin eingehender zu gedenken
haben werden.
4*
52 II, Das Erschöpfungsirresein.
Dass die eigentliche Grundlage der hier besprochenen Erkrankung
eine Erschöpfung bildet, ist wol am folgerichtigsten von Möbius
ausgeführt worden. Er denkt geradezu an eine Art chronischer
Yergiftung durch Ermüdungsstoffe, entsprechend etwa der sich
häufenden Wirkung regelmässigen Alkoholmissbrauches. Demgemäss
sucht er auch die einzelnen Krankheitszeichen in der gesunden Er-
müdung wiederzufinden. Ich halte diese Auffassung für recht frucht-
bar, da sie uns den "Weg weist, der aus der jetzigen Unklarheit in
der Lehre von der Neurasthenie herausführt. Gerade darum aber
erscheint mir eine Abtrennung derjenigen Krankheitsbilder, die sich
aus der einfachen Häufung von Ermüdungswirkungen begreifen
lassen, von jenen angezeigt, bei denen die krankhafte Veranlagung,
die angeborene Herabsetzung der nervösen Widerstandsfähigkeit
die wesentlichste Rolle spielt. Das hier abgegrenzte Bild der er-
worbenen Neurasthenie enthält, wie ich glaube, in der That nur
Störungen, welche sich durch den Yersucli überall würden wieder
erzeugen lassen; freilich bin ich heute nicht im Stande, den genauen
Beweis dafür zu erbringen. Auch für die hypochondrischen Vor-
stellungen, die Möbius ausnimmt, halte ich einstweilen an der
Entstehung aus der Erschöpfung fest. Sie wachsen, wie mir scheint,
aus der Verstimmung hervor^ die sich auch des kräftig veranlagten
Mannes bemächtigt, wenn er abgearbeitet und gehetzt die Abnahme
der Leistungsfähigkeit in der wachsenden Erschwerung seiner Arbeit
empfindet.
Die Prognose der einfachen nervösen Erschöpfung ist als
günstig zu bezeichnen, sofern es gelingt, die Ursachen derselben zu
beseitigen. Die Genesung wird eine um so vollkommenere sein, je
widerstandsfähiger der Kranke vorher war, und je mehr es gelingt,
etwa in seiner Lebensführung liegende Schädlichkeiten zu beseitigen.
Vor allem sind natürlich beide Gesichtspunkte massgebend für die
grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit des Rückfalls; die im
Augenblicke vorhandenen Störungen wird man bei ausreichender
Zeit und sonst günstigen Verhältnissen regelmässig zu beseitigen im
Stande sein.
Die Abgrenzung der nervösen Erschöpfung von manchen
anderen Krankheitsformen ist in prognostischer und therapeutischer
Beziehung von hervorragender Wichtigkeit. Zunäciist kommt man
häufig in die Lage, sich darüber Gewissheit verschaffen zu müssen,
Chronische nervöse Erschöpfung. 53
dass die hypochondrischen Befürchtungen des Kranken nicht wirk-
lich begründet sind. Namentlich kann es ernste Schwierigkeiten
bereiten, hinsichtlich der Gefahr einer beginnenden Paralyse ein
endgültiges Urtheil zu gewinnen. Die grössere Besonnenheit der
Kranken, die klare Auffassung aller Krankheitszeichen, der Mangel
einer greifbaren Gedächtnissstörung trotz ihrer Klagen darüber, das
Fehlen nachweisbarer nervöser Störungen (Pupillenstarre, Sprach-
störung, Analgesie, Anfälle) wird den Arzt über die neurasthenische
Fatur des vielleicht sehr verdächtigen Krankheitsbildes aufklären.
Vor allem aber wird er das Lebensalter des Kranken und die Ent-
stehungsgeschichte des Leidens zu beachten haben. Erscheinungen
von „Nervosität", die ohne bestimmt greifbaren Anlass bei einem
nicht krankhaft veranlagten Manne erstmals in mittleren Jahren auf-
treten, sind fast immer die Einleitung der Paralyse.
Sehr häufig wird auch das depressive Vorstadium anderer
Psychosen mit neurasthenischen Zuständen verwechselt. Indessen
der Erschöpfte ist verstimmt und reizbar, weil er merkt, dass seine
geistige Leistungsfähigkeit gestört ist; seine Stimmung wird freier
und leichter, sobald eine äussere Anregung, eine fröhliche Gesell-
schaft ihn vorübergehend seine Beschwerde vergessen macht, oder
sobald er, von allen Sorgen und Pflichten seines Berufes entlastet,
rückhaltlos Kühe und Erholung geniessen kann. Dort aber entsteht
das Gefühl der Beängstigung der Schwere ohne irgend welche klare
Begründung, und es wird durch Zerstreuungs- und Ablenkungs-
versuche nicht nur nicht gemildert, sondern im Gegentheil oft genug
bis zum Unerträglichen gesteigert. Die Verstandesabnahme und
Verstimmung im Beginne der Dementia praecox ist gegenüber der
nervösen Erschöpfung namentlich durch die gemüthliche Stumpfheit
der Kranken, ihre Gleichgültigkeit im Hinblicke auf die Zukunft,
zuweilen auch durch die Unsinnigkeit der hypochondrischen Klagen
und die Unbelehrbarkeit gekennzeichnet.
Die Behandlung der nervösen Erschöpfung bietet der Thätig-
keit des Arztes ein sehr ausgedehntes und ergiebiges Arbeitsfeld.
Zunächst vermag gerade hier die Vorbeugung ausserordentlich
viel zu leisten. Man hat, nicht ganz mit Unrecht, die Nervosität
als die Krankheit unserer Zeit bezeichnet. In der That liegen in
der raschen Steigerung der Anforderungen, die der hastige Fort-
schritt unserer Culturentwicklung an die geistige, sittliche und körper-
54 n. Das Erschöpfungsirresein.
liehe Leistungsfähigkeit des Einzelnen stellt, wichtige Ursachen ner-
vöser Ueberreizung. Da wir diese allgemeinen Ursachen nicht be-
seitigen können, so Avird es unsere Aufgabe sein müssen, das
kommende Geschlecht widerstandsfähig und tüchtig zu machen und
für den Kampf ums Dasein gehörig auszurüsten. Alle jene früher
geschilderten Bestrebungen, welche darauf hinausgehen, die geistige
Ueberbürdung der heranwachsenden Jugend mit todtem Gedächtniss-
kram zu bekämpfen und der Sorge für die gelehrte Erziehung die-
jenige für die körperliche Ausbildung zur Seite zu setzen, dienen
diesem Zwecke in hervorragendem Maasse. Weiterhin ist auf Fern-
haltung der Jugend von anstrengenden und aufregenden Vergnügungen,
vom Alkoholgenusse, auf Vermeidung von Ausschweifungen, Ein-
haltung einfacher Lebensgewohnheiten ohne Verwöhnung und ohne
Verzärtelung zu achten.
Ganz besondere Aufmerksamkeit aber erfordert die ausreichende
Befi'iedigung des Schlafbedürfnisses. Es kann nicht oft genug
wiederholt werden, dass in diesem Punkte sehr bedeutende und
tief begründete Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Menschen
bestehen, die nicht ohne schweren Schaden vernachlässigt werden
dürfen. Gerade in dieser Beziehung wirken so manche unserer so-
genannten Erholungen schädlich, indem sie spätes Aufbleiben und
abendliche geistige Anregung mit sich bringen. Für angestrengt
arbeitende oder sehr erregbare Menschen sind späte Theater- und
Musikaufführungen, Geselligkeit mit Magenüberladung und reich-
lichem Alkoholgenusse recht sichere Mittel, den so nothwendigen
Schlaf empfindlich zu stören. Müdigkeit und Abgespanntheit am
Morgen ist ein Zeichen ungenügenden Schlafes; sie soll daher nicht
durch Gewaltmassregeln, sondern durch frühes Schlafengehen und
durch sorgfältige Beseitigung aller Ursachen bekämpft werden,
welche die Schlaftiefe verringern. Weiterhin aber wird der Haus-
arzt Gelegenheit genug haben, durch eine gesundheitsgemässe
Regelung der Lebensweise den Gefahren der Ueberanstrengung vor-
zubeugen und namentlich bei den ersten Anzeichen eintretender
Erschöpfung sofort einzugreifen, weil dann in der Regel leicht ein
Erfolg zu erreichen ist, der später nur mit bedeutenden Opfern an
Zeit und Geld erkauft werden kann. Die erste Aufgabe, welche
hier erfüllt werden müsste und doch nur allzuselten in ausreichen-
dem Maasse] erfüllt werden kann, ist die Beseitigung aller jener
Chronische nervöse Erschöpfung. 55
schädigenden Einflüsse, welche die Krankheit erzeugten. Regelung
der Lebensweise nach den verschiedensten Richtungen hin, sodann
Entfernung aus der Berufsarbeit, womöglich auch aus den gevvohnten
Yerhältnissen, Versetzung in eine andere, ruhige und anziehende
Umgebung wird die wichtigste Vorbedingung einer jeden Behand-
lung bilden müssen. Für leichtere Formen genügt oft schon eine
einfache Sommerfrische, ein Landaufenthalt oder eine behagliche,
keinesfalls ermüdende Reise ins Gebirge oder an die See, um
ein Ausruhen des überreizten Nervensystems und damit das rasche
Schwinden aller der vielfachen körperlichen und psychischen Be-
schwerden herbeizuführen.
Bei längerer Dauer und stärkerer Ausbildung der Störungen
pflegt die Durchführung einer vorzugsweise diätetischen Cur unter
ärztlicher Aufsicht vorzügliche Dienste zu leisten. Allen den zahl-
reichen Nerven- und Wasserheilanstalten strömen immerwährend
in Schaaren derartige Kranke zu. Ausser der Befreiung von den
Geschäften und Plackereien des täglichen Berufes rauss hier vor
allem eine einfache, sorgfältig geregelte und gesundheitsgemässe
Lebensweise mit angemessener Vertheilung von Thätigkeit, Ruhe
und Schlaf durchgeführt werden. Die Kranken sollen kräftig und
reichlich^ aber ohne Schlemmerei ernährt werden; der gewohnheits-
mässige Genuss von Alkohol, starkem Kaffee oder Thee fällt fort.
Störungen des Appetits, der Verdauung, des Schlafes werden mit den
gebräuchlichen Mitteln, namentlich aber durch regelmässige, nicht
bis zur Ermüdung ausgedehnte Spaziergänge sowie durch ärztlich
überwachte Leibesübungen verschiedener Art bekämpft. Ferner sucht
mau durch Wasserbehandlung, durch Gymnastik, Massage und all-
gemeine Faradisation den Kreislauf und den Stoffumsatz soviel wie
möglich zu fördern. Unter dem Einflüsse aller dieser Massregeln
pflegt sich die öfters stark gesunkene Ernährung stetig und beträcht-
lich zu heben. Gleichzeitig bessert sich der Schlaf, die Stimmung
und die Beschäftigungsfähigkeit. Als Arzneimittel zur Bekämpfung
der nervösen Unruhe und zur Erzielung von Schlaf sind mit gutem
Rechte die Bromsalze (3 mal täglich 1—2 gr oder eine abendliche
Gabe von 2 — 5 gr) in Gebrauch; nur im Nothfalle wird man vor-
übergehend seine Zuflucht zu den eigentlichen Schlafmitteln nehmen.
Man hüte sich vor dem Morphium !
Eine recht wesentliche Bedeutung hat bei neurasthenischen Zu-
56 II. Das Erschöpfungsirresein.
ständen fast immer die psychische Behandlung. Vielfach kann ein
vorsichtiges Suggestivverfahren den Eintritt gemiithlicher Be-
ruhigung, die Wiederkehr des Schlafes und die Beseitigung mancher
quälender Beschwerden überraschend schnell herbeiführen. Ausser-
dem aber trägt eine aufmerksame, geduldige, aber feste ärztliche
Führung sehr viel dazu bei, dass der Kranke nach und nach sein
stark erschüttertes Selbstvertrauen und die Herrschaft über seinen
Willen wiedergewinnt. Nach dem Verschwinden der eigentlichen
Krankheitszeichen bleibt häufig noch eine Herabsetzung der psychi-
schen Widerstandsfähigkeit bei dem Kranken zurück, welche leicht
zu Rückfällen führt, wenn nicht die Berufsverhältnisse und die
Lebensweise dauernd derart geregelt werden, dass sie sich der
persönlichen Eigenart in geeigneter Weise anpassen. Wer die
Folgen der täglichen Arbeit in einer fortschreitenden Abstumpfung
seiner Leistungsfähigkeit empfindet, sollte daher unbedingt wenigstens
einmal im Jahre für einige Wochen aus dem Joche der gewohnten
Verhältnisse sich herausreissen; nur dann ist er einigermassen
sicher, im Kampfe mit dem Leben nicht immer und immer wieder
zu erliegen.
III. Die Vergiftungen.
Obgleich wir in gewissem Sinne auch die Infectionen und viel-
leicht sogar die Erschöpfung als Yergiftungen ansehen können, möchte
ich denselben doch als Vergiftungen im engeren Sinne diejenigen
Schädigungen gegenüberstellen, die durch die Einführung be-
stimmter wirksamer Stoffe in unseren Körper zu Stande kommen.
Sie verhalten sich nach den verschiedensten Richtungen hin wesent-
lich anders, als jene Geistesstörungen, deren giftige Ursache erst im
Körper selbst durch krankhafte Zersetzungen oder die Lebensvorgänge
von Krankheitserregern erzeugt wird. Es wird sich ferner empfehlen,
acute und chronische Vergiftungen auseinanderzuhalten, je nach-
dem die Einfuhr des Giftes nur vorübergehend oder längere Zeit
hindurch erfolgt; freilich werden wir dabei aus praktischen Gründen
die acuten Wirkungen derjenigen Gifte, die häufig gewohnheits-
mässig eingeführt werden, gemeinsam mit den durch sie erzeugten
chronischen Veränderungen besprechen.
1. Die acuten Vergiftungen.
Die acuten Vergiftungen haben im allgemeinen wegen ihres
raschen Ablaufes nur eine geringe psychiatrische Bedeutung;
zudem sind die meisten derselben verhältnissmässig recht selten.
Dagegen ist die wissenschaftliche Tragweite dieser Störungen eine
sehr grosse, weil bei ihnen die ursächliche Abhängigkeit ganz be-
stimmter psychischer Veränderungen von eindeutigen chemischen
Einwirkungen auf die Hirnrinde klar vor Augen liegt. Dazu kommt,
dass wir diesen Zusammenhang durch den Thierversuch einerseits,
durch die feinere psychologische Untersuchung beim Menschen
andererseits genauer verfolgen können, als auf irgend einem anderen
58 in. Die Vergiftungen.
Gebiete psychischer Erkrankungen. Wir dürfen daher erwarten, dass
gerade die acuten Yergiftungen uns einmal so manche Anhalts-
punkte für ein tiefer dringendes Verständniss des Vorganges der
geistigen Störung zu liefern im Stande sein werden.
Für jetzt wissen wir allerdings über die grosse Mehrzahl der
acuten psychischen Giftwirkungen kaum mehr, als dass es sich hier
in der Regel um deliriöse Zustände handelt. Im allgemeinen pflegen
ausgeprägtere Trugwahrnehmungen auf den verschiedensten Sinnes-
gebieten, traumhafte, bunt wechselnde Einbildungen, vielfach mit leb-
liaften Lustgefühlen und Yerzückungszuständen, meist ohne stärkere
motorische Erregung, die Grundzüge der Krankheitsbilder zu hefern.
Eine genauere Durchforschung derselben ist bisher fast nur für die
gewohnheitsmässig gebrauchten Mittel, Alkohol, Morphium und Cocain,
begonnen worden. Die einfache Beobachtung und Selbstbeobachtung
hat sich aber gegenüber diesen Zuständen als so trügerisch erwiesen,
dass wir von ihr irgend zuverlässige Aufschlüsse über die feineren
Unterschiede der einzelnen Yergiftungsdelirien schlechterdings nicht
erwarten können.
Wir werden uns daher darauf beschränken müssen, in wenigen
Worten hier der hauptsächlichsten Formen zu gedenken. Zunächst wären
die Delirien bei Yergiftung durch gewisse krankhafte Stoff wechsel-
erzeuguisse zu erwähnen, deren bereits im allgemeinen Theile
kurz gedacht worden ist. Dahin gehören die mit Sinnestäuschungen
verbundenen Erregungszustände bei Tetanie, Morbus Basedowii, bei
Chorea*), die schwere Unbesinnlichkeit bei Urämie, vielleicht auch
die Delirien beim Phosphorikterus und so manche andere, noch un-
aufgeklärte Störung.
Unter den übrigen Giften erzeugt das Chloroform nament-
lich eine eigenthümliche Unbesinnlichkeit mit einzelnen Gehörs-
täuschungen, das Santonin Gesichtshallucinationen und das „Gelb-
sehen". Das Haschisch delirium**) dagegen scheint ganz besonders
gewisse Störungen des Muskel- und Tastsinnes herbeizuführen, wie sie
sich in den illusionären Veränderungen der äusseren und der Ab-
messungen des eigenen Körpers psychologisch widerspiegeln. Ausser-
dem entrückt der Opium- und der Haschischrausch den Kranken
*) Möbius, Neurologische Beitrüge, II, 123. 1894.
**) Warnock, Journal of mental scienee, XLll, 790.
Chronische Vergiftung-en. 59
einer wirklichen Umgebung, gaukelt ihm angenehme, traumartige
Bilder und Erlebnisse vor und versetzt ihn in heitere, selbstzufriedene
Stimmung. Die Stickstoffoxydulnarkose scheint demselben, ab-
gesehen von der viel kürzeren Dauer, hinsichtlich der Färbung des
Deliriums ähnlich zu sein; sie hat eine gewisse praktische Wichtig-
keit erlangt wegen der bei ihr beobachteten Häufigkeit und Deut-
lichkeit geschlechtlicher Hallucinationen, welche schon mehrfach zu
falscher Anschuldigung der narkotisirenden Zahnärzte geführt hat.
Die Atropinvergiftung scheint neben einer sehr schweren Auf-
fassungsstörung mit vereinzelten Sinnestäuschungen auch eine tief-
greifende Beeinträchtigung des Denkens (Verwirrtheit), heitere Ver-
stimmung und lebhafte motorische Unruhe zu erzeugen; nach kurzer
Dauer erfolgt der Tod oder rasche Aufhellung des Bewusstseins ohne
Erinnerung an das Vorgefallene. Auf eine eingehendere Schilderung
aller dieser und so vieler ähnlicher deliriöser Zustände sowie ihrer
körperlichen Begleiterscheinungen kann hier natürlich nicht ein-
gegangen werden.
Die Dauer solcher Vergif tun gsdelirien ist regelmässig eine kurze,
selten einige Stunden oder höchstens Tage überschreitende; die
Prognose richtet sich ganz nach der Schwere der Vergiftung über-
haupt. Die Diagnose Avird zumeist aus den begleitenden Umständen
wie aus den körperlichen Zeichen gestellt werden müssen; die Be-
handlung ist eine einfach ursächliche nach den von der Toxikologie
vorgeschriebenen Grundsätzen.
2. Die chronischen Vergiftungen.
Die Zahl derjenigen Gifte, welche bei dauernder Einwirkung
auf den Körper Störungen des Nervensystems und ins-
besondere auch des Seelenlebens herbeizuführen vermögen, ist
eine sehr grosse. Hervorragende praktische Bedeutung haben in-
dessen nur diejenigen unter ihnen erlangt, w^elche als Genussmittel,
zur Erzeugung von Wohlbehagen, in Anwendung gezogen werden,
da nur bei ihnen in der Wirkung des Mittels selbst die Anreizung
zu häufiger Herbeiführung derselben gelegen ist. Vor allem aber
sind es jene Gifte, deren Aussetzen unangenehme Störungen im
Organismus, sog. „Abstinenzerscheinungen", hervorruft, welche eine
60 in. Die Vergiftungen.
mit jeder Wiederholung sich steigernde und schliesslich zur un-
bezwinglichen Leidenschaft werdende Neigung erzeugen, immer von
neuem den verderhlichen Reiz einwirken zu lassen, der für don
behaglichen Ablauf der Lebensvorgänge bereits unentbehrlich ge-
worden ist. Wie die anthropologische Forschung lehrt, giebt es
kaum ein einziges Volk, welches nicht durch irgend ein derartiges,
gewohnheitsmässig angewandtes Genussmittel sich über die kleinen
Sorgen und Mühen des Daseins hinwegzutäuschen verstände, und
die Mannigfaltigkeit dieser giftigen Quellen des Wohlbehagens ist
daher eine merkwürdig reiche. Für die psychiatrische Erfahrung in
unserer Heimath kommen indessen naturgemäss nur einige wenige
derartige Mittel in Betracht, von denen sich als die bei weitem
Avichtigsten der Alkohol, das Morphium und das Cocain heraus-
heben lassen.
A. Der Alkoholismus *).
Die Einwirkung, welche die acute Alkoholvergiftung, der Rausch,
auf unser Seelenleben ausübt, besteht, soweit bis jetzt bekannt ist,
wesentlich in einer dauernden Erschwerung der Auffassung und
Verarbeitung äusserer Eindrücke sowie in einer centralen Er-
leichterung der Auslösung von Willensantrieben. Die Wahrnehmung
und Erkennung von Sinnesreizen ist verlangsamt und erschwert,
ihre Zuverlässigkeit herabgesetzt; die fortlaufende Lösung einfacher
Rechenaufgaben lässt ein deutliches Sinken der Leistungsfähigkeit
erkennen. Auf sprachlichem Gebiete kommt es zu den ersten An-
deutungen der Ideenflucht, zu einem sehr auffallenden Ueberwiegen
derjenigen Vorstellungsverbindungen, Avelche durch die motorischen
Bestandtheile unserer Sprachvorstelluugen vermittelt Averden, der
Wortzusammensetzungen, sprachlichen Reminiscenzen und Reime.
Die Auslösung von Bewegungsantrieben ist dauernd erheblich er-
leichtert; so geht das rein mechanische Auswendiglernen besser von
statten. Die Wahl zwischen zwei Bewegungen wird überstürzt.
*) Magnus Huss, Chronische Alkoholkrauklieit oder Alkohnlismiis chronicus,
deutsch von V. (1. Hu soll. 18.Ö2; Maguan, de ralcoholismc. IST-i; v. Speyr, Die
nlkoholischen Geisteskrankheiten, Diss. 1882.
Alkoholismus. 61
hiiufig falsch und zuweilen bereits ausgeführt, bevor noch das mass-
gebende Zeichen die Richtung der Bewegung bestimmen konnte.
Im weiteren Yerlaufe und bei stärkeren Gaben des Giftes ergreift
die Lähmung allmählich auch die psychomotorischen Leistungen.
Je grösser die Alkoholgabe und je grösser die persönliche Empfind-
lichkeit gegen das Gift, desto rascher und stärker macht sich die
lähmende Wirkung geltend, bis sie schliesslich schon von Anfang
an, wenige Minuten nach dem Genüsse des Alkohols, deutlich in
den Vordergrund tritt. Die Muskelkraft wird durch den Alkohol
nur ganz kurze Zeit und in sehr unbedeutendem Maasse gesteigert,
darauf aber andauernd und erheblich herabgesetzt.
Alle diese zunächst durch den Versuch gefundenen und ge-
nauer zergliederten Einzelheiten finden wir ohne weiteres in dem
aus der täglichen Erfahrung bekannten Bilde des Rausches wieder.
Schon sehr kleine Mengen Alkohol beeinträchtigen, wie alle guten
Beobachter übereinstimmend angeben, deutlich die Fähigkeit zu
höherer geistiger Arbeit. Wir vermögen unsere Gedanken nicht mehr
so gut zu sammeln, längeren, verwickeiteren Auseinandersetzungen
nur ungenügend zu folgen. Bei stärkerer Vergiftung fällt die Er-
schwerung der Auffassung und der Verstandesthätigkeit immer mehr
ins Auge. Der Betrunkene versteht nicht mehr recht, was man ihm
sagt und was um ihn herum vorgeht, vermag nicht zuzuhören, auf-
zupassen, irgend einen Gedankengang festzuhalten. Er verliert jedes
Urtheil über seine eigenen und fremde Verstandesleistungen, jeden
Ueberblick über die Bedeutung und Tragweite seiner Handlungen.
Gleichzeitig stellen sich gewisse inhaltliche Störungen im Ablaufe
der Vorstellungsverbindungen ein. Einerseits fällt die Neigung zur
Wiederholung derselben Wendungen, gewohnheitsmässiger Redens-
arten auf, andererseits die Freude an öden Reimereien, die an den
Haaren herbeigezogenen Wortwitze, das Sprechen im Jargon, das
Radebrechen in fremden Sprachen. Zum Schlüsse geht die Fähig-
keit zur Auffassung und geistigen Verarbeitung immer mehr ver-
loren; der Berauschte wird unempfindlich und unbesinnlich bis zur
vollständigen Bewusstlosigkeit. Die Erinnerung pflegt nach dem
Verfliegen des Rausches auch für diejenigen Zeitabschnitte nur sehr
mangelhaft zu sein, in denen der psychische Zusammenhang im
Sprechen und Handeln noch bis zu einem gewissen Grade er-
halten war.
62 III. Die Vergiftungen.
Mit den Störungen der Verstandesleistungen hält die Entwick-
lung der psychomotorischen Reizerseheinungen gleichen
Schritt. Sie beginnt mit jener leichten „Angeregtheit", wie wir sie
schon bei kleinen Alkoholgaben empfinden, mit dem Wegfall der
feinen Hemmungen, die im täglichen Leben unser Handeln und
Benehmen jederzeit auf das genaueste regeln. Wir werden unbe-
kümmerter, lebhafter, muthiger, fühlen uns sorgloser, ungebundener,
sprechen und handeln freimüthiger, aber auch rücksichtsloser. Wegen
der Erleichterung der motorischen Auslösung erscheint uns unsere
Kraft und Leistungsfähigkeit erhöht, im Gegensatze zu deren mess-
barer Herabsetzung. Daher die leider weit verbreitete, vollkommen
unrichtige Anschauung, dass der Alkohol „stärke^'. Bei fortschreiten-
der Berauschung nimmt die motorische Erregbarkeit zunächst noch
zu. Die Ausdrucksbewegungen werden massloser; der Betrunkene
fängt an, sich auffallend zu benehmen, überlaut zu sprechen, Reden
zu halten, zu grölen, zu lärmen, auf den Tisch zu schlagen. Ein
Wort, ein Einfall genügt, um irgend eine unsinnige Reaction hervor-
zurufen, und es kommt auf diese Weise zu allerlei triebartigen,
unüberlegten, ja verbrecherischen Handlungen, über deren Ent-
stehungsweise der Thäter sich selbst nachträglich kaum oder gar
nicht Rechenschaft zu geben vermag. Das Ende bilden schwere Be-
wegungsstörungen, lallende Sprache, schwankender Gang, vollständige
Lähmung.
Auf gemüthlichem Gebiete entspricht dem ersten Abschnitte
des Rausches ein entschiedenes Wohlbehagen, heitere, rosige
Stimmung, Zurücktreten der Sorgen und Verdriesslichkeiten des
Alltagslebens. Wir werden leichtlebiger, zugänglicher, liebens-
würdiger. Sehr bald indessen steigert sich die Reizbarkeit. Es
kommt nun leicht zu stärkeren AfFectschwankungen, zu tactlosor
üeberschwänglichkeit oder zu Zornausbrüchen und leidenschaftlichen
Aufwallungen mit heftigen Ausschreitungen. Die höheren sittlichen
Gefühle treten zurück; der Betrunkene wird roh, gemein, schamlos
die wachsende geschlechtliche Erregbarkeit führt ihn zu wüsten Aus-
schweifungen,
Der allgemeine Verlauf des Rausches wird in sehr verschiedener
Weise beeinflusst durch die persönliche Eigenart. Bei grosser
Ermüdbarkeit stellt sich die Lähmung auch auf motorischem Gebiete
verhältnissmässig früh und oime ausgeprägtere Reizerscheinungen ein-
Alkoholisinus. ßß
Andererseits können bei Personen mit stärkerer gemüthlicher Er-
regbarkeit gerade jene letzteren in den Vordergrund treten. Während
dort rasch Schläfrigkeit und Stumpfheit die Oberhand gewinnen,
kommt es hier sofort zu unbändiger Streitsucht, grobem Unfug und
selbst blutigen Gewaltthaten. Lebhafte Gemüthserschütterungen
können im ersteren Falle, bei Vorwiegen der Lähmungserscheinungen,
zu plötzlicher Ernüchterung führen. Im letzteren Falle dagegen wird
durch sie die Erreguug noch gesteigert, so dass unter dem Einflüsse
einer verhältnissmässig sehr geringfügigen Alkoholmenge ganz un-
vermittelt die unsinnigsten und gefährlichsten Handlungen begangen
werden.
Ueber die anatomischen Grundlagen der acuten Alkoholvergiftung
hat uns der Thierversuch einige Aufschlüsse geliefert. Nissl konnte
nachweisen, dass bei Kaninchen, die eine Reihe von Tagen hindurch
möglichst grosse Alkoholmengen bekommen hatten, eine beträchtliche
Zahl von Rindeuzellen zu Grunde gegangen war. Es kommt zu-
nächst zu einer Abblassung und unregelmässigen Einschmelzung der
färbbaren Substanz. Dann wird der Kern kleiner, verliert seine
rundliche Form, sein Kernkörperchen und schliesslich auch die Mem-
bran, um allmählich ganz zu verschwinden. Aehnliche Vorgänge
beobachtete Dehio an den Purkinje 'sehen Zellen.
Die schwersten Störungen des Rausches pflegen sich verhält-
nissmässig rasch wieder zu verlieren, doch lässt sich, wie früher er-
wähnt, der Nachweis führen, dass eine gewisse Nachwirkung selbst
bei massiger Vergiftung noch 24 — 36 Stunden lang deutlich fort-
besteht. Bei längerer Fortsetzung der Alkoholeinfuhr wird diese
Nachwirkung eine dauernde. Es kommt zu einer allmählichen Um-
wandlung im psychischen Verhalten des Menschen, welche mehr
und mehr in das Krankheitsbild des chronischen Alkoholismus
hinüberführt.
Auch klinisch finden wir im chronischen Alkoholismus eine
Reihe jener Züge wieder, die uns aus dem Rausche bekannt sind.
Verhältnissmässig am wenigsten pflegt zunächst die Beeinträchtigung
der geistigen Leistungsfähigkeit in die Augen zu fallen. Indessen
beginnt sich regelmässig beim Trinker eine merkliche Herabsetzung
seiner Arbeitskraft herauszubilden. Eine wesentliche Rolle scheint
dabei die Steigerung der Ermüdbarkeit zu spielen. Es wird ihm
schwer, seine Aufmerksamkeit längere Zeit anzuspannen, neue, un-
ß4 III- Diß Vergiftungen.
gewohnte Eindrücke zu verarbeiten, sich in verwickeitere geistige
Aufgaben hineinzufinden. Er liebt es daher, sich in bekanntem Ge-
leise zu bewegen, hat weder Neigung noch Fähigkeit zu schöpfe-
rischer Gedankenarbeit. In Folge dessen verengt sich sein Gesichts-
kreis; seine geistige Ausbildung steht zunächst still, macht aber
dann Rückschritte und führt zu Verarmung seines Vorstellimgs-
schatzes und Abnahme seiner Urtheilsfähigkeit. Dieser Vorgang
wird ganz besonders begünstigt durch die niemals fehlenden Stö-
rungen des Gedächtnisses. Schon der Versuch hat gezeigt, dass
die Festigkeit, mit welcher der Lernstoff haftet, unter dem Einflüsse
einer einmaligen Alkoholgabe erheblich abnimmt. In noch höherem
Maasse ist das beim Gewohnheitstrinker zu bemerken. Er nimmt nicht
nur die Eindrücke nur unklar und flüchtig in sich auf, sondern er
vermag sich dieselben auch nur in den allgemeinsten umrissen wieder
zu vergegenwärtigen. So kommt es, dass er Neues nicht mehr lernt,
dass er wichtige Dinge vergisst und von seinen Erlebnissen viel-
fach ein ganz verzerrtes, verschwommenes Bild aufbewahrt. Die
Schwäche des Urtheils und des Erinnerungsvermögens giebt den
günstigen Boden ab für die recht häufigen, mehr oder weniger aus-
geprägten Wahnbildungen. Dieselben halten sich bald nur in dem
Rahmen einer auffallenden Einsichtslosigkeit gegenüber dem eigenen
Zustande, bald erheben sie sich zu eigenartigen Beeinträchtigungs-
ideen. In manchen Fällen werden sie unterstützt durch das Auf-
treten einzelner wirklicher Sinnestäuschungen, häufiger durch halb-
richtige, wahnhaft gedeutete Trugwahrnehmungen. In schweren
Fällen kommt es schliesslich zur Entwicklung eines ausgeprägten
Schwachsinns.
Bei weitem die wichtigste und folgenschwerste Erscheinung im
Bilde des chronischen Alkoholismus ist die sittliche Entartung
des Trinkers, das allmähliche Schwinden jener tiefereu Beweggründe
des Handelns, welche die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des
Charakters bedingen. Der Trinker verliert mehr und mehr die Fähig-
keit, nach feststehenden Grundsätzen zu handeln, und wird auf diese
Weise zum willenlosen Spielball zufälliger äusserer Verlockungen,
namentlich aber der immer unbezwinglicher werdenden Neigung
zum Alkohol. In sehr naiver Weise pflegt er diese Willensschwäche
einzugestehen, indem er als vollständig genügende Entschuldigung
für seine Unmässigkeit die Thatsache anführt, dass man ihn zum
Alkoholismus. 65
Trinken aufgefordert, ihm etwas bezahlt habe, dass Wein „auf dem
Tische stand". Er begreift gar nicht recht, wie man ihm aus dem
Trinken einen Vorwurf machen kann. „Ich hab' doch für mein
Geld getrunken," entschuldigte sich ein solcher Kranker. Fast alle
Trinker fassen zeitweise den festen Entschluss, dem Alkohol, den sie
mehr oder weniger klar als die Quelle ihres körperlichen, sittlichen,
gesellschaftlichen und wirthscbaf fliehen Unterganges erkennen, end-
gültig und für immer zu entsagen. „Ich kann's auch lassen," „ich
trink' Milch und Selters," erklären sie siegesgewiss, bekräftigen viel-
leicht unaufgefordert ihre guten Vorsätze mit den heiligsten Ver-
sprechungen und Schwüren und fühlen sich beleidigt, sobald man
leise Zweifel an der Aufrichtigkeit derselben äussert. Dennoch
aber pflegt nahezu ausnahmslos bereits die erste beste Gelegenheit
den schwachen Willen zu überwältigen und alle die auf Sand ge-
bauten Vorsätze ohne weiteres über den Haufen zu werfen. Eine
halbe Stunde später kann man sie nicht selten bereits wieder im
Wirthshause sitzen sehen, und wenige Tage genügen, um auch die
letzte Spur von Scham oder Reue über den schmählichen Wortbruch
hin wegzuwischen. Ist es doch gerade der Alkoholdusel, der dem
Trinker die Fähigkeit zu ruhiger Würdigung seiner Lage raubt
und alle besseren Regungen in der rohesten Selbstsucht unter-
gehen lässt. Das Ende ist die nur zu wohlbekannte Gestalt des
Schnapslumpen.
Unter immer wiederholtem Siege der wachsenden Leidenschaft
über das sich abstumpfende Pflichtgefühl nimmt die sittliche Ent-
artung des Trinkers mit Riesenschritten zu. Die mächtigen Beweg-
gründe der Ehrliebe, der Gatten- und Kinderliebe, der Scham ver-
lieren ihre Wirkung über ihn. Er kümmert sich nicht mehr um
das Wohl und Wehe seiner Angehörigen, giebt sie einfach dem
Elend Preis, wird gleichgüliig gegen ihre Bitten und Vorwürfe, sieht
hülflos der wirklichen Untreue seiner Frau, der sittlichen Verwahr-
losung seiner Kinder zu, lässt stumpf die gesellschaftlichen Mass-
regelungen und die Verachtung seiner Standesgenossen über sich
ergehen. Ohne Rücksicht auf seine Bildung, seine Stellung betrinkt
er sich öffentlich, schliesst wahllos Duzbrüderschaften, verhandelt
seine zartesten Familienangelegenheiten mit wildfremden Menschen.
Meist entwickelt sich dabei ein gewisses erhöhtes Selbstgefühl,
welches in handgreiflichen Prahlereien einen um so stärkeren Aus-
Kraepelin. Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band, 5
66 III. Die VergiftuDgen.
druck findet, je weniger der Kranke seine zwingendsten Pflichten
zu erfüllen im Stande ist. Ausserdem ist es der in seinen ersten
Andeutungen schon dem einfachen Kausche angehörige Trinker-
humor, der in hohem Maasse die Gemüthslage dieser Kranken
kennzeichnet. Ihnen ist die Fähigkeit verloren gegangen, ernste
Dinge ernst aufzufassen; sie schwanken im dunklen Gefühle ihrer
Willensschwäche zwischen unmännlicher "Weinerlichkeit und würde-
losem Galgenhumor, der auch in der eigenen Eruiediiguug nur
die komische Seite empfindet. Wer wird hier nicht au die ge-
räuschvolle Fröhlichkeit erinnert, mit welcher eine angeheiterte Tafel-
runde auch die gewagtesten Verletzungen der eigenen Würde zu
begleiten pflegt!
Es giebt wol kaum einen einzigen ausgebildeten Trinker, welcher
sich selber irgend welche Verschuldung au seiner Trunksucht
beizumessen geneigt wäre. Viele stellen überhaupt trotz der be-
weisendsten Anzeichen das Trinken schlankweg in Abrede und
suchen die allenfalls gelegentlich genossenen Alkoholmengen als
äusserst harmlos und in bedeutend verkleinertem Massstabe hinzu-
stellen; sie haben nur so viel getrunken, „wie sich's gehört", weisen
namentlich darauf hin, dass sie niemals oder doch nur selten wirk-
lich „betrunken" gewesen seien, eine Beweisführung, welche selbst
bei Voraussetzung völliger Glaubwürdigkeit angesichts des sehr
persönlichen Massstabes und der sehr verschiedenen Empfindlichkeit
gegen den Alkohol selbstverständlich nur geringen Werth hat. Andere
geben zwar mit einigen Umschweifen ihre Unmässigkeit zu, stellen
dieselbe jedoch als durchaus nothwendig, durch ihre besonderen
Lebensverhältnisse bedingt dar. „Wie kann man ohne Wein und
Bier schwer arbeiten !•' sagte mir ein Lastträger ; die Andern würden
ihn ja auslachen, wenn er nicht tränke. Es ist interessant, zu sehen^
wie kein einziger Beruf sich völlig unfruchtbar an zwingenden Be-
weggründen für' den Alkoholgenuss erweist. Während den Schmied,
den Schlosser, den Glasarbeiter die Hitze des Feuers zur Schnaps-
flasche treibt, thut beim Droschkenkutscher, beim Nachtwächter die
nächtliche Kälte denselben Dienst; die Metzger „trinken Alle"; die
Kaufleute müssen „wegen der Kundschaft" trinken. Die Ziegelarbeiter
finden beim Kneten in der Nässe, die Müller und Maurer beim Ein-
athmen des trockenen Staubes ihre Rettung im Trinken, ja ein An-
gestellter einer Dampf schiff fahrtsgesellschaft gab mir an, dass man
Alkoholismus. 67
„in einem so grossen Geschäft" ohne den Alkohol nicht auskommen
könne. Die Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit des
Alkoholgenusses sitzt in der Regel so fest, dass die Trinker allen
Einwendungen das äusserste Misstrauen entgegen bringen. „Ach,
gehen Sie, Herr Doctor, der Herr Professor trinkt auch seinen
Schoppen," sagte ein Trinker, als er vom Arzte auf mein Beispiel
völliger Enthaltsamkeit hingewiesen wurde.
Fast noch häufiger, als durch die Beschäftigung, wird die
Trunksucht durch wirthschaftliche und häusliche Verhältnisse be-
gründet. Bald ist es der Kummer über den Rückgang des Ver-
dienstes, das Aufkommen eines „Concurrenten", über den Verlust
einer Stellung, den Tod eines Angehörigen, bald ist es die
schlechte Wohnung oder die ungenügende Ernährung, vor allem
aber das unglückliche eheliche Leben, welches den Trinker nach
seiner Angabe zum Schnapsmissbrauche getrieben hat. „Die Frau
hätte sollen zart und liebevoll sein, wenn ich getrunken hatte,"
meinte ein solcher Gatte. Regelmässig ergiebt sich hier bei ge-
nauer Nachforschung, dass der Zusammenhang ein umgekehrter ge-
wesen ist, dass die angeblichen Ursachen der Trunksucht in "Wirklich-
keit als mittelbare oder unmittelbare Folgen derselben angesehen
werden müssen.
Hand in Hand mit der sittlichen Verblödung geht eine Er-
höhung der gemüthlichen Reizbarkeit, namentlich während der
Alkoholwirkung. Aus ihr entwickelt sich dann die berüchtigte Streit-
sucht der Trinker, ihre Neigung zu unfläthigem Schimpfen, raschen
Gewaltthaten und Rohbeiten, Misshandlungen der Angehörigen, zweck-
losen Zerstörungen. In bemerkenswerthem Gegensatze zu der Rück-
sichtslosigkeit und Heftigkeit des Trinkers in seinen häuslichen
Verhältnissen steht die Gefügigkeit und Lenksamkeit desselben bei
längerer Enthaltsamkeit unter dem Drucke äusseren Zwanges in der
Irrenanstalt, im Gefängnisse u. s. w. Dem Unerfahrenen erscheint
es oft vollkommen unbegreiflich, wie es denn möglich war, dass der
anscheinend ganz ruhige und gutmüthige Mensch in der Freiheit so
rohe und unsinnige Gewaltthaten begehen konnte. Sehr eigenartig
ist dabei vielfach der reumüthige, ja süssliche Ton der Briefe, welche
von Betheuerungen, gutenVorsätzen und frommen, erbaulichen Redens-
arten strotzen, während ein Entlassungsversuch binnen kürzester Frist
die ganze Haltlosigkeit des Trinkers aufs deutlichste vor Augen führt.
68 III. Die Vergiftungen.
Regelmässig entwickelt sich endlich beim Trinker im Laufe der
Zeit eine gewisse Unruhe und Unstetigkeit. Er kann nicht lange
stillsitzen, treibt sich gern ziellos herum, in den Kneipen oder auf der
Landstrasse. Seine A-rbeitsfähigkeit zeigt daher eine sehr bedeutende
Abnahme, nicht nur, weil häufige Räusche die Stetigkeit der Be-
schäftigung durchbrechen, sondern namentlich auch, weil er zu jeder
nachhaltigen und länger dauernden Anstrengung seiner körperlichen
und geistigen Kräfte unfähig geworden ist. In Folge dessen pflegt
es mit seinen wirthschaftlichen Verhältnissen rasch bergab zu gehen.
Er verdient wenig oder garnichts mehr, verbraucht aber verhältniss-
mässig viel und greift nun zu allerlei Auskunftsmitteln, um sich
das Geld zum Trinken zu verschaffen. Zunächst hört er auf, für
seine Familie zu sorgen, sucht im Gegentheil noch von ihr so viel
wie möglich zu erpressen. Mehr und mehr bevorzugt er die Ge-
tränke, die ihn am raschesten und billigsten in den Rauschzustand
versetzen, treibt sich in den schmutzigsten Winkelkneipen und in der
verkommensten Gesellschaft herum. Sobald der Credit bei Kneip-
wirthen und Saufkameraden erschöpft ist, geht es ans Versetzen und
Verkaufen des persönlichen, dann aber auch des Eigenthums der
Angehörigen, und häufig genug schliesst die weitere Laufbahn mit
Bettel und Landstreicherei, mit Zechprellereien, Schwindeleien, Be-
trügereien, mit Hehlerei und Diebstahl ab.
Von den allgemeinen Störungen, welche der chronische Alkoholis-
mus in den verschiedensten Organen des Körpers regelmässig er-
zeugt, sollen hier die vielfachen alkoholischen Organerkrankungen
nur kurz erwähnt werden, die Herzverfettung, der Magenkatarrh,
die Lebercirrhose, die Nierenschrumpfung, endlich die tiefgreifenden
Veränderungen in der Zusammensetzung des Blutes. Im Gehirne
finden sich Gefässerkrankungen mit dauernden Kreislaufstörungen
und deren Folgezuständen, Blutaustritte, Trübungen und Verdickungen
der Hirnhäute, insbesondere Pachymeningitis, endlich höchst wahr-
scheinhch mehr oder weniger schwere Veränderungen an den Nerven-
zellen. Nissl fand bei chronisch mit Alkohol vergifteten Kaninchen
leichte Verdickung der Pia, besonders an der Basis, und Vermehrung
der Glia. In der Rinde waren zahlreiche Zellen zerstört; daneben
zeigten sich ausgebreitete, eigenartige Veränderungen, deren Deutung
allerdings zur Zeit noch nicht ganz feststeht. An den peripheren
Nerven entwickeln sich bekanntlich recht häufig neuritische Er-
Alkoholismns. 69
krankimgen. Den klinischen Ausdruck aller dieser Yeräuderungen
im Bereiche des Nervensystems bilden zunächst Schwindel und
Kopfschmerzen, ein sehr feinschlägiges Zittern an Zunge und ge-
spreizten Fingern, die bekannten neuritischen Störungen, Schwäche
der Arme und Beine, Unsicherheit beim Stehen und Gehen, Muskel-
atrophie, schmerzhafte Druckpunkte, Anaesthesien , Hyperaesthesien,
Paraesthesien. Die Reflexe sind vielfach gesteigert, seltener erloschen.
Am Opticus hat man ebenfalls eine alkoholische Neuritis (Abblassung
der temporalen Papillenhälfte) kennen gelernt; bisweilen bestehen
Augenmuskellähmungen.
Bei einer grösseren Anzahl von Trinkern werden epileptische
Anfälle beobachtet, sowol im Anschlüsse an schwere Räusche wie
im einfachen Verlaufe des chronischen Alkoholismus, selbst nach
längerer Enthaltsamkeit. Am häufigsten aber ist das Eintreten
solcher Anfälle vor oder während eines Delirium tremens. In Berlin,
wo die Alkoholepilepsie besonders oft aufzutreten scheint, fanden
sich nach den Zusammenstellungen von Fürstner, Möli, Siemer-
ling epileptische Anfälle bei Trinkern in etwa 30 — 35<>/o, bei den
chronischen alkoholischen Geistesstörungen nur in 10 ^/q der Fälle.
Gegenüber diesen Erfahrungen hat Wildermuth angegeben, dass
er nur in 1,4 "/o bei den von ihm beobachteten Epileptikern die
Krankheit ausschliesslich auf Alkoholmissbrauch zurückführen konnte ;
in allen übrigen FäUen bestanden entweder von Jugend auf schon
die Zeichen einer epileptischen Veranlagung, oder es wirkten noch
andere Ursachen ein, die erfahrungsgemäss Epilepsie zu erzeugen
im Stande sind. Er kommt daher zu dem Schlüsse, dass der Alkohol
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Epilepsie nur auslöse,
nicht aber hervorbringe. Aehnliche Anschauungen hat schon Magnan
vertreten, der für die epileptischen Anfälle der Trinker auf Grund seiner
Thierversuche überhaupt nicht den Alkohol, sondern das Absinthöl ver-
antwortlich machte, eine Ansicht, die indessen in Deutschland schon
deswegen keinen Anklang gefunden hat, weil bei uns die Alkohol-
epilepsie trotz fast gänzlichen Fehlens von Absinthmissbrauch überaus
häufig ist. Dagegen scheint allerdings besonders das Schnapstrinken
die Entstehung epileptischer Krämpfe zu begünstigen. Möli fand
dieselben in 40% bei Schnapstrinkern, aber nur bei ö^/o derjenigen
Personen, die neben Bier und Wein fast keinen Schnaps zu sich
nahmen.
70 11^^« Diö Vergiftungen.
Um nun den grossen "Widerspruch zu lösen, der zwischen
der Häufigkeit von Krampfanfällen bei Trinkern und der Seltenheit
Avirklich durch Alkohol verursachter Epilepsie besteht, vertritt
Wildermuth die ebenfalls schon von Magnan ausgesprochene
Ansicht, dass die Krampfanfälle der Trinker wie die urämischen
oder paralytischen Anfälle nicht als echte Epilepsie aufzufassen seien.
Zu dem gleichen Ergebnisse gelangte Wartmann*), der bei einer
grösseren Anzahl von Epileptikern die Entstehungsgeschichte der
Krankheit prüfte. Eine wichtige Stütze erhält dieser Statz gerade
durch die häufige Verbindung der Anfälle mit dem Delirium tremens,
das wir Ursache haben, auf das Eintreten einer eigenartigen Yer-
giftung zurückzuführen. Allerdings wird man in dieser Frage so
lange zweifelhaft bleiben müssen, wie uns die Ursachen der echten
Epilepsie noch unbekannt sind. Dass übrigens der Alkoholismus
der Eltern eine der wichtigsten Ursachen der Epilepsie bei den
Kindern bildet, wird von allen Seiten bestätigt und späterhin näher
ausgeführt werden. Auf die Beziehungen des Alkoholismus zur
Hysterie ist in neuerer Zeit bei uns besonders von Lührmann
hingewiesen worden. Er fand unter 60 männlichen Hysterischen 16,
bei denen die Erscheinungen wesentlich durch Alkoholismus aus-
gelöst wurden. Es handelte sich meist um Dämmerzustände mit
den Stigmata der Hysterie, Hemianaesthesien, Sehstörungen, Krarapf-
anfällen. Die eigentliche Ursache des Leidens lag hier wol immer
in der krankhaften Veranlagung, die durch die Schädigung des
Alkoholismus zu weiterer Entwicklung gebracht wurde.
Unter den Ursachen des chronischen Alkoholismus spielt eine
nicht geringe Rolle die angeborene oder ererbte Veranlagung. Die
Neigung zum Trinken wird in hohem Maasse auf die Nachkommen-
schaft übertragen, Avahrscheinlich in Form einer verringerten sitt-
lichen Widerstandsfähigkeit überhaupt. Unter den von mir in
den letzten Jahren beobachteten Trinkern waren ^/^ in irgend
einer Weise erblich belastet; in der Hälfte dieser letzteren
Fälle war der Vater Trinker gewesen. Männer sind unver-
gleichlich mehr gefährdet als Frauen; unter den von mir zu-
sammengestellten Fällen befanden sich kaum 6^/^ Frauen. Die Ver-
*) Archiv f, Psychiatrie, XXIX, 933; Wildermuth, Zeitschr. f. d. Behandlung
Schwachsinniger u. Epileptischer, 1897, Mai, 49; Neumann, Ueber die Beziehungen
zwischen Alkoholisraus und Epilepsie. 1897. (Literatur.)
Alkoliolismus. 71
führung zum Alkoholismiis wird insbesondere durch staatliche Ein-
richtungen und gesellige Gewohnheiten in mehr als ausreichender
Weise besorgt. Namentlich die Zeiten „flotten" Lebensgenusses
fordern unter den haltlos veranlagten Personen ihre sicheren Opfer.
Andererseits ist es die Noth, das Elend, namentlich aber die
verhängnissvolle Gedankenlosigkeit und Unwissenheit der
Massen, welche sie wehrlos dem für unentbehrlich gehaltenen
Missbrauche in die Arme treiben. Tagtäglich trinken Tausende und
Abertausende gerade deswegen Wein, Bier oder Schnaps, weil sie
davon überzeugt sind, dass der Alkohol die körperliche Leistungs-
fähigkeit erhöhe, eine „Stärkung" des Organismus bewirke. Wenn
diese Anschauung schon für die acute Alkoholwirkung durch die
Messung im wesentlichen widerlegt wird, so ist sie für den dauernden
Gebrauch geistiger Getränke zweifellos grundfalsch. Gegen diesen
gefährlichen Unfug, an dem wir Aerzte zum guten Theil mit Schuld
tragen, kann nicht thatkräftig genug zu Felde gezogen werden.
Gar nicht selten knüpft sich die Entwicklung des chronischen Alko-
holismus geradezu an das zum Frühstück verordnete Gläschen Port-
wein oder Sherry an. So beobachtete ich kurz hintereinander
zwei Frauen, welche dadurch schwerer Trunksucht verfallen waren,
dass ihnen vom Arzte „zur Stärkung" nach hartnäckigen Meno-
rhagien der regelmässige Genuss alkoholreichen Weines empfohlen
wurde.
Die Mengen alkoholischer Getränke, welche der Einzelne zu
sich nimmt, sind sehr verschieden. Manche Personen vertragen von
vorn herein sehr wenig, und umgekehrt scheint sich auch bei alten
Trinkern bisweilen wieder eine verminderte Widerstandsfähigkeit
gegen den Schnaps einzustellen. Andererseits berichtet Siemerling*)
von einem Arbeiter, der in 24 Stunden 3 Liter Nordhäuser mit
Bitteru, von einem andern, der 2 Liter Spiritus mit Kümmel trank,
sowie von einer Reihe ähnlicher Leistungen. Der Schnaps ist überall
bevorzugt.
Die Prognose des ausgeprägten chronischen Alkoholismus ist
gewöhnlich eine sehr trübe. Allerdings vermag man durch recht-
zeitiges, zielbewusstes Eingreifen in einer Anzahl von Fällen die
dauernde Entwöhnung vom Schnaps durchzusetzen und damit die
durch ihn erzeugten Störungen zum Verschwinden zu bringen. Die
*) Cüarite-Anualen, XVI, S. 373 ff. 1891.
72 IIL Die Vergiftungen.
freilich noch nicht sehr ausgedehnten Erfahrungen der Trinkerasyle
scheinen zu zeigen, dass immerhin ^/^ — ^3 derjenigen Kranken,
welche sich einer längeren, planmässigen Behandlung unterwerfen,
dauernd und vollständig geheilt werden, während ein gleicher Bruch-
theil wenigstens eine sehr wesentliche, anhaltende Besserung erfährt.
In der Trinkerheilanstalt Ellikon ist die Zahl der dauernd enthaltsam
gebliebenen Kranken von 26,3 °/o 1889 sogar auf 52,9% im Jahre
1894 gestiegen*). Leider hat die Behandlung der Alkoholisten heute
noch mit sehr grossen praktischen Schwierigkeiten zu kämpfen,
zu deren Beseitigung bis jetzt nicht mehr als die ersten Schritte
haben gethan werden können. In der überwiegenden Mehrzahl,
der Fälle sinkt daher der Gewohnheitstrinker nach jeder Richtung
hin allmählich tiefer und immer tiefer, bis zum völligen körper-
lichen und geistigen "Verfall, wenn nicht irgend eine der zahl-
reichen, seine geschwächte Constitution vor allem bedrohenden
Krankheiten (Pneumonie, Apoplexie, Nephritis) das Ende schon
früher herbeiführt.
Die Erkennung des Trinkers ist in den vorgeschritteneren
Stadien sehr leicht. Abgesehen von dem vernachlässigten, herunter-
gekommenen Aeusseren, welches in lebhaftem Widerspruche mit
seiner gesellschaftlichen Stellung zu stehen pflegt, deuten die
schwimmenden Augen, das gedunsene, häufig durch kleine erweiterte
Yenen geröthete Gesicht, die stark belegte, oft zitternde Zunge, ein
feines Zittern der gespreizten Finger und der fuselige Geruch des
Athems unverkennbar auf die chronische Vergiftung hin. Vielfach
fällt frühzeitiges Altem auf. Die genauere Prüfung lässt ausserdem
fast immer leichtere oder schwerere neuritische Anzeichen entdecken,
besonders an den Beinen. Seltener gelingt auch der Nachweis einer
der sonstigen, dem chronischen Alkoholismus eigenthümlichen Organ-
erkrankungen.
Die einzige Aufgabe, welche die Behandlung des chronischen
Alkoholismus zu lösen hat, ist die Herbeiführung einer dauernden,
völligen Enthaltsamkeit vom Alkohol in jeder Form. Alle
Versuche, den ausgeprägten Trinker etwa zu einem massigen Ge-
nüsse geistiger Getränke zurückzuführen, scheitern erfahrungsgemäss
an dem Umstände, dass eben gerade der Alkohol die Selbstbeherrschung
*) Oberdieck, Archiv f. Psychiatrie, 1897,2.
Alkoholismus. 73
vernichtet, die Ausführung unüberlegter Handlungen begünstigt und
zu Ausschreitungen verführt. "Wer einmal, sei es aus Anlage oder
durch äussere Verhältnisse, zum Trinker geworden ist, kann nur
durch bedingungslose Enthaltsamkeit den Gefahren eines Rückfalles
entgehen, aus dem einfachen Grunde, weil jene letztere unvergleichlich
leichter durchzuführen ist, ausserordentlich viel geringere Anforde-
rungen an die Willenskraft stellt, als das Einhalten irgendwie vorge-
schriebener Mässigkeitsgrenzen. Wenn mir demnach auch die grund-
sätzliche Yerdammung jedes Alkoholgenusses für den gesunden
Menschen wesentlich den Werth eines sittlichen Beispiels zu haben
scheint, so muss für den Trinker die unverbrüchliche Bewahrung
voller Enthaltsamkeit als die nothwendige Vorbedingung seiner
Wiederherstellung betrachtet werden.
In einer grossen Anzahl von Fällen empfinden die Kranken ihre
hülflose Ohnmacht gegenüber dem Genussmittel stark genug, um
selbst den hier angedeuteten, einzig möglichen Ausweg aus ihrem
Zustande einzuschlagen. Bei kurzem Bestände des Leidens und
grosser ursprünglicher Willenskraft kann die Entziehung sogar ohne
weiteres äusseres Hülfsmittel von dem Kranken durchgeführt und
die Enthaltsamkeit dauernd, je länger, um so leichter, festgehalten
werden. Sehr häufig indessen sind die Trinker von vorn herein
oder in Folge ihres Alkoholismus so willensschwach, dass sie den
in ihren häuslichen Verhältnissen, ihrem Berufe, ihrem Verkehr
liegenden Verführungen nicht aus eigener Kraft zu widerstehen ver-
mögen. In solchen Fällen passt die Verbringung in ein „Trinker-
asyl", wie sie heute, allerdings in noch gänzlich ungenügender Zahl,
bereits in den meisten Ländern bestehen*). Leider wird die Durch-
führung dieser Massregel durch die Gleichgültigkeit und Verblendung
der Umgebung vielfach verhindert. Namentlich die Aerzte, die
doch in erster Linie berufen wären, hier belehrend und aufklärend
zu wirken, stehen in der Alkoholfrage nichts weniger, als auf
der Höhe ihrer Aufgabe. Kommt es doch alle Tage vor, dass
selbst in Anstalten für Nerven- oder Geisteskranke den Trinkern
ganz harmlos nach wie vor der regelmässige Genuss geistiger Ge-
tränke gestattet wird. Ich kenne solche Beispiele am grünen Holze
in Menge.
*) Tilkowski, Jahrbücher f. Psychiatrie, 1893, XII; Serieux, Bull, de la
societe de med. mentale Belgique, März, Juni 1895.
74 III. Die Vergiftungen.
Endlich aber giebt es auch Trinker genug, denen die Einsicht
in ihr eigenes Elend sowie das Streben, sich aus demselben zu be-
freien, völlig fehlt, oder welche aus anderen Gründen (Wahnideen)
jedem Versuche einer Freiheitsbeschränkung heftigen Widerstand
entgegensetzen. Die zwangsweise Durchführung der Entziehung
bei solchen Menschen kann heute nur in der Weise geschehen, dass
sie als geisteskrank in eine Irrenanstalt verbracht werden. Da in-
dessen der Alkoholismus als psychische Störung gesetzlich bisher
keineswegs anerkannt wird, so besteht thatsächlich in einer er-
schreckend grossen Zahl von Fällen die rechtliche Unmöglichkeit,
den verblendeten Trinker von der Vernichtung seiner eigenen wie
der Existenz seiner Familie auch gegen seinen Willen zurück-
zuhalten. Dass hier die Nothwendigkeit staatlichen Eingreifens zum
mindesten ebenso dringend ist, wie etwa bei der zwangsweisen Be-
handlung syphilitischer Prostituirter, von dem Verfahren gegenüber
gemeingefährlichen Geisteskranken garnicht zu reden, bedarf keiner
weiteren Ausführung. Vielleicht wird die durch das neue Bürger-
liche Gesetzbuch geschaffene Möglichkeit einer Entmündigung wegen
Trunksucht wenigstens einen kleinen Fortschritt bringen.
Die Entziehung des Alkohols kann in der Regel eine ganz
plötzliche sein. Ich habe bisher erst in einem einzigen Falle durch
den unvermittelten Wegfall des gewohnten Alkohols schwerere
Störungen eintreten sehen. Es handelte sich um einen jungen Mann
mit einem Herzfehler, welchem in der Heilanstalt, die er wegen
seiner Trunksucht aufgesucht hatte, ärztlicherseits täglich eine Flasche
Cognac verordnet worden war. Hier fühlte ich mich wegen der
Neigung zum Collaps veranlasst, neben andern Mitteln noch einige
Tage lang kleine Alkoholmengen zu geben. Meist jedoch pflegen
sich die geringen anfänglichen Störungen, Schlaflosigkeit, einzelne
Sinnestäuschungen, Appetitlosigkeit ganz überraschend schnell erheb-
lich zu bessern oder völlig zu verlieren. Die weitere Erholung
schreitet dann ohne Zwischenfall vorwärts. Die Kranken fühlen
sich ungemein wohl, kräftig und leistungsfähig; dabei stellt sich
gewöhnlich ein sehr starker Appetit ein, unter dessen Einfluss sich
das anfänglich sinkende Körpergewicht meist bedeutend hebt. Gleich-
wol sollte die Dauer der Anstaltsbeaufsichtigung in einigermassen
schweren Fällen nicht unter 2/4 — 1 Jahr, nach Rückfällen noch
längere Zeit betragen, da namentlich die psychische Widerstands-
Alkoliolismus. 75
fähigkeit immer noch erheblich geschwächt bleibt, auch wenn der
Kranke in allen übrigen Beziehungen, selbst hinsichtlich seiner
Krankheitseinsicht, schon vollständig genesen erscheint. Hie und da
sieht man übrigens erst nach vielmonatlichem, zunächst wider-
willigem Anstaltsaufenthalte doch allmählich ein besseres Yerständ-
niss für die Sachlage und damit Zugänghchkeit für die Bemühungen
des Arztes zu Stande kommen. Alle diese Umstände spielen, ebenso
wie die Persönlichkeit des Kranken überhaupt und seine äusseren
Verhältnisse, eine wichtige Rolle für die Abmessung der Be-
handlungsdauer. Jedenfalls soll die Wiedereinführung in die Frei-
heit nach anfänglich strengster Ueberwachung nicht plötzlich, son-
dern ganz allmählich geschehen, um das Selbstvertrauen des Kranken
zu kräftigen und seine Widerstandsfähigkeit zu erproben. Brannt-
weinbrennern, Weinreisenden, Schankwirthen u. s. f. ist eine Aende-
rung ihres Berufes dringend anzurathen. Zur Erleichterung und
Befestigung der Alkoholentwöhnung ist in neuerer Zeit mehrfach mit
Erfolg auch die hypnotische Suggestion mit herangezogen worden
(Forel).
Ungleich grössere Aussicht auf Erfolg, als die Behandlung des
ausgebildeten Alkoholismus, gewährt die vorbeugende Bekämpfung
desselben. Die verschiedenartigsten Hülfskräfte sind berufen, in
dieser Richtung zusammenzuwirken. In der Herabsetzung der
Schnapserzeugung, der Monopolisirung und Einschränkung des Einzel-
verkaufs (Gothenburger System), in der öffentlichen Belehrung
über die schweren Gefahren des Alkoholismus, namentlich durch die
Aerzte, in der Einbürgerung harmloserer Anregungsmittel (Kaffee,
Thee), der Beseitigung des Trinkzwanges in jeder Form, der Ein-
dämmung des Kneipenwesens, der Errichtung von Volkslesehallen
und nicht zum letzten durch das zielbewusste Beispiel der Gebildeten
sind uns, wie die Erfahrung lehrt, die Mittel an die Hand gegeben,
welche es uns ermöglichen, den furchtbaren Begleiter und Feind
zugleich unserer Gesittung nicht nur an seiner weiteren Ausbreitung
zu verhindern, sondern ihm allmählich auch das schon gewonnene,
übergrosse Gebiet in hartem Kampfe nach und nach wieder abzu-
ringen. Wie es scheint, sind nach dieser letzteren Richtung hin
durch die Kräftigung des Enthaltsamkeitsentschlusses die in Eng-
land, Amerika, Skandinavien, Finnland, der Schweiz sich rasch ent-
wickelnden „Mässigkeitsvereine" eine beträchtliche sittliche Ein-
76 ni- Die Vergiftungen.
wirkling auszuüben im Stande gewesen. Gerade für den Trinker mit
seiner Willensschwäche bildet der Rückhalt, den die Yereiniguug
bietet, ein sehr wichtiges Hülfsmittel im Kampfe mit der Verführung.
Der sich durch das Yereinsleben, durch den Gedankenaustausch, die
eigenartige Literatur entwickelnde Fanatismus ist ein wohlthätiges^
vielleicht sogar nothwendiges Werkzeug zur Rettung jener ungezählten
Schaaren, welche vereinzelt, auf sich selbst gestellt, unfehlbar zu
Grunde gehen würden. Die wichtigsten in Betracht kommenden
Vereinigungen sind der Alkoholgegnerbund (Internationaler Verein
zur Bekämpfung des Alkoholgenusses), der Verein des blauen Kreuzes
und der Orden der Guttempler, in Deutschland neuerdings noch die
Vereine abstinenter Aerzte und Lehrer. Diesen auf dem Stand-
punkte völliger Enthaltsamkeit stehenden Vereinen gesellt sich noch
der Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke hinzu, der nur
Massigkeit anstrebt. Eine Reihe von Zeitschriften, von denen hier nur
die Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten, die
Mässigkeitsblätter und die Freiheit genannt werden sollen, suchen den
Zwecken dieser Vereine zu dienen. Freilich steht diesen Gesell-
schaften die Unzahl der Stammtische sowie jener „gemüthlichen"
Vereinigungen gegenüber, welche unter irgend einem AushängeschUde
nichts anderes sind, als fruchtbare Brutöfen des „feuchtfröhlichen''
deutschen Kneipalkoholismus.
Auf der durch den chronischen Alkoholismus gebildeten Grund-
lage können sich eine Anzahl eigenartiger psychischer Störungen
entwickeln, welche zum Theil wenigstens in ihrem klinischen Auf-
treten selber schon den Rückschluss auf die Grundursache gestatten,
aus welcher sie hervorgegangen sind. Die bei weitem häufigste dieser
Störungen ist das Delirium tremens*).
Das erste Anzeichen der herannahenden Krankheit bildet eine
erhöhte psychische (unruhiger Schlaf, Verstimmtheit, Schreckhaftig-
heit) und sensorielle (Hyperaesthesie, subjective Geräusche, Blitze,
feurige Sterne) Erregbarkeit. Nach diesen Vorboten, welche bis-
weilen einige Tage, meist jedoch nur wenige Stunden andauern, ent-
wickelt sich in rascher Steigerung das volle Krankheitsbild, welches
vor allem durch lebhafte und zahlreiche phantastische
Sinnestäuschungen der verschiedensten Gebiete, durch massige
*) Kose, Delirium tremens und Delirium traumaticum. 1884.
Alkoholismus. 77
Benommenheit bei völliger Desorientirung, durch Unruhe und Zittern
gekennzeichnet wird.
Der Wahrnehmungsvorgang an sich scheint nach Bonhöffers*)
Untersuchungen keine sehr auffallenden Störungen darzubieten.
Der genannte Forscher erhielt normale Werthe für die Berührungs-
Temperatur- und Schmerzempfindlichkeit der Haut, ebenso für die
Seh- und Hörschärfe und das Augenmaass. Das Gesichtsfeld
fand sich hie und da etwas eingeschränkt; die Farbenerkennung
war unsicher, die Raumschwelle an Fingerkuppe und Stirn erhöht.
Sehr bemerkenswerth sind bisweilen die Störungen des Gleich-
gewichtssinnes. Bonhöffer hat darauf aufmerksam gemacht, dass
manche Kranke ausser Stande sind, sich aufzusetzen, zu stehen und
zu gehen, vielmehr ängstlich die Rückenlage einhalten. Er ist der
Ansicht, dass hier die körperliche Orientirung im Räume gestört sei.
Vielfach trifft man auch auf die Angabe, dass der Boden schwanke,
die Wände einzustürzen drohen; es mag dahin gestellt bleiben, ob
dabei Störungen der Augenmuskelbewegungen oder des Labyrinth-
sinnes die Hauptrolle spielen.
Bei allen genaueren Prüfungen stellen sich, in Uebereinstimmung
mit der allgemeinen klinischen Erfahrung, Störungen der Auffassung
nach zwei Richtungen heraus. Zunächst mischen sich in die Wahr-
nehmungen der Kranken überall reichliche Eigenerregungen der
betreffenden Sinnesgebiete, so dass es zu fortwährenden Verfälschungen
der Wahrnehmung kommt. Die Kranken verhören sich, verkennen
vorgezeigte Bilder, sehen Zusätze, Bewegungen auf denselben, mühen
sich vergeblich ab, scharfe und klare Eindrücke zu bekommen. Noch
deutlicher wird die Störung beim Lesen. Statt der gegebenen Sätze
wird eine ganz sinnlose Reihe von Wörtern und Lautverbindungen
vorgebracht, besonders dann, wenn die Kleinheit der Schrift die
Erkennung erschwert oder selbst unmöglich macht, was die Kranken
bisweilen gar nicht bemerken. Oft fehlt jede erkennbare Beziehung
zwischen Vorlage und Wiedergabe, eine Erscheinung, die ich, freilich
in sehr abgeschwächter Form, auch bei einem Alkoholisten ohne
Delirium nachweisen konnte. Dort hatte ich Ursache, als Grund-
lage der Lesestörung nicht nur eine Verschlechterung der Auf-
fassung und Beeinflussung derselben durch Wortvorstellungen, son-
*) Der Geisteszustand der Alkoholdeliranten. 1897.
78 in. Die Vergiftungen.
dem auch das Auftreten von sprachlichen Fehlreactionen anzunehmen,
das planlose Aussprechen irgend welcher, auf der Zunge liegender
Lautverbindungen an Stelle der fehlerhaft und ungenau erfassten
Eindrücke, ohne innere Beziehung zur Vorlage. Auch Bon hoff er
spricht, vielleicht in ähnlichem Sinne, bei seinen Deliranten von
„paraphasischem" Lesen.
Besondere Schwierigkeiten macht es ferner, die Aufmerksam-
keit der Kranken zu fesseln. Während sie in einem Augenblicke
tadellos auffassen, ist es im nächsten oft kaum möglich, sich ihnen
verständlich zu machen. Derselbe Kranke, der auf eindringliches
Anreden geordnete Auskunft giebt, geräth vielleicht sofort wieder
in seine Delirien hinein, sobald man ihn sich selbst überlässt. Diese
grossen Schwankungen der Aufmerksamkeit lassen die Störungen
der Auffassung viel stärker erscheinen, als sie wirklich sind. Die
Kranken bemerken nur das, was sich ihnen besonders aufdrängt.
Daraus erklärt es sich vielleicht, dass sie bisweilen über schwere
Yerletzungen gar nicht klagen, gebrochene Glieder mit der grössten
Rücksichtslosigkeit bewegen. Das Bewusstsein zeigt regelmässig
eine leichte Trübung. Das Verstand niss für die Vorgänge in der
Umgebung ist ein ziemlich unklares; die auftauchenden Vorstellungen
sind verschwommen und widerspruchsvoll. Gleichwol vermögen die
Kranken in der Regel über fernliegende Verhältnisse leidliehe Aus-
kunft zu geben. Nur in sehr schweren Fällen und namentlich im
Anschlüsse an epileptische Anfälle tritt stärkere Unbesinnlichkeit
und Benommenheit hervor.
In auffallendem Gegensatze zu der geringen Beeinträchtigung
der Besonnenheit steht regelmässig die schwere Störung der
Orientirung. AVenn wir von den allerleichtesten Fällen absehen,
wird die Umgebung von den Kranken immer verkannt. Sie be-
grüssen Arzt und Mitkranke auf Befragen mit den Namen alter
Bekannter, halten die Räume für irgend welche Oertlichkeiten in
der Heimath, am häufigsten für Wirthshäuser, Brauereien u. dergl.
Alle diese Bezeichnungen können binnen kurzem wechseln, wenn
die Kranken ihren Aufenthaltsort geändert zu haben glauben,
während sie andererseits wirkliche Reisen gewöhnlich gar nicht
verarbeiten. Auch die Schätzung der durchlebten Zeiträume ist
eine ganz unsichere. Meist erscheint den Kranken die Dauer
des Deliriums ungemein lang. Sie berichten daher über ihre
Alkoholismus. 79
krankhaften Erlebnisse, als wenn Wochen oder Monate darüber
hingegangen wären.
Unter den illusionären und hallucinatorischen Trug Wahr-
nehmungen, die anfangs vielleicht nur des Nachts, dann aber
auch bei Tage hervortreten und den Kranken lebhaft beschäftigen,
pflegen diejenigen des Gesichtes zu überwiegen. Die Täuschungen
sind von grosser sinnlicher Deutlichkeit, vielfach schreckhaften und
unangenehmen Inhalts. Meist sehen die Kranken massenhafte kleinere
und grössere Gegenstände, Staub, Flocken, Münzen, Schnapsgläschen,
Flaschen, Stangen. Fast immer zeigen die Gesichtsbilder mehr oder
weniger lebhafte Bewegung, wol im Zusammenhange mit Augen-
muskelbewegungen; auch Doppeltsehen wird beobachtet. Thiere
drängen sich zwischen die Beine, schwirren in der Luft herum, be-
decken das Essen; alles wimmelt von Spinnen „mit goldenen
Flügeln'', Käfern, Wanzen, Schlangen, Gewürm mit langen Stacheln,
Ratten, Hunden, Raubthieren. Grosse Menschenmengen dringen auf
die Kranken ein (feindliche Reiter, sogar „auf Stelzen'', Gensdarmen)
oder marschiren in langen, abenteuerlich gruppirten Zügen an ihnen
vorbei; einzelne gefahrdrohende Spukgestalten, Missgeburten, kleine
Männer, Teufel, „Feuerrüpel", Gespenster stecken den Kopf in die
Thüre, huschen unter den Möbeln herum, steigen auf Leitern in die
Höhe. Seltener sind geputzte, lachende Mädchen oder lascive Sceneu,
Fastnachtsscherze, Theateraufführungen. Ein Kranker sah seine
Frau mit ihrem Liebhaber auf offenem Markte in Gegenwart sämmt-
licher Fürsten und Würdenträger des Deutschen Reiches geschlecht-
lich verkehren. Dazu gesellt sich die Wahrnehmung von brausen-
den Geräuschen, Klingen und Sausen, unbestimmtem Lärm, lautem,
wirrem Geschrei, feiner, schöner Musik, Yogelgesang, von Glocken-
geläute, Kanonenschüssen und Salven, bisweilen auch von deutlichen
Stimmen, Jammern der Angehörigen, Scheltworten, Drohungen und
Anklagen. Dem Kranken sollen Hände und Füsse abgehackt werden;
man will ihn erschiessen, seine Kinder in einer Kiste verschicken.
Durch verschiedenartige absonderliche Empfindungen auf der Haut
entsteht bei dem Kranken die Idee, dass Ameisen, Kröten, Spinnen
auf derselben entlang kriechen; die Genitalien werden ihm ab-
gefressen; die Därme fallen aus dem Leibe; er fühlt sich von
feinen Fäden eingesponnen, mit Wasser angespritzt, gebissen, ge-
stochen, geschossen. Er sammelt Geld, das er massenhaft herum-
80 III. Die Vergiftungen.
liegen sieht und deutlich iu der Hand fühlt, aber es zerrinnt wie
Quecksilber. Was er anfasst, schwindet, kriecht zusammen oder
wächst ins Ungeheure, um wieder zu zerfallen, fortzurollen, weg-
zufliessen. Der unter dem Strohsack versteckte Nebenbuhler ent-
schlüpft immer in dem Augenblicke, wo der Kranke ihn sicher zu
fassen glaubt.
Auf der Höhe des Deliriums kann man dem Kranken fast
immer gewisse Täuschungen durch lebhaftes Einreden suggeriren.
Er sucht auf unsere Aufforderung das Ungeziefer am Rocke zu ent-
fernen, bemüht sich, das angeblich heruntergefallene Geldstück vom
Boden aufzuheben, legt behutsam die Nadel auf den Tisch, die wir
ihm vermeintlich in die Hand gedrückt haben. Wie von Liep-
mann*) und Anderen gezeigt wurde, fangen die Kranken sehr
häufig an, über Gesichtstäuschungen zu berichten, sobald man einen
leichten Druck auf ihren Augapfel ausübt, öfters auch noch in
der Genesungszeit. Sie sehen dann Farben, Blumen, Thiere,
Wörter und Buchstaben, nicht selten alles, was man ihnen gerade
vorredet.
Gerade bei derartigen Versuchen sieht man deutlich, dass viele
dieser Trugwahrnehmungen mehr als Illusionen aufzufassen sind,
insofern die wirkliche Wahrnehmung die erste Anregung zu den-
selben liefert. Die kleinen Knoten und Unregelmässigkeiten des
Gewebes erscheinen wie Flöhe auf dem Bettzeug, die Schrammen
der Tischplatte als Nadeln, Flecke am Boden als Münzen; in den
Wänden öffnen sich geheime Thüren. Wie indessen Bonhöffer
betont hat, ist der eigentliche Ursprung der Täuschungen offenbar
in centralen Vorgängen zu suchen. Dafür spricht auch die von mir
gemachte Erfahrung, dass sich die Gesichtstäuschungen beim Sehen
durch farbige Gläser nicht mitfärben. Die Trugwahrnehmungen treten
auf, sobald die Aufmerksamkeit des Kranken sich auf irgend ein
Sinnesgebiet richtet. Schon Liepmann war es gelungen, Gesichts-
täuschungen durch Verhängen der Augen mit einem schwarzen
Tuche oder Verdunkelung des Zimmers zu erzeugen; nach Bon-
höffers Angaben genügt es, den Kranken einfach zu fragen, was er
sehe, höre, fühle, um sofort eine ganze Reihe von entsprechenden Trug-
wahrnehmungen hervorzurufen. Wir können daher nicht zweifeln,
*) Archiv f. Psychiatrie, XXV, 1.
Alkoholismus. 31
dass wir es mit massenhaften Eigenerregungen in den centralen
Sinnesflächen zu thun haben. Die Gestaltung derselben kann durch
Wahrnehmungen und Vorstellungen bis zu einem gewissen Grade
beeinflusst werden; dafür spricht nicht nur die Zugänglichkeit für
das Einreden, sondern namentlich auch der Zusammenschluss ver-
schiedenartiger Täuschungen zu einheitlichen deliriösen Vorgängen.
Allerdings sind manche Trugwahrnehmungen für den Kranken
nichts als einfache Schaustücke, denen er ohne innere Betheiligung
beiwohnt. So sah ein Kranker eine Anzahl Personen auf Motor-
wagen in seine Stube fahren und dort viele Stunden lang un-
unterbrochen schmausen, ohne ein Wort zu sprechen. Nachher
reinigten sie den Boden und fuhren wieder davon. Meist aber
kommt es zur Aneinanderreihung mehr oder weniger zusammen-
hängender Erlebnisse voll abenteuerlicher Einzelheiten. Der
Kranke durchlebt mit offenen Augen in bunter Folge die merk-
würdigsten und widerspruchsvollsten Ereignisse und vermischt
dabei oft unentwirrbar wirkliche Eindrücke mit deliriösen Wahr-
nehmungen. Einer meiner Kranken sah sich vor ein geheimes Ge-
richt gestellt, bei welchem Trinker und Temperenzler um ihn kämpften.
Andere werden zum Tode verurtheilt, mit scheusslichem Gewürm
eingesperrt, zum Abgesandten Gottes gemacht, ins Bad geführt, vom
Arzt untersucht, von Studenten mit Champagner überschwemmt,
machen Festtafeln und weite Spaziergänge mit, finden sich dann
plötzlich wieder eingesperrt und ihrer Kleider beraubt, alle Ausgänge
mit Marmorsäulen verstellt, an die sie unversehens anstossen.
Meist spielt in den deliriösen Erlebnissen die gewohnte
Thätigkeit eine hervorragende Rolle („Beschäftigungsdelirium").
Die Kranken glauben im Wirthshause zu sein, bestellen Schnaps
oder eine Portion Kalbsbraten, sehen Getränke vor sich, greifen
nach denselben und trinken sie aus, hören Aufträge, serviren den
„Gästen", suchen nach dem „verlegten" Kellerschlüssel, oder sie
wähnen sich mit irgend einer Arbeit beschäftigt, packen Kirschen in
Körbe, nähen mit imaginären Fäden, klopfen mit einem eingebildeten
Hammer, zügeln ihre ungeberdigen Pferde u. dergl. Alle diese
Hantirungen werden mit grosser Ausführlichkeit vorgenommen, genau
wie im wirklichen Leben. Auf Grund dieser Delirien bildet sich
für den Kranken eine völlige wahnhafte Verfälschung seiner Lage
und der sich abspielenden Ereignisse heraus. Dennoch gewinnen diese
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 6
82 in. Diu Vergiftungen.
Wahnvorstellungen eine auffallend geringe Macht über sein Denken
und Handeln. Er pflegt sie nicht weiter zu verarbeiten, vergisst sie
rasch wieder, lässt sich davon abbringen, macht nicht viel Aufhebens
davon. Niemals kommt es, wie Bonhöffer richtig bemerkt, zu
einer wahnhaften Veränderung des Persönlichkeitsbewusstseins. Die
Kranken wissen immer genau, wer und was sie sind, lassen sich
auch in dieser Hinsicht nichts einreden.
Der Gedankengang der Kranken ist meist leidlich zusammen-
hängend; sie pflegen nicht eigentlich verwirrt zu sein. Doch besteht
immer eine ausserordentliche Ablenkbarkeit. Die Zielvorstellungen
sind flüchtig und von geringer Stärke. Zwischenfragen, zufällige
Eindrücke, wol auch Sinnestäuschungen oder auftauchende Yor-
stellungen genügen, um den Gedankengang zu hemmen und in
andere Bahnen zu leiten. Die Kranken sind unfähig, ihre Gedanken
zu sammeln, sich rasch zu besinnen, schwierigere geistige Aufgaben
zu lösen, Widersprüche zu erkennen, ihre Lage zu beurtheilen.
Doch tritt öfters ein gewisses unklares Krankheitsbewusstsein hervor.
Alle diese Eigenthümlichkeiten erinnern uns in hohem Grade an
das Yerhalten des Traumes; sie deuten darauf hin, dass die Yor-
stellungen nur unvollkommen und einseitig beleuchtet sind und nicht
in ihrem ganzen Umfange überblickt werden. Auch die Lebhaftig-
keit der deliriösen Bilder sowie den Yerlust der zeitlichen, räum-
lichen und sachlichen Orientiriing ohne Beeinträchtigung des Per-
sönlichkeitsbewusstseins finden wir ähnlich im Traume wieder.
Die Merkfähigkeit für vorgesagte Wörter und Zahlen ist bei
den Kranken nach Bonhöffers Untersuchungen bedeutend herab-
gesetzt; besser werden Bilder wieder erkannt, weil sie mehr An-
knüpfungen darbieten. Das Gedächtniss für frühere Ereignisse
und Kenntnisse ist in der Regel ungestört. Die Kranken sind im
Stande, über ihr Yorleben, ihr Geschäft eingehende;, richtige Angaben
zu machen; nur in schweren Fällen laufen auch hier Ungeuauig-
keiten und Fehler mit unter. Die Erlebnisse der jüngsten Vergangen-
heit dagegen werden rasch vergessen, verändert, verwechselt; jeden-
falls geht ihre zeitliche Ordnung völlig verloren. Vielfach treten dabei
Erinnerungsfälschungen auf, die anscheinend im Augenblicke
frei entstehen. Die Kranken erzählen, dass sie gerade verreist ge-
wesen seien, Besuch erhalten, eine Arbeit fertig gestellt hätten, lassen
sich in ihren Angaben durch Einwände und Zureden bestimmen ;^
Alkoholiemus. 88
diese Erscheinung erinnert uns an das ebenfalls vielfach auf alkoho-
lischem Boden erwachsende polyneuritische Irresein.
Die Stimmung der Kranken steht im allgemeinen mit dem
Inhalte der Delirien in nahem Zusammenhange. Sie ist daher bald
ängstlich, schreckhaft, bald eigenthümlich humoristisch. Bei dem
raschen Wechsel der deliriösen Erlebnisse ändert sich auch der
Stimmungshintergrund häufig ganz unvermittelt. Der Kranke, dem
der Angstschweiss auf der Stirn steht, macht sich über seine eigene
Lage lustig, bringt witzige Bemerkungen vor, schildert in spasshafter
Weise seine Täuschungen; Lachen und Todesfurcht folgen kurz auf-
einander. Meist bildet sich auf diese Weise ein ungemein bezeichnen-
des Gemisch von geheimer Angst und Humor heraus. Der Kranke
wird durch die Schreckbilder und die Unklarheit seiner Lage be-
unruhigt, empfindet aber doch gleichzeitig mehr oder weniger deut-
lich die lächerlichen Unmöglichkeiten und Widersprüche in seinen
deliriösen Erlebnissen.
Im Benehmen und Handeln des Kranken fällt regelmässig
eine ausgeprägte Unruhe, vielfach auch grosse Schwatzhaftigkeit
auf. Seine Antworten erfolgen, wenn überhaupt, rasch und ohne
langes Besinnen. Er ist völlig ausser Stande, sich wirklich geordnet
zu beschäftigen, wird vielmehr durch die Täuschungen vollkommen
in Anspruch genommen. Selten lässt er dieselben einfach an sich
vorüberziehen; meist veranlassen sie ilm zu lebhaften Aeusserungen.
Er antwortet laut auf die rufenden Stimmen, vertheidigt sich gegen
die Vorwürfe, bleibt nicht im Bett, drängt zur Thür hinaus, weil es
bereits die höchste Zeit zu seiner Hinrichtung sei. Alle schon auf
ihn warten. Ueber die wunderlichen Thiere belustigt er sich,
schreckt vor den schwirrenden Vögeln zurück, sucht das Gewürm
wegzuwischen, die Käfer zu zertreten, greift mit gespreizten Fingern
nach den Flöhen, sammelt das überall herumliegende Geld auf, sucht
die ihn umspinnenden Fäden zu zerreissen, hüpft mit peinlicher
Anstrengung über die an der Erde gezogenen Drähte hinweg. Dazu
gesellen sich die mannigfachsten Handlungen, welche aus dem oben
erwähnten Beschäftigungsdelirium hervorgehen. Verhältnissmässig
selten kommt es auch wol einmal zu plumpen Angriffen auf die
für feindselig gehaltene Umgebung oder zu ernsthafteren Selbst-
mordversuchen. Häufiger verunglücken die Kranken in ihren
deliriösen Unternehmungen. Einer meiner Kranken stürzte sich in
6*
84
in. Die Vergiftungen.
der Haft aus Angst vor dem eintretenden Diener zwei Treppen hoch
aus dem Fenster und brach den Eadius; ein Student zwängte sich
durch das Fenster seines Zimmers, um auf einen hallucinirten
Bahnsteig zu gelangen, fiel auf das Geländer des einen Stock tiefer
gelegenen Balkons und blieb dort im weichen Schnee liegen, ohne
sich verletzt zu haben.
Auf sensiblem Gebiete können Paraesthesien, Hyperaesthesien,
Anaesthesien und Analgesien bestehen, wie sie den chronischen
Schriftprobe I. Alkoholisches Zittern.
AlkohoHsmus überhaupt zu begleiten pflegen. Die Bewegungen sind
plump, ungeschickt, fahrig; oft besteht grosse Hinfälligkeit und
Muskelschwäche. Der Gang ist meist unsicher und taumelnd. Die
Sprache zeigt öfters ataktische und paraphasische Störungen, Yer-
sprechen. Verwechseln von Buchstaben und Wörtern; sie kann in
schweren Fällen lallend und ganz unverständlich Averden. Das auf-
fallendste Zeichen aber, welches der Krankheit den Namen gegeben
hat, ist das starke, an Zunge und gespreizten Fingern regelmässig
sehr deutlich hervortretende Zittern, welches sich auch noch weiter
über Gesicht und Extremitäten ausbreiten kann. Sehr schön prägt
Alkoholismus. 85
sich dieses Zittern in der beiliegenden Schriftprobe*) aus, die auf
den ersten Blick den Eindruck einer paralytischen macht. Die
Eegelmässigkeit der Wellenlinien, wie sie besonders in den langen
Zügen hervortritt, weist indessen auf die alkoholische Entstehung
hin. In einzelnen, besonders sciiweren Fällen treten auch stärkere
Muskelstösse und selbst tonische Spannungen auf, wahrscheinlich
als Theilerscheinungen der Alkoholepilepsie. Bisweilen beobachtet
man Zähneknirschen. Die Gesichtszüge sind schlaff; häufig machen
sich einzelne unwillkürliche Zuckungen und Mitbewegungen bemerk-
bar. Recht häufig sind schwere epileptiforme Krämpfe, die in
etwa 10 o/o der Fälle 1 — 2 Tage vor Ausbruch der Erkrankung,
seltener während derselben auftreten. Die ßeflexerregbarkeit
ist meist gesteigert, besonders hochgradig kurz vor epileptischen An-
fällen. In vereinzelten, mit derartigen Krämpfen sehr heftig ein-
setzenden Fällen scheinen nach Bonhöffers Schilderung gröbere
Herderscheinungen, Facialislähmung und Hemiparesen vorzukommen,
die ungemein rasch wieder verschwinden.
Der Schlaf ist im Delirium tremens nahezu gänzlich aufge-
hoben; die Unruhe pflegt sich gegen Abend zu steigern und dauert
ohne jede oder doch nur mit sehr geringen Unterbrechungen fort,
wenn nicht der Eintritt soporöser Zustände eine ungünstige Wendung
des Krankheitsverlaufes ankündigt. Die Ernährung ist durch die
ängstliche Erregung der Kranken, durch den regelmässig bestehen-
den Katarrh des Mundes und Magens sowie durch gelegentliche Ver-
giftungsideen mit Nahrungsverweigerung empfindlich beeinträchtigt;
das Körpergewicht pflegt erheblich zu sinken. Die Eigenwärme soll
nach den Angaben von Friis und Jacobson auch in 80 — 90%
derjenigen Fälle erhöht sein, die nicht mit anderweitigen körperlichen
Erkrankungen einhergehen. Ihr Höhepunkt wird am 1. oder 2. Tage
erreicht; dann erfolgt langsames oder plötzliches Sinken. Bisweilen
schiebt sich ein fieberloser Tag in den sonst fieberhaften Verlauf ein.
In einzelnen Fällen erreicht die Temperatursteigerung eine gefähr-
liche Hartnäckigkeit und Höhe (bis zu 43 °) mit tödtlichem Ausgange
(Delirium tremens febrile von Magnan); es dürfte sich hier
wol immer um Infectionen handeln, für deren Zustandekommen bei
der Unempfindlichkeit und geringen Widerstandsfähigkeit der Kranken
*) Dieselbe ist, wie alle folgendeD, auf "'3 verkleinert.
86 III. Die Vergiftungen.
sehr günstige Bedingungen gegeben sind. Die Pulsgeschwindigkeit
ist beschleunigt, weniger diejenige der Athmung; häufig treten starke
Schweisse auf. Im Harn fand Liepmann*) auf der Höhe der
Krankheit in 767o der Fälle Eiweiss, in 26^/0 sogar grössere Mengen.
Meist verschwand das Eiweiss mit dem Aufhören des Deliriums sehr
rasch ; in 24 °/o der Fälle Hess es sich auch später noch nachweisen,
stand also wahrscheinlich mit den allgemeinen Veränderungen des
chronischen Alkoholismus in Zusammenhang. Albumosen fanden
sich verhältnissmässig selten, ungemein häufig dagegen Nucleoalbumin.
Ton erheblicher Bedeutung für das Verständniss des Delirium tremens
sind endlich vielleicht noch die von Eisholz**) erhobenen Blut-
befunde. Er konnte nachweisen, dass die Zahl der weissen Blut-
körperchen auf der Höhe der Krankheit nicht selten vermehrt ist.
Ganz besonders nahmen die polynucleären Formen zu, während die
eosinophilen Formen verschwanden.
Der Verlauf des Delirium tremens ist meist ein rascher und
günstiger. Die Genesung vollzieht sich unter dem Eintritte
von Schlaf, gewöhnlich mit einem Male, oder aber unter allmäh-
lichem Zurücktreten der Sinnestäuschungen, die noch in beschränktem
Grade fortbestehen können, wenn der Kranke schon im Stande ist,
sie zu berichtigen. Mit dem Schlafe hört die Unruhe und das starke
Zittern auf, während der feinschlägige Tremor des chronischen Alkoho-
listen zurückbleibt. Die Eigenwärme sinkt; der Puls fällt plötzlich;
das Eiweiss im Harn verschwindet, und die oben erwähnten Blut-
veränderungen bilden sich zurück, verkehren sich sogar zunächst nicht
selten in ihr Gegentheil, um dann allmählich dem gewöhnlichen Ver-
halten zu weichen. So erweisen sich die eosinophilen Formen bis-
weilen längere Zeit hindurch sehr stark vermehrt, während die Zahl
der polynucleären Leukocythen bedeutend zurücktritt. Nach Jacob-
sons***) Uebersicht stellt sich der Schlaf in 80% der Fälle ohne
sonstige Erkrankung nach drei Tagen ein ; die kürzeste von ihm be-
obachtete Dauer des Deliriums war l^/a — 2, die längste 5 Tage. Die
Erinnerung an die wahnhaften Erlebnisse ist im Gegensatze zu den
Krankheitszuständen mit sehr tiefer Bewusstseinstrübung oft, wenn
*) Archiv f. Psychiatrie, XXVIII, 570.
**) Jahrbücher f. Psychiatrie, XV, 2. u. 3.
***) Allgen). Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 221.
Alkoholismus. 8 7
auch nicht immer, bis in die Einzelheiten klar. Spätere Wieder-
erkrankungen sind aus nahe liegenden Gründen ungemein häufig.
In ungünstig verlaufenden Fällen treten früher oder später die
psychischen Lähmungserscheinungen stärker hervor. Die Kranken
■werden unbesinnlich, deliriren ganz zusammenhangslos; die Be-
wegungen Averden schwächer und schlaffer; der Puls ^vird klein,
frequent, unzählbar, und unter rascher Zunahme der Benommenheit
oder in plötzlichem Zusammenbruche tritt der Tod ein. Dieser Aus-
gang ist bei sorgsamer Anstaltsbehandlung in etwa 3 — 5%, nach
Jacobsons Angaben sogar in 19<'/o der Fälle zu erwarten. Die
wichtigste Todesursache bilden die Pneumonie, welche die Sterblich-
keit auf 40,5 •'/o steigert, ferner Herzschwäche, Blutvergiftung in
Folge von Verletzungen, endlich Selbstmord und Unglücksfälle.
Die Leichenöffnung pflegt sehr hochgradige venöse Stauungen
und Oedeme des Schädelinhaltes zu ergeben. Bonhöffer*) fand
namentlich in den Radiärfasern der Centralwindung , im Mark-
lager des Kleiuhirnwurms, aber auch in den Vorder- und Seiten-
strängen des Rückenmarkes erheblichen Faserschwund; Schläfen-
lappen und Broca'sche Windung erwiesen sich als wenig oder
gar nicht verändert. An den grossen Pyramiden und den motori-
schen Zellen der vorderen Centralwindung war die Zeichnung
der ungefärbten Substanz mehr oder weniger verloren gegangen;
die Fortsätze waren auffallend weit gefärbt. Hie und da Hessen
sich Kernveränderuugen erkennen. Eine Anzahl von Zellen er-
schien in Auflösung begriffen. Entsprechende Umwandlungen er-
gaben sich an den Purkinje'schen Zellen. Xissl konnte ebenfalls
eine theilweise Vernichtung der Rindenzellen nachweisen. Ferner
fand sich eine Veränderung, die an andere acute Zellerkrankungen
erinnerte, Färbung der ungefärbten Substanz^ insbesondere des Axen-
cylinderfortsatzes, Lockerung der Zellsubstanz und leichte Schwellung.
Daneben bestanden chronische Zellveränderungen und Gliawucherung.
Ein Theil dieser Veränderungen dürfte auf den chronischen Alkoholis -
mus zu beziehen sein. Dahin gehören auch die miliaren Blutungen,
die sich hie und da, besonders in der Gegend der Augenmuskel-
kerne, finden, ferner die Gefässerkrankungen. Ebenso sind wol die
so häufige Verfettung und Entartung des Herzens, die Cirrhose
*) Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie, I, 229.
88 in. Die Vergiftungen.
und VeifettuDg der Leber, die Nierenveränderungen aufzufassen.
Dagegen glaubt Jacobson für das Delirium tremens die Erfahrung
verwerthen zu können, dass in 45 von 72 Todesfällen acute Hyper-
plasie, in weiteren 9 Fällen Hyperämie der Milz gefunden wurde.
In einer kleinen Zahl von Fällen gelangt das Delirirm tremens
mit dem Eintritte von Schlaf noch nicht zum Abschlüsse. Zunächst
kommt es vor, dass sich nach wenigen Tagen ein zweiter Anfall
des Deliriums entwickelt, der dann in Genesung übergeht. Weiter-
hin aber kann sich mit dem Schwinden des deliriösen Zustandes das
Krankheitsbild vollständig ändern. So weist Bon hoff er darauf hin,
dass anscheinend einfache Delirien nicht selten in polyneuritische
Geistesstörungen übergehen. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, in
einer Reihe von Fällen andersartige psychische Erkrankungen nach
dem Ablaufe des Delirium tremens zu beobachten. Einmal sah ich
einen nach zwei Monaten günstig verlaufenden Zustand auftreten,
der mit seinen eigenthümlichen Gehörstäuschungen und "Wahn-
bildungen einigermassen an den später zu schildernden Alkohol-
wahnsinn erinnerte. Andererseits ist mir in den letzten Jahren mehr-
fach der Ausgang des Delirium tremens in einen eigenartigen
Schwachsinn begegnet, der noch keine genauere Beachtung gefunden
zu haben scheint.
Mit dem Schwinden der Sinnestäuschungen, der Desorientirung,
der Unruhe werden die Kranken nicht frei und einsichtig. Sie sind
zwar besonnen, geordnet, klar, erkennen auch wol an, dass sie krank
gewesen sind, delirirt haben, bleiben aber zurückhaltend und miss-
trauisch ; bisweilen lässt sich das Fortbestehen einzelner Täuschungen
nachweisen, namentlich im Bereiche des Gehörs. Allmählich treten
Verfolgungsideen hervor, deren Richtung vielfach zu wechseln pflegt.
Sie glauben beschimpft zu werden; man reizt sie. zeigt ihnen die
Zunge, greift ihnen an die Geschlechtstheile, treibt ihnen Nachts
den Samen ab, elektrisirt sie. Ein Kranker hielt Jahr und Tag
hartnäckig an der Yorstellung fest, dass man seinen Leichnam an
die Anatomie verkaufen wolle, bat allen Ernstes, man möge ihn
nicht hinterrücks überfallen, sondern sanft einschläfern. Irgend eine
Weiterentwicklung der Wahnideen findet nicht statt; sie bleiben
vielmehr ganz einförmig, werden fast mit denselben Wendungen
immer wieder vorgebracht. Hie und da gesellen sich vorübergehend
einmal Grössenideen hinzu, die in scherzhafter Form geäussert und
Alkoholismus. 89
nicht festgehalten werden. Das Urtheil über die Umgebung ist in
der Regel ein ganz treffendes; dennoch lässt sich ein erheblicher
Grad von geistiger Schwäche und Stumpfheit trotz guten Gedächt-
nisses nicht Terkennen.
Die Stimmung ist halb ängstlich oder ärgerlich, halb humoristisch;
die Kranken machen gern Witze und scherzhafte Bemerkungen über
sich und Andere, können aber auch in heftige Erregung gerathen.
Im allgemeinen pflegen sie gutmüthig, leicht lenksam und willens-
schwach zu sein. Die bemerkenswertheste Eigenthümlichkeit dieser
Zustände sind die deutlichen Schwankungen, die sie darbieten.
Zu Zeiten erscheinen die Kranken leidlich einsichtig, meinen selbst,
dass sie krank seien, wissen nicht, wie sie zu den dummen Ideen
kommen, beschäftigen sich, verkehren freundlich mit ihren angeb-
lichen Peinigern. Zu andern Zeiten werden sie ohne erkennbaren
Anlass gereizt, bringen die alten Klagen vor, halluciniren, schimpfen,
drohen, werden auch wol gewaltthätig, sind aber meist durch Zu-
spruch leicht zu beruhigen. Bisweilen ist ein solcher Anfall schon
nach wenigen Tagen vorüber, so dass man an epileptische Erregungs-
zustände erinnert wird; in anderen Fällen besteht dauernd ein ge-
wisses Misstrauen, das sich nur gelegentlich in heftigeren Aus-
brüchen entladet. Soviel ich bisher feststellen konnte, scheinen diese
Schwächezustände sich nicht mehr auszugleichen.
Unter den Deliranteu überwiegt aus nahe liegenden Gründen
das männliche Geschlecht ganz bedeutend. Jacobson sah unter 300
derartigen Kranken nur 19 Weiber; 74% der Kranken standen
zwischen dem 30. und 50. Lebensjahre.
Die eigentlichen Ursachen des Delirium tremens sind noch
dunkel. Man nimmt gewöhnlich an, dass sich dasselbe ganz be-
sonders gern an irgend eine schwächende Einwirkung anschliesst,
namentlich an Verletzungen, fieberhafte Erkrankungen, starke ge-
müthliche Erregungen (Yerhaftung). Jacobson hat indessen darauf
hingewiesen, dass immerhin die weit überwiegende Zahl von Delirien
ohne erkennbare äussere Ursache ausbricht. Er fand unter 280 Fällen
nur 14, in denen eine einigermassen erhebliche Verletzung voraus-
gegangen war, und auch hier war meist ein ursächlicher Zusammen-
hang unwahrscheinlich, oder die Verletzung erschien geradezu als
die Folge der beginnenden deliriösen Benommenheit, namentlich ein-
leitender Krampfanfälle. Verhältnissmässig häufig bricht das Delirium
90 III- Die Vergiftungen,
am 3. oder 4. Tage einer Pneumonie aus. Auch gehäuftes Trinken
dürfte nicht ohne Bedeutung sein. Endlich aber ist, wie ich glaube,
auf die schwere chronische Schädigung der allgemeinen
Ernährung Gewicht zu legen. Yon den meisten Deliranten erfährt
man, dass sie in Eolge ihres Magenkatarrhs seit Wochen oder Mo-
naten sehr wenig Nahrung zu sich genommen haben. Gar keine be-
sondere Wirkung dagegen möchte ich der plötzlichen Entziehung des
Alkohols zuschreiben, die von manchen Seiten als die wichtigste Ursache
des Deliriums angesehen wird. Die Störung bricht vielfach trotz fort-
gesetzten Alkoholgenusses und ebenso noch längere Zeit nach völliger
Entziehung desselben aus. Einen Epileptiker sah ich nach 14tägiger
Haft im Anschlüsse an einen epileptischen Dämmerzustand ein un-
zweifelhaftes Delirium tremens durchmachen.
Jedenfalls bestehen unverbrüchliche Beziehungen zwischen
Delirium tremens und chronischem Alkoholismus. Namentlich der
Schnaps spielt in dieser Beziehung die Hauptrolle, aber auch der
Wein, weniger das Bier. Gleichwol trägt das Delirium tremens
durchaus andere Züge, als die uns so wohlbekannte Alkoholvergiftung.
Ihm fehlt vor allem die Ideenflucht, während es auf der anderen
Seite in den ungemein lebhaften Sinnestäuschungen ganz neue,
eigenartige Krankheitszeichen aufweist. Dazu kommt, dass die Krank-
heit innerhalb weniger Tage schwindet, selbst wenn Alkohol fort-
gegeben wird, dass sie nach längerer Enthaltsamkeit doch noch auf-
treten kann, und dass sie durchaus nicht jeden Trinker befällt,
auch wenn derselbe sonst die Zeichen des chronischen Alkoholismus
deutlich darbietet. Aus diesen Erwägungen scheint mir hervor-
zugehen, dass bei der Entstehung des Deliriums ausser dem Alkohol-
missbrauche noch irgend ein besonderer Umstand mitwirken muss,
den wir bisher nicht kennen. Ich bin geneigt, anzunehmen, dass
hier die mannigfaltigen und schweren Organveränderungen eine
Rolle mitspielen, welche der chronische Alkoholismus erzeugt. Wahr-
scheinlich kommt es, wie ja auch die Blutarmuth und der Fettreich-
thum der Trinker zeigen, zu tiefgreifenden Stoffwechselstörungeu, in
deren Verlaufe irgend ein ungünstiges Ereigniss jene Gleichgewichts-
schwankung hervorrufen kann, die sich uns klinisch als Delirium
tremens darstellt.
Zu ähnlichen Ansichten sind eine Reihe von anderen Forschern
gekommen. Jacobson weist besonders noch auf die Möglichkeit
Alkoholismus. 91
einer Aufnahme von Zersetzimgsstoffen aus dem Darme hin, und
auch Eisholz tritt im Hinblicke auf die von ihm nachgewiesenen
Blutveränderungen für die Annahme einer eigenartigen Selbstver-
giftung ein. Er meint, dass der Alkohol gewissermassen als Gegen-
gift gegen das im Körper gebildete Gift wirke, und führt darauf
den Drang des Trinkers zum Alkohol Avie die bessernde Wirkung
des letzteren auf die Ataxie und das morgendliche Erbrechen zu-
rück. Ich möchte dagegen glauben, dass zur Erklärung der an-
geführten Erfahrungen die narkotisirenden, die euphorischen, psycho-
motorisch anregenden und weiterhin den "Willen lähmenden Wirkungen
des Alkohols völlig ausreichen. Immerhin deuten die Befunde im
Blute wie im Harn, die beide weder durch unmittelbare Alkoholwirkung
noch durch Fieber zu Stande kommen, ferner die häufigen Steige-
rungen der Eigenwärme und endlich das ganz eigenartige psychische
Kraukheitsbild mit grösster W^ahrscheinlichkeit darauf hin, dass wir
es im Delirium tremens nicht mit einer einfachen Steigerung der
chronischen Alkoholvergiftung, sondern mit einer wesentlich anders-
artigen Vergiftung zu thun haben, die durch den Alkoholmissbrauch
nur vorbereitet wird. Wir beobachten übrigens bei sicher nicht
trinkenden Paralytikern bisweilen rasch verlaufende Erregungs-
zustände, die dem Delirium tremens ganz ausserordentlich ähn-
lich sind.
Eine gewisse Bestätigung der hier entwickelten Anschauung
scheinen mir auch die nicht seltenen Fälle von abgekürzten und nur
angedeuteten Formen des Delirium tremens zu liefern. Hier kommt es
vorübergehend zu einzelnen schlaflosen Nächten, zu leichter Aengst-
lichkeit und Benommenheit mit einzelnen Sinnestäuschungen und
rasch berichtigten Wahnbildungen. Auch nächtliche Sinnestäuschungen
ohne weitere psychische Störung bei voller Krankheitseinsicht kommen
bisweilen vor. Sehr viele meiner Kranken hatten vor dem ausge-
prägten Delirium solche leichtere Anfälle durchlebt, ein Zeichen
dafür, dass die Störung öfters schon längere Zeit vorbereitet ist,
bevor der endgültige Ausbruch erfolgt. Eine Frau begab sich
schon ein Vierteljahr vorher immer mit einer Gabel bewaffnet
zu Bett, weil sie die unbestimmte Furcht hatte, abgeholt und fort-
geschleppt zu werden. Ein anderer Kranker suchte sich mehr-
fach durch Schiessen gegen die ihn bedrohenden Gestalten zu ver-
theidigeu.
92 III. Die Vergiftungen.
Die Erkennung des Delirium tremens bietet bei genauer
Beachtung des Krankheitsbildes gewöhnlich keinerlei Schwierigkeiten.
Den oben erwähnten paralytischen Kranken fehlt der Humor der
Trinker; auch pflegen sie weniger mittheilsam und benommener zu
sein. Die schweren Dämmerzustände mit Herderscheinungen, wie
sie bisweilen im Anschlüsse an einen Krampfanfall die Einleitung
des Deliriums bilden, können mit Meningitis verwechselt werden
bis die rasche Besserung und das Hervortreten der bekannten
Krankheitszeichen die Sachlage klärt. Man wird dabei das Fehlen
der Nackenstarre zu beachten haben. Recht häufig sind Mischungen
von Fieberdelirien oder epileptischen Dämmerzuständen mit Delirium
tremens. Meist findet man hier eine stärkere Bewusstseinstrübung,
bei der Epilepsie auch verworrene Wahnvorstellungen, besonders
religiösen Inhalts, während der alkoholische Einfluss sich in der
Unruhe, den lebhaften Sinnestäuschungen, dem Beschäftigungsdelirium
und dem Zittern bemerkbar macht. Aehnliches gilt von der Mischung
paralytischer und alkoholischer Delirien, denen die Verfälschung des
Persönlichkeitsbewusstseins ihre eigenthümliche Färbung- giebt. Die
seltenen schwachsinnigen Endzustände nach Delirium tremens werden
vielfach als Paranoia aufgefasst. "Was sie davon unterscheidet, ist
das Fehlen jeder Systematisirung und Fortentwicklung der Wahn-
vorstellungen, ihr geringer Einfluss auf das Handeln, endlich das
deutliche Schwanken zwischen halber Einsicht und wahnhafter Be-
fangenheit im Zusammenhange mit Stimmungsänderungen.
Die Behandlung des Delirium tremens hat sich vor allem
jedes schwächenden Eingriffes zu enthalten und für die möglichste
Erhaltung der Kräfte durch gute Ernährung (Milch) Sorge zu
tragen. Schon von vorn herein ist bei körperlich erkrankten Trinkern
stets die Möglichkeit eines eintretenden Delirium tremens ins Auge
zu fassen und daher nach den angedeuteten Gesichtspunkten zu ver-
fahren. In einer grossen Zahl von Fällen wird man mit dem rein
zuwartenden Verfahren vollständig auskommen. Bisweilen jedoch
erscheint es nothwendig, die Unruhe und Schlaflosigkeit entschieden
zu bekämpfen. Zu diesem Zwecke wird man sich des Paraldehyd,
des Sulfonal oder Trional bedienen; das Chloralhydrat ist nicht un-
gefährlich. Freilich versagen oft alle Schlafmittel, v. Krafft-Ebing
hat dringend die bis zum Eintreten des Schlafes alle 2 — 3 Stunden
wiederholte subcutane Anwendung des Methylal (je 0,1 gr) ange-
Alkoholismus. 93
rathen, welche den grossen Vorzug haben soll, die Dauer des
Deliriums abzukürzen. Wo die Zeichen vorgeschrittener Alkohol-
entartung vorliegen, bei schwereren Complicationen und bei Fieber
wird auch das Opium (subcutan 0,05 gr Extr. Opii aquosi alle
3 — 4 Stunden, bis Schlaf eintritt) warm empfohlen. Dabei ist die
Herzthätigkeit sorgfältig zu überwachen. Rasches Abbrechen der
Opiumbehandlung muss vermieden werden. Den Alkohol wird man
in der Regel vollkommen entbehren können, zumal seine Unschäd-
lichkeit nicht ganz zweifellos ist; ich sah sehr schwere Fälle ohne
denselben überraschend günstig verlaufen. Dagegen ist bei Herz-
schwäche ein anregendes Verfahren ohne Narkotica am Platze (Aether,
Campher, starker Kaffee, kühle Uebergiessungen).
Von grösster Wichtigkeit ist endlich bei der bekannten Ge-
fährlichkeit dieser Kranken für sich und Andere eine sorgfältige,
unausgesetzte Ueber wachung. Ausgezeichnet bewährt sich auch
hier das Dauerbad. Ebenso sind Polsterbetten sehr empfehlens-
werth, aber nur dann, wenn sich beständig Pflegepersonal in
unmittelbarer Nähe befindet; im anderen Falle kann das Hinaus-
klettern des ungeschickten Kranken über die hohe Seitenwand
zu schweren Verletzungen Veranlassung geben. Die Genesung
ist durch die Sorge für Beseitigung der Verdauungsstörungen
und gute Ernährung sowie durch Regelung des Schlafes zu unter-
stützen.
Eine weitere Form des alkoholischen Irreseins stellt der hallu-
cinatorische Wahnsinn der Trinker dar. Es handelt sich dabei um
die acute Entwicklung eines zusammenhängenden Verfolgungs-
wahns, vorzugsweise auf Grund von Gehörstäuschungen, bei nahezu
völliger Klarheit des Bewusstseins. Der Beginn der Erkrankung
ist in der Regel ein plötzlicher; seltener geht derselben ein kurzes
Vorläuferstadium voran, mit grundloser Verstimmung, Reizbarkeit,
Erschwerung des Denkens, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit. Der
Kranke hört, häufig zuerst des Nachts, allerlei unbestimmte Ge-
räusche, Rauschen, Bienensummen, Glockenläuten, Schiessen, dann
einzelne Aeusserungen oder auch ganze Gespräche, die sich mit
seiner Person beschäftigen. Von der Strasse her, vom Gang draussen,
aus dem Nebenzimmer tönen die Stimmen, bisweilen flüsternd, bis-
weilen mit vollkommener Deutlichkeit. Hie und da werden sie nur
mit einem Ohre Avabrgenommen. Meist sind es die Stimmen von
94 in. Die Vergiftungen.
Bekannten, oder sie werden doch bestimmten Personen, Polizisten,
dem Staatsanwalt, den Socialdemokraten zugeschrieben.
Der Inhalt dieser Täuschungen ist für den Kranken meist wenig
angenehm. Er hört Yorwürfe und Drohungen; er sei ein Lump,
ein Taugenichts, habe über Kaiser und Krone geschimpft, Gottes-
lästerungen begangen, eine goldene Uhr gestohlen, wichtige Papiere
zerrissen; es ist ein Preis auf ihn gesetzt; man wird ihn durch-
prügeln, mit Steinen werfen, lynchen, erschiessen, abstechen wie ein
Schwein. Weit seltener sind Mittheilungen, dass ein Vorgesetzter
sich sehr anerkennend geäussert habe, dass der Kranke zur Be-
förderung vorgeschlagen werde u. dergl. Vielfach beziehen sich die
Stimmen auf alle möglichen Erlebnisse aus der Vergangenheit,
hecheln in Spottliedern und Knittelversen sein früheres Leben durch
oder begleiten mit höhnischen, neckenden Bemerkungen die Hand-
lungen und Bewegungen des Kranken, machen sich über seine
Kleidung lustig, lachen über seine Angst, erzählen, dass die Frau
gestorben, den Kindern der Hals abgeschnitten worden sei. Bis-
weilen folgen sie auch seinen Gedanken, sprechen sie laut aus,
machen Einwendungen, verspotten sie. Zunächst sind es gewöhn-
lich nur einzelne abgerissene Bemerkungen, die „telephonirt'' werden,
oft in rhythmischem Tonfalle, so dass man ihre Anknüpfung an die
Gefässgeräusche gut verfolgen kann. Später aber kommt es vielfach
zu langen, eingehenden Unterhaltungen, Berathungen über die zweck-
mässigste Art, dem Kranken zu Leibe zu gehen, zu Wechselreden
zwischen Verfolgern und Vertheidigern, ganzen Gerichtsverhandlungen.
Ein Kranker hörte im Nebenzimmer den Staatsanwalt eine lange
Anklageschrift verlesen, dass er neunfacher Mörder und zum Tode
verurtheilt sei. Ein anderer hörte im Gasthause den Wirth mit
Frau und Tochter streiten, ob man ihn erschiessen solle oder nicht;
unterdessen begehrten Verwandte unten Einlass, und auf der Strasse
schrie Jemand: „Das ist ja ein Bordell!" In diesen Fällen spielt
sich alles so natürlich ab, dass der Kranke auch keinen Augenblick
an der Wirklichkeit des von ihm vermeintlich durchlebten Aben-
teuers zweifelt. Fast immer wenden sich die Stimmen nicht geradezu
an ihn, sondern er ist gewissermassen nur unfreiwilliger Zuhörer;
seltener werden ihm einzelne Schimpfworte unmittelbar zugerufen
oder Befehle ertheilt.
Ausser den Gehörstäuschungen bestehen in manchen Fällen
Alkoholismus. 95
vorübergehend solche des Gesichts, namentlich des Nachts, meist
ziemlich unbestimmten Inhalts. Der Kranke sieht alles blau, Funken
vor den Augen, Feuerschein, Tupfen an der AVand, nimmt drohende
Gestalten, Schatten wahr, die auf ihn zukommen, ihn berühren. Fliegen
schwirren in der Luft; Ungeziefer kriecht auf dem Bett; grosse
Hunde laufen durchs Zimmer; die Gegenstände erscheinen doppelt.
Das Essen hat einen eigenthümlichen Geschmack, wirkt aufregend.
In Verbindung mit den Hallucinationen entwickelt sich regel-
mässig bei dem Kranken die Ueberzeugung, dass er Gegenstand
der allgemeinen Aufmerksamkeit ist, dass alle Welt über ihn spricht,
ihn beobachtet und bedroht. Offenbar hat man seineu ganzen Lebens-
schicksalen nachgespürt, ihm Geheimpolizisten nachgeschickt, Mittel
und Wege gefunden, ihn auf das genaueste zu überwachen, jede
seiner Bewegungen, ja jeden Gedanken sofort zu bemerken. Es
müssen besondere Vorrichtungen bestehen, die das ermöglichen, ge-
heime Löcher in den Wänden, elektrische Signalapparate, Telephone,
Spiegel u. dergl. Die Feinde stehen draussen und lauern ihm auf,
versammeln sich in einem nahe gelegenen Hause, schiessen zum
Fenster herein; das Blutgerüst wird aufgerichtet. In Folge dessen
wird er misstrauisch gegen seine Umgebung, die alle seine Wahr-
nehmungen einfach in Abrede stellt, hinter seinem Rücken aber, wie
er durch die Stimmen erfährt, gegen ihn arbeitet. Gelegentlich
werden nun auch wirkliche Eindrücke im Sinne der Verfolgungs-
ideen gedeutet. Ein harmloser Mitreisender in der Eisenbahn führt
Böses im Schilde, so dass der Kranke auf der nächsten Station den
Zug verlässt und in entgegengesetzter Richtung weiterfährt; ein
Mann, der sich mit einem grossen Messer am Nebentische die Cigarre
abschneidet, erscheint in höchstem Maasse verdächtig. In den Zei-
tungen finden sich feindselige Anspielungen; die harmlose Aeusserung,
dass das Fleisch nicht reiche, macht dem Kranken klar, dass man
ihn abschlachten wolle.
Das Bewusstsein ist dabei kaum getrübt. Es besteht nur
eine ganz geringe, erst bei genauerer Beobachtung auffallende Be-
nommenheit und Verstörtheit. Der Kranke ist besonnen, über seine
Umgebung orientirt, denkt im ganzen folgerichtig und vermag über
seine Krankheitserscheinungen zusammenhängende Auskunft zu geben,
ist freilich meist sehr zurückhaltend. Eine klare Krankheitseinsicht
ist nicht vorhanden; bisweilen betrachtet er die Zumuthung einer
96 III- Die Vergiftungen.
Geistesstörung geradezu als einen besonders heimtückischen Schach-
zug seiner Verfolger, die ihn nunmehr auch noch „närrisch" machen
wollen. Gleichwol hat der Kranke oft ein deutliches Gefühl für die
Yeränderung, die sich mit ihm vollzogen hat. Er sucht daher bis-
weilen selbst ein Krankenhaus auf oder giebt auf die plötzliche
Frage, wie lange er schon krank sei, zunächst unbefangen die richtige
Antwort, auch wenn er sich vorher für völlig gesund erklärt hat.
Andere Kranke sprechen geradezu von ihrer „temporären Verrückt-
heit", ihrer „Nervenschwäche", ihrem „angeblichen Verfolgungswahn",
ohne doch die Krankheitserscheinungen im einzelnen berichtigen zu
können.
Die Stimmung der Kranken lässt meist jene eigenthüuiliche
Mischung von Angst und Humor erkennen, wie wir ihr schon
beim Delirium tremens begegnet sind. Die Kranken erzählen ihre
schrecklichen Erlebnisse mit merkwürdigem Gleichmuthe, lachen
dabei vielleicht selbst darüber, dass man ihnen so viel Aufmerksam-
keit schenke, sie für Raubmörder halte. Namentlich im Beginne
kommt es jedoch nicht selten auch zu heftigeren Angstanfällen. Ein
Kranker stürzte sich ins Wasser, weil er gehört hatte, dass ihn vier
Männer zum Frühstück verzehren wollten; ein anderer suchte sich
die Pulsadern mit einem Beil aufzuhacken. Wieder ein anderer
kletterte nach einem missglückten Selbstmordversuche vor Angst in
den Kamin einer Polizeiwache, in dem er ohne Nahrung drei Tage
lang verborgen blieb, um endlich von selbst wieder hervorzukriechen.
In den Zwischenzeiten jedoch sind die Kranken ruhig, mit sich
selbst beschäftigt, kümmern sich wenig um die Vorgänge in ihrer
Umgebung, geben einsilbige, zutreffende, aber oft etwas zusammen-
hangslose Antworten, erzählen nicht viel aus eigenem Antriebe.
Ihr Benehmen ist im allgemeinen geordnet, so dass sie bisweilen
noch wochenlang ihren Geschäften nachzugehen, selbst Reisen zu
machen im Stande sind. Oefters begehen sie dabei allerdings ganz
absonderliche Handlungen, die sich später aus ihren Wahnideen er-
klären. Ein derartiger Kranker sprang stundenlang im Zimmer
umher, um seinen Feinden kein sicheres Ziel zu bieten, und brachte
dabei mit seinem Taschenmesser ein knackendes Geräusch hervor,
damit man glauben solle, er besitze einen Revolver. Andere ver-
kriechen sich unter die Betten, bauen Barrikaden vor ihrer Thüre,
legen sich an der Fensterwand auf den Boden, um nicht getroffen
Alkoholismus. 97
zu \verden_, oder verschaffen sich Waffen, um im Nothfall ihr Leben
so theuer wie möglich zu verkaufen. Seltener schreiten sie in der
Verzweiflung geradezu zum Angriffe auf ihre vermeintlichen Ver-
folger. Der Schlaf der Krauken ist regelmässig erheblich gestört,
weniger der Appetit, der nur bisweilen durch Vergiftungsideen be-
einträchtigt wird. An den Händen und an der Zunge besteht öfters,
aber nicht immer, alkoholisches Zittern. Das Körpergewicht
pflegt zu sinken.
Nach ihrem Verlaufe lassen sich im allgemeinen acute und
subacute Formen der Psychose auseinanderhalten, die mir jedoch
ohne scharfe Grenzen in einander überzugehen scheinen. Die ersteren
haben häufig nur eine Dauer von wenigen Tagen bis zu 2 oder 3
Wochen. Die Genesung tritt plötzlich ein; meist nach einem tiefen
Schlafe fällt es dem Kranken wie Schuppen von den Augen, dass
er das Opfer von Sinnestäuschungen geworden ist. In den subacuten
Fällen kann sich die Krankheit über eine längere Reihe von Wochen
und selbst Monaten hinziehen, meist mit vielfachen Nachlässen und
Verschlimmerungen. Die Täuschungen verlieren sich hier ganz all-
mählich, treten oft vorübergehend noch wieder auf, auch wenn vor-
her schon volle Krankheitseinsicht bestand. Nach Ilbergs Unter-
suchungen ist ein schleppender Verlauf namentlich in den Fällen zu
erwarten, in denen ausser den Gehörshallucinationen noch Täusch-
ungen auf anderen Sinnesgebieten vorkommen; auch das gelegent-
liche Auftreten vereinzelter Grössenideen neben dem Verfolgungswahn
deutet auf eine längere Krankheitsdauer hin. Die Erinnerung an
die Krankheitszeit ist regelmässig eine durchaus klare und erstreckt
sich auf alle Einzelheiten.
Die Prognose der Krankheit muss im ganzen als eine sehr
günstige bezeichnet werden. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle erfolgt vollständige Genesung, Freilich ist die Gefahr des
Rückfalles eine recht grosse. Ich kannte einen Kranken, der im
dritten Rückfalle durch Selbstmord endigte. In einzelnen Fällen
scheinen sich trotz der Anstaltsbehandlung mit vollständiger Enthalt-
samkeit dauernde Schwächezustände herausbilden zu können, sehr
ähnlich denjenigen, die ich oben bei der Besprechung des Delirium
tremens kurz geschildert habe.
Der Alkoholwahnsinn ist keine sehr häufige Krankheit; unter
den in den letzten Jahren von mir beobachteten Trinkern litten
Kraepelin, Psychiatrie. G. Anfl. R. Band. 7
98 III- Die Vergiftungen.
11 ^lo an demselben. Warum in einem Falle ein Delirium tremens,
in einem anderen ein Alkoholwahnsinn entsteht, ist noch gänzlich
unbekannt. Man hat diesen letzteren bald auf krankhafte Veran-
lagung, bald auf gehäuften Alkoholmissbrauch zurückführen wollen,
doch scheint mir keine der bisher vorliegenden Erklärungen ge-
nügend gegründet.
Die Erkennung der Störung stützt sich auf die alkoholische
Vorgeschichte, die acute Entwicklung, den günstigen Verlauf, die
Besonnenheit der Kranken und das eigenthümliche Verhalten der
Stimmen, welche sich meist nicht geradezu an den Kranken wenden,
sondern von ihm nur in der Kolle eines unfreiwilligen Zuhörers
aufgefasst werden. Es ist indessen zu beachten, dass ganz ähnliche
Krankheitsbilder sowol in der Paralyse wie bei der Dementia praecox
vorkommen können. Meist wird man hier allerdings länger zurück-
reichende Einleitungserscheinungen feststellen können. Aus dem
klinischen Bilde selbst ist für die Diagnose namentlich die eigen-
artige, humoristisch-ängstliche Stimmung zu verwerthen. bisweilen
auch die Gesichtstäuschungen und das Zittern. Andererseits sind
natürlich alle Zeichen zu beachten, welche den Verdacht auf eine
jener erstgenannten Krankheiten nahe legen, starke geistige Schwäche
und Zerfahrenheit, Verfälschungen des Persönlichkeitsbewusstseins,
katatonische Erscheinungen, nervöse Störungen. Die Behandlung
ist eine wesentlich abwartende, doch kann der Gebrauch eines Schlaf-
mittels vielleicht zur rascheren Genesung mit beitragen.
"Weit langsamer, als die bisher geschilderten Störungen, verläuft
eine weitere, dem Alkoholismus eigenthümliche Form des Irreseins,
der sog. Eifersuchtswahn der Trinker. Diese Störung entwickelt
sich unmittelbar aus gewissen Grundzügen, welche wir schon früher
im alkoholischen Schwachsinn vorgefunden haben. Die aus der
Trunksucht als nothwendige Folge hervorgehenden ehelichen Zer-
würfnisse und die dadurch bedingte Entfremdung der Ehegatten, die
Abneigung der Frau und vielleicht auch die allmählich sich ein-
stellende Impotenz bringen den Trinker, der ohnedies nur zu sehr
geneigt ist, die Schuld für das von ihm heraufgeführte Unheil in
seiner Umgebung zu suchen, allmählich auf die Idee, dass eine
sträfliche Neigung seiner Frau zu anderen Männern der wahie
Grund der veränderten Stellung sei, welche dieselbe zu ihm ein-
nimmt. Für die Richtigkeit dieser Voraussetzung liefert ihm die
Alkoholismus. 99
Torurtheilsvolle Beobachtung allerlei Beweise, welche seinem ge-
schwächten Urtheil als vollkommen sicher und unumstösslich er-
scheinen. Die Einmischung des Nachbarn in einen ehelichen Streit,
ein freundlicher Blick, eine versteckte Anspielung, die er auffängt,
ein anscheinend geheimnissvoller Brief, der ihm in die Hände fällt,
die verdächtige Aehnlichkeit eines Kindes mit dem vermeintlichen
Nebenbuhler, ein im Dunkein an ihm vorbeihuschendes Paar, welches
er zu erkennen glaubt, lassen ihn an dem Thatbestande des Ehe-
bruchs keinen Augenblick mehr zweifeln. Ein Kranker verleugnete
sein Kind, weil er ungefähr zur Zeit der Empfängniss wenige Tage
auswärts gewesen war und die Frau damals einen Nachbar beim
Kalben einer Kuh ohne Noth, wie er meinte, zu Hülfe gerufen hatte.
Hie und da gesellen sich zur Vervollständigung solcher An-
zeichen auch wirkliche Sinnestäuschungen hinzu, eine Gestalt, die der
Kranke nächtlicher Weile ins Schlafzimmer treten sieht, ein „Schutz-
mann in Uniform", der bei seiner Heimkehr aus dem Fenster springt,
eine höhnische Bemerkung, die ihm aus dem Nebenzimmer oder von
der Strasse herauf zugerufen wird und ähnliches. Oder aber er
merkt aus dem ganzen feindseligen Verhalten seiner Frau, aus der
Schnur, die er als Aufforderung zum Erhängen in seinem Bette, auf
dem Tische findet, oder aus ihrem Unwillen über sein schroffes Vor-
gehen gegen den beargwöhnten Nachbar oder Geschäftsführer, dass
es mit seinem Verdachte volle Eichtigkeit hat.
Eine weitere Ausbildung über den Rahmen der ungereclit-
fertigten Eifersucht hinaus gewinnt der Wahn in der Regel nicht,
doch bleibt er innerhalb dieser Grenzen durchaus fest und einer
jeden besseren Einsicht völlig unzugänglich. Natürlich entwickelt
sich aus ihm eine immer wachsende Erbitterung gegen die Frau,
gegen den vermeintlichen Nebenbuhler, ein trotz der sonstigen
Schwäche des Trinkers oft sehr tiefgehender und leidenschaftlicher
Hass, der ausnahmslos zu rohen Auftritten und häufig genug zu
verhängniss vollen Angriffen auf Leben und Gesundheit führt. Ich
kenne aus eigener Erfahrung zwei Fälle, in denen derartige Trinker
in blinder Eifersucht und unter dem Einflüsse des Alkohols ihre
Frauen erschossen; ein anderer brachte dem beargwöhnten Nachbar
eine lebensgefährliche Verletzung bei. Die Wurzeln des Wahnes
wird mau unschwer bei sehr vielen Trinkern auffinden; leider aber
wird die grosse Gefährlichkeit der ausgebildeten Störung nur allzu
100 UI- Die Vergiftungen.
leicht verkannt, da die Yerstandesthätigkeit der Kranken für die
oberflächliche Betrachtung oft nahezu gesund zu sein scheint, und
da ihre Wahnideen fast keine unsinnigen Bestandtheile enthalten,
sondern sich soweit im Bereiche des Möglichen, ja des "Wahrschein-
lichen bewegen, dass zuweilen nur eine genaue Kenntniss der wirk-
lichen Verhältnisse die krankhafte Natur ihrer ganzen Auffassungs-
weise zu enthüllen vermag. Auf der anderen Seite ist es natürlich
auch oft schwierig, die thatsächliche Berechtigung der von den
Trinkern vorgebrachten Eifersuchtsideen auszuschliessen. Das Thun
und Treiben des Trinkers führt vielfach zu einer wirklichen, ernsten
und dauernden Entfremdung der Ehegatten, welche dem Ehebruche
die Wege ebnen muss. So übereinstimmend daher die Klagen der
Trinker über eheliche Untreue sind, so nothwendig ist doch gerade
hier der klare Nachweis ihrer Grundlosigkeit, bevor wir berechtigt
sind, sie als krankhaft zu betrachten.
In manchen Fällen wird unser Urtheil dadurch unterstützt,
dass die anfangs schroff und leidenschaftlich vorgebrachten Eifer-
suchtsideen nach längerer Entziehung des Alkohols allmählich von
selbst zurücktreten und bisweilen sogar geradezu als krankhaft an-
erkannt werden. Durch diese, leider nicht sehr häufigen Besserungen,
ja Heilungen des Wahnes unterscheidet sich die krankhafte Eifer-
sucht der Trinker trotz der äusserlichen Uebereinstimmung sehr
wesentlich von der eigentlichen, constitationellen und grundsätzlich
unheilbaren Verrücktheit.
Wir haben endlich an dieser Stelle noch kurz des Krankheits-
bildes der alkoholischen Paralyse zu gedenken, einer Psychose,
die sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als eine einfache
Verbindung der Zeichen des chronischen Alkoholismus mit denjenigen
der progressiven Paralyse darstellt. Zu der Gedächtnissschwäche,
dem Grössenwahn, der gemüthlichen Stumpfheit auf der einen ge-
sellen sich Sinnestäuschungen, Eifersuchtsideen auf der anderen
Seite; die Sprachstörung des Paralytikers wird begleitet von dem
Tremor und den neuritischen Erscheinungen des Alkoholisten. Ausser-
dem scheinen epileptische Anfälle besonders häufig zu sein. In der
Kegel ging der Alkoholismus hier der Entwicklung der Paralyse
schon lange Zeit voraus; bisweilen aber auch liefert erst diese
letztere den Anstoss zu dem unmässigen Trinken, aus welchem die
alkoholistischen Krankheitszeichen entspringen.
Morphinismus. 101
Auf der anderen Seite giebt es vereinzelte Fälle von Alkoholis-
mn.s, in denen neben leichten motorischen Störungen (Tremor, Sprach-
störung, Atasie, Anfälle) ein blühender Grössenwahn mit heiterer
Stimmung ganz von der Art des paralytischen acut zur Ausbildung
kommt, um nach einigen Monaten bis auf die Grundzüge eines
massigen Schwachsinns wieder zu verschwinden. Die Erkrankung
ist hier damit endgültig abgeschlossen, während sie bei der erst-
erwähnten Form regelmässig den traurigen Ausgang der Dementia
paralytica nimmt. Anscheinend handelt es sich um besonders schwere
und eigenartig verlaufende Fälle von chronischem Alkoholismus
(alkoholische Pseudoparalyse*). Wie weit sich dieselben mit den bei
Polyneuritis beschriebenen Störungen decken, entzieht sich zur Zeit
noch meiner Beurtheilung.
B. Der MorpMiiisinus**).
Gegenüber dem ]\ßssbrauche alkoholischer Getränke, der auf ein
fast ehrwürdiges Alter zurückblicken kann, reicht die Geschichte
des Morphinismus wenig weiter, als zwei Jahrzehnte zurück, wenn
derselbe auch einen gewissen Zusammenhang mit der altasiatischen
Sitte des Opiummissbrauches aufzuweisen hat. Die Erfindung der
Piavaz 'sehen Spritze und die durch sie herbeigeführte Verbesserung
der Anwendungsart hatte einen ausserordentlichen Aufschwung im
Gebrauche des Morphiums zur Folge, welches sich nur zu bald als
ein sicheres und angenehmes Mittel zur Bekämpfung von Schmerzen
und Unbehagen aller Art bewährte. Der wirksamste Hebel für die
Ausbildung und Verbreitung des Morphiums lag in dem Umstände,
dass der Arzt, unbekannt mit den drohenden Gefahren, aus Rück-
sichten der Bequemlichkeit dem Kranken die Spritze selbst in die
Hand gab, damit er sich je nach Bedarf und nach eigenem Ermessen
das ersehnte "Wohlgefühl verschaffen könne.
Allein es stellte sich bald heraus, dass unter diesen Verhält-
*) Klewe, AUgem. Zeitschrift f. Psychiatrie, LH, 595.
**) Fiedler, Deutsche Zeitschr. f. prakt. Medicin 1874, 27,28; Levinstein,
Die Morphiumsucht. 3. Auflage, 1883; Erlenmeyer, Die Morphiumsucht und
ihre Behandlung. 3. Auflage, 1887: Dizard, etude sur le morpbinisme et son
traitement, 1893; Eodet, Morphinomanie et morphiuisme. 1897.
102 III. Die Vergiftungen.
nissen das Mittel aus dem Wohlthäter zu einem furchtbaren und
fast unbezwinglichen Feinde wurde. Die meisten Menschen, welche
gewohnheitsmässig kleinere Mengen von Alkohol zu sich nehmen,
vermögen demselben, wo es sich als noth wendig erweist, leichten
Herzens auf kürzere oder längere Zeit zu entsagen. Dagegen
zwingt die wahrhaft teuflische Macht des Morphiums denjenigen,
der sich einmal an seinen Gebrauch gewöhnt hat, unerbittlich zur
Fortsetzung desselben, da jeder Versuch, sich von der Sklaverei
des Mittels zu befreien, sofort zu derartig unangenehmen Er-
scheinungen führt, dass die menschliche Widerstandskraft dadurch
gebrochen wird.
Die psychischen Wirkungen des Morphiums, soweit sie bis jetzt
bekannt sind, bestehen, wesentlich verschieden von denjenigen des
Alkohols, in einer Erleichterung und Anregung der Verstandes-
leistungen und in einer Erschwerung der psychomotorischen Vor-
gänge. Dieses Verhalten, welches sich durch Untersuchungen bei
Morphinisten hat bestätigen lassen, macht es verständlich, dass uns
der Morphiumrausch in eine Art angenehmer Träumerei versinken
lässt, in welcher bunte, wechselnde Phantasiebilder an uns vorüber-
ziehen, während sich gleichzeitig eine sanfte Erschlaffung auf unsere
Glieder legt. Wir begreifen es auch, dass Morphinisten gerade unter
dem Einflüsse des Mittels sich noch zu geistiger Arbeit angeregt
fühlen, welche sie in dem Zustande ihrer gewöhnlichen, dauernden
Willenlosigkeit nicht mehr zu leisten vermögen. Das gefährlichste
Glied der Morphiumwirkung aber ist gerade das eigenthümliche,
ruhige Lustgefühl, welches sich von demjenigen des Alkoholrausches
sehr deutlich durch das vollständige Fehlen der psychomotorischen
Reizerscheinungen, des bekannten Thatendranges, unterscheidet. Wie
beim Alkohol, ist übrigens auch hier die Gestaltung des Vergiftungs-
bildes im einzelnen recht wesentlich von der persönlichen Anlage
abhängig. Ebenso fallen die körperlichen Begleiterscheinungen der
Narkose je nach der Eigenart des Menschen, natürlich aber auch
nach der Gabe des Mittels verschieden aus. Ein rasch auftretender
metallischer oder bitterer Geschmack, Kollern im Leibe, Myosis und
Erbrechen sind häufig. Als Nachwehen der Vergiftung werden
Eingenommenheit des Kopfes, Schwindelgefühl, Migräne, reichliche
Schweisse, grosse Hinfälligkeit und Harnverhaltung beobachtet. Bei
Versuchen mit subacuter maximaler Vergiftung fand Nissl die
Morphinismus. 103
Eindenzellen des Kaninchens verkleinert und verschmälert, aber
nicht zerstört. Die gefärbte Substanz war rareficirt und schwächer
gefärbt, die ungefärbte Substanz dagegen auf längere Strecken deut-
lich sichtbar.
Die Entwicklung des Morphinismus nimmt praktisch bei weitem
am häufigsten ihren Ausgang von der ausgezeichneten schmerz-
stillenden Wirkung des Mittels. Irgend ein leichteres oder
schwereres schmerzhaftes Leiden, Neuralgie, Ischias, Tabes. Magen-
geschwür, Gelenkrheumatismus, Zahnschmerzen, Schlaflosigkeit, eine
traurige Verstimmung giebt den Anlass zur ersten Einspritzung. Ein
von mir behandelter Trinker erhielt das Morphium von seinem mit ihm
zechenden Hausarzte zur Milderung seiner alkoholischen Beschwerden.
Die durch das Mittel erzielte Wirkung ist zumeist die Beseitigung aller
quälenden körperlichen und psychischen Reize und die Erzeugung
einer überaus behaglichen, befriedigten Stimmung. Dieser günstige
Erfolg ist es, der immer von neuem zu einer Wiederholung der Ein-
spritzung treibt, namentlich, wenn das quälende Leiden noch fort-
besteht. Ganz unmerklich aber wird der Gebrauch des Mittels zum
Selbstzwecke, zum Lebensbedürfnisse, auch wenn der ursprüngliche
Anlass längst beseitigt ist. In ähnlicher Weise, wie bekanntlich die
Gründe zum Trinken nach Bedarf jederzeit bei der Hand sind, fehlt
es bald auch nicht an mehr oder weniger verschämten Vorwänden
für die Morphiumeinspritzung. Das tritt um so sicherer ein, als
anscheinend das Morphium bei längerer Einwirkung wirklich die
sittliche Widerstandsfähigkeit gegenüber allen möglichen kleinen
Unannehmlichkeiten und Schmerzen beträchtlich herabsetzt. In
Folge dessen wird das Verlangen des Kranken nach dem beruhigen-
den Mittel immer häufiger und dringender. Der entscheidende
Schritt ist die Ausführung der Einspritzung durch den
Kranken selbst, mit oder ohne Vorwissen des Arztes. Von diesem
Augenblicke an ist sein Schicksal besiegelt; er ist dem Morphinis-
mus verfallen.
Meist su'jht er sich nunmehr von dem Arzte möglichst un-
abhängig zu machen. Er kauft sich eine Spritze, oft auch Wage
und Gewichte, bezieht sein Morphium direct oder durch Vermittelung
von Leidensgefährten aus der Droguenhandlung, die ihm das Mittel
in unverdächtiger Packung zusendet. Die Lösung bereitet der Kranke
sich selbst, schliesslich oft nach Gutdünken. Andere ziehen es vor,
104 ni. Die Vergiftungen.
Recepte zu fälschen; ich besitze ein solches Beispiel. Auch ein
College bediente sich falscher Namen, um nicht in den Yerdacht
des Morphinismus zu kommen. Vielfach findet man bei den Kranken
ausser verrosteten und stumpfen Nadeln ganz trübe, halbverschimmelte
Flüssigkeiten, die sie sich trotzdem einspritzen, sogar durch die
Kleider hindurch. Die Folge sind häufige Abscesse. Yereinzelte
Kranke greifen, wenn ihnen die Beschaffung der Spritzen zu schwierig
wird, zur innerlichen Anwendung des Morphiums, auch zur Opium-
tinctur, indem sie sich die nöthige Gabe jeweils unter dem Yorwande
von Leibschmerzen allmählich in verschiedenen Apotheken zusammen-
schwindeln.
Beim dauernden Gebrauche des Morphiums treten in Folge der
sich ausbildenden Gewöhnung die unangenehmen Nebenerscheinungen
der Vergiftung mehr und mehr in den Hintergrund, oder sie werden
doch durch eine neue Gabe des Mittels rasch wieder beseitigt. So
kommt es, dass der Morphinist oft lange Zeit hindurch nur die an-
regende und zugleich beruhigende Wirkung empfindet, die ihn
über alle kleinen und grossen Unannehmlichkeiten hinwegsetzt, wie
sie aus seinem Gesundheitszustande, aus seinem Berufe, aus seinen
gesellschaftlichen und häuslichen Verhältnissen entspringen. Dieselbe
Gewöhnung aber ist es, welche ihn sehr bald von der ursprüng-
lichen Gabe des Mittels die erhoffte Befriedigung nicht mehr in
vollem Maasse finden lässt und ihn daher zu einer Steigerung der-
selben antreibt. Zunächst ist der Erfolg ein vollkommener, aber
nach einiger Zeit versagt auch die neue Menge, und so schraubt sich
das Bedürfniss allmählich immer höher und höher, bis am letzten
Ende auch die grössten Gaben des Mittels (erfahrungsgemäss bis zu 2,
3 gr und mehr in 24 Stunden) den sehnlichst gewünschten Erfolg
nur ganz vorübergehend noch erzielen.
Alle die schon früher gelegentlich hervorgetretenen Beschwerden
des Morphinismus erreichen nach und nach ihren Höhepunkt. Das
Gedächtniss wird vielfach unsicher; die geistige Leistungsfähigkeit,
namentlich die schöpferische Arbeitskraft, nimmt ab und kann nur
unter dem unmittelbaren Einflüsse des Morphiums noch auf einer
gewissen Höhe erhalten werden. Auf diese Weise kommt es zu einem
beständigen Wechsel zwischen Stunden verhältnissmässigen Wohl-
befindens und solchen stumpfer Erschlaffung oder nervöser Unruhe,
ein Zustand, der natürlich eine geregelte, planmässige Thätigkeit
Morphinismus. 105
völlig unmöglich macht. Die Stimmung ist ebenfalls vielfachen
Schwankungen unterworfen, bald niedergeschlagen, muthlos, hypo-
chondrisch, bald zuversichtlich und übermüthig; nicht selten stellen
sich vorübergehende lieftige Angstanfälle ein, namentlich Nachts.
In ganz besonderem Maasse aber wird der Charakter der
Kranken in Mitleidenschaft gezogen. Sie verlieren nicht nur voll-
kommen die Fähigkeit, sich selber endgültig und thatkräftig von
dem verderblichen Mittel loszusagen, sondern sie greifen zu allen
möglichen, erlaubten und unerlaubten Kunstgriffen, um sich Morphium
zu verschaffen. Um diesen Preis belügen und betrügen sie unbe-
denklich Aerzte und Angehörige; sie öffnen mit Nachschlüsseln den
Arzneischrank, entwenden heimlich Geld, unterschlagen anvertraute
Summen, versetzen und verkaufen, was ihnen zugänglich ist, wenn
sie auf andere Weise das Mittel nicht erhalten können. In
eigenthümlichem Zwiespalte mit sich selbst machen sie auch dann
schon von vornherein den Versuch, die Entziehungscur zu vereiteln,
wenn sie aus freien Stücken in dieselbe eingewilligt haben. Kaum
ein Morphinist geht in die Anstalt, ohne sich nicht irgendwie heim-
lich mit einer gehörigen Menge des Mittels versehen zu haben;
keiner, auch nicht der heiligsten Yersicherung eines Morphinisten
über diesen Punkt ist jemals blindlings zu trauen. Selbst Aerzte
sind darin ganz unzuverlässig. Ein College brachte das Morphium
unter dem Holzbelag einer grossen Haarbürste versteckt mit sich
und erzwang durch einen äusserst rohen Auftritt seine sofortige
Entlassung, als ihm die Benutzung der Bürste unmöglich gemacht
wurde.
Der Schlaf erleidet meist hochgradige Störungen. Beim
Einschlafen treten zeitweise Hallucinationen auf, besonders des Ge-
sichtes; die Kranken liegen viele Stunden lang wach, mit zwangs-
mässigen, phantastischen Ideen beschäftigt; dafür stellt sich am
Tage plötzlich eine unbezwingbare Müdigkeit ein, die sie mitten in der
Gesellschaft, in der Unterhaltung trotz aller Gegenanstrengungen über-
wältigt. Auf dem Gebiete der Sensibilität machen sich verschieden-
artige Paraesthesien und Hyperaesthesien bemerkbar, namentlich am
Herzen sowie in der Magen- und Blasengegend. Die Reflex-
erregbarkeit nimmt zu, doch fehlt der Patellarretlex nicht selten;
die Bewegungen werden unsicher, bisweilen zitternd, ataktisch.
Hie und da werden Erschwerung der Sprache, Paresen in der
106 III. Die Vergiftungen.
Musculatur des Auges beobachtet (Doppeltseheii, Accommodatious-
schwäche). Die allgemeine Ernährung leidet immer erheblich; das
Körpergewicht nimmt ab; die Haut wird welk, schlaff und fahl;
das Fettpolster schwindet. Die Absohderung des Magensaftes stockt;
der Appetit, namentlich für Fleischspeisen, vermindert sich; es
stellt sich zeitweiliger Heisshunger oder bei grosser Trockenheit des
Mundes unstillbarer Durst ein; die meist bestehende Verstopfung
wechselt mit vorübergehenden Durchfällen. Yon Seiten der Kreis-
laufs Organe wird hie und da quälendes Herzklopfen beobachtet;
der'Puls ist etwas beschleunigt, bisweilen unregelmässig. Das Ohren-
sausen, die Benommenheit, die Schwindel- und selbst Ohnmachts-
anfälle sowie die reichlichen kalten Schweisse und das Frösteln der
Morphinisten sind wol ebenfalls auf vasomotorische Störungen zurück-
zuführen; ferner gehören auch Athmungsbehinderuugen, be-
sonders asthmatische Beschwerden, nicht selten zu dem hier ge-
zeichneten Krankheitsbilde. Die libido sexualis und die Potenz
nimmt ab; die Menses hören auf; bei bestehender Schwangerschaft
bleibt die Entwicklung der Frucht zurück. Levinstein be-
trachtet endlich noch Eiweissgehalt des Harns sowie eigenthüm-
liche tertiane Fieberanfälle als gelegentliche Zeichen des Morphinis-
mus, doch haben andere Beobachter seine Angaben nicht bestätigen
können.
Die Schnelligkeit, mit welcher sich die ganze Reihe dieser
Störungen entwickelt, ist eine sehr verschiedene; sie hängt natur-
gemäss einmal von der Menge des gebrauchten Morphiums und
weiterhin von der Widerstandsfähigkeit des gesammten Menschen ab.
Bisweilen machen sich die ersten Erscheinungen der chronischen
Vergiftung schon nach einigen Monaten des Morphiuragebrauches
geltend; in anderen Fällen können Jahre, selbst viele Jahre ver-
gehen, bevor ernstere Störungen zum Ausbruche kommen. Letzteres
ist besonders dann die Regel, wenn der Kranke Selbstbeherrschung
genug besass, von Zeit zu Zeit mit der Gabe des Mittels wieder
etwas zurückzugehen. Der sonst gleichmässig fortschreitende Ver-
lauf des Morphinismus lässt unter diesen Umständen mehr oder
weniger ausgiebige Besserungen des Allgemeinzustandes erkennen.
Die Dauer des Morphinismus ist in gewissem Sinne eine fast un-
begrenzte; schon jetzt sind Fälle bekannt, in denen das Morphium
ohne Unterbrechung 20 Jahre hindurch und länger fortgenomraen
Morphinismus. 107
wurde. AYie der Thierversuch gelehrt hat (Nissl), scheinen sich
bei längerem Gebrauche des Mittels ausgebreitete, vielfach zum
Schwunde der Zellen führende Veränderungen an den Riuden-
zellen einzustellen, die von einer Vermehrung des Gliagewebes be-
gleitet sind.
Der Morphinismus ist fast ausschliesslich eine Krankheit der
besseren Stände, schon aus dem einfachen Grunde, weil er sehr viel
Geld kostet. Die grössere Leichtigkeit, sich das Mittel zu verschaffen,
lässt das männliche Geschlecht und hier vor allem die mit dem
ärztlichen Berufe in Beziehung stehenden Personen besonders stark
gefährdet erscheinen. Man kann rechnen, dass 75°/o der Morphi-
nisten Männer und von diesen wieder mindestens die Hälfte Aerzte
sind. Rodet fand unter 1000 Morphinisten 287 Aerzte. Dazu
kommen noch in grosser Zahl deren Angehörige, namentlich die
Frauen. Sehr angestrengte, aufreibende Thätigkeit, die zu Schlaf-
losigkeit führt und nur ungenügende Erholung zulässt, bereitet dem
Morphium den "Weg. Etwa 60 % der Morphinisten erkranken daher
im rüstigsten Alter, zwischen dem 25. und 40. Lebensjahre. "Weiter-
hin ist natürlich die Gefahr, dem dauernden Missbrauche desMorphiums
zu verfallen, um so grösser, je angenehmer sich die ganze "Wirkung
des jVIittels im einzelnen Falle gestaltet; es giebt Menschen, bei denen
bereits die erste Einspritzung in diesem Sinne über das ganze
fernere Leben entscheidet. Endlich ist offenbar die Neigung zum
Morphinismus auch wesentlich von der psychischen Veranlagung
abhängig. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass eine grosse
Zahl von Morphinisten, ebenso wie viele Trinker, schon vor der
chronischen Vergiftung einen bedeutenden Grad von "Willensschwäche
dargeboten haben; Hysterische und Constitutionen Nervöse sind unter
ihnen zahlreich vertreten. Daraus erklärt sich die bisweilen Staunens -
werthe Geringfügigkeit der Beweggründe (Neugierde, Verführung),
welche zum Missbrauche des Mittels geführt haben, sowie der un-
glaubliche Leichtsinn, mit welchem Morphinisten das Uebel verbreiten,
ihren Leidensgefährten Morphium verschaffen und in einer Art „esprit
de Corps" die wirksame Verfolgung ihrer Helfershelfer zu verhindern
suchen. Ein junger Morphinist erzählte mir, dass in dem russischen
Regiment, in welchem er diente, fast alle Offiziere „zu ihrem Ver-
gnügen gespritzt" hätten; ein morphinistischer Arzt veranlasste seine
Braut ohne jeden Grund, ebenfalls Morphium zu gebrauchen, und
108 in. Die Vergiftungen.
diese verführte wiederum ihre nächste Freundin, sich diesen Geniiss
zu verschaffen.
Es muss indessen an dieser Stelle mit aller Schärfe die schwere
Anklage gegen den ärztlichen Stand erhoben werden, dass er
es ist, den wir für das Dasein und die erschreckende Verbreitung
des Morphinismus in allererster Linie verantwortlich zu machen
haben. Gäbe es keine Aerzte, so gäbe es auch keinen Morphinis-
mus. Die Unwissenheit und der Leichtsinn der Aerzte sind es,
welche den Kranken tagtäglich bei den geringfügigsten Anlässen mit
dem höchst gefährlichen Mittel bekannt machen, das so leicht seine
ganze Zukunft vernichten kann. Mir ist es vor nicht langer Zeit
vorgekommen, dass ein Arzt einem Kranken, dem ich mit grösster
Mühe Alkohol und Morphium entzogen hatte, ohne irgend erfind-
baren Grund zunächst Codein, späterhin aber ruhig wieder Morphium
verordnete. Namentlich sind es allerdings die morphinistischen Aerzte,
die mit merkwürdiger Regelmässigkeit zu wahren lufectionsherden
werden, wie sie überhaupt die gefährliche Neigung haben, mit
grossen Gaben stark wirkender Arzneimittel zu wirthschaften. Ich
kannte einen derartigen Collegen, — und solche Beispiele sind
leider nicht selten — der bei seinen zahlreichen Kranken jede be-
liebige Klage durch eine Morphiumeinspritzung zu beseitigen pflegte
und so gewissermassen das Haupt einer ganzen Morphinistengemeinde
wurde. Dieser Mann handelte freilich unverantwortlich, aber wenigstens
uneigennützig. Yiel schlimmer ist es, dass sich in unserem Stande
Subjecte finden, welche die Noth der Morphinisten planmässig aus-
nützen, um ihnen für schweres Geld die ihnen unentbehrlichen
Recepte zu schreiben! Ich besass das Recept eines Arztes, der
einem Morphinisten nicht weniger als 1 gr Morphium in einmaliger
Gabe zu beliebiger Verwendung aufgeschrieben hatte; ein anderer
Kranker trat in die Cur mit einer ganzen Batterie von Flaschen mit
Morphiumlösung, welche ihm sein Hausarzt vorsorglich noch auf-
geschrieben hatte.
Die Prognose des Morphinismus ist in jedem Falle eine sehr
ernste. Hie und da kommen plötzliche Todesfälle vor. Die Kranken
greifen, namentlich nach Entziehungscuren, die Gabe einmal viel zu
hoch, oder es entwickeln sich unter dem Einflüsse der Ersatzmittel
des Morphiums chronische Herzleiden, welche zu unvorhergesehenen
Collapsen führen. Andererseits ist der Ausgang in schweres, mit
Morphinismus. 109
dem Tode endendes Siechtlium bei reinem Morphinismus nicht ge-
rade allzu häufig, und die Entziehung des Mittels gelingt unter den
nöthigen Vorsichtsmassregeln fast immer ohne besondere Schwierig-
keiten. Allein die Gefahr immer und immer wiederholter Rückfälle,
welche nothwendig zu einer vollständigen Vernichtung des Lebens-
glückes führen, ist eine ausserordentlich grosse; nur eine sehr ge-
ringe Zahl von Morpliinisten vermag ihr auf die Dauer zu entgehen.
Mit voller Sicherheit kann ich von den Dutzenden von Morphinisten,
die ich in den letzten Jahren behandelt habe, nur einige wenige für
dauernd geheilt halten. Ganz besonders gefährdet sind auch in
dieser Beziehung alle diejenigen Personen, denen entweder ihr Be-
ruf die Erlangung des Morphiums besonders leicht macht, oder denen
irgend ein chronisches, mit Schmerzen und Beschwerden verbundenes
Leiden die Verführung, nach dem erlösenden Mittel zu greifen, immer
von neuem mit unwiderstehlicher Macht aufdrängt.
Eine weitere, ernste Gefahr droht dem Morphinisten aus der
Verbindung des Morphiums mit anderen Nervenmitteln. Namentlich
der Alkohol (Wein, Champagner) ist es, der mit oder ohne ärztlichen
Eath zur Milderung der Entziehungserscheinungen herangezogen
wird und den Kranken nur zu häufig dem Alkoholismus in die
Aime treibt. In ähnlicher Weise kommt das Chloralhydrat, der
Aether, das Chloroform und in neuerer Zeit vor allem das Cocain
in Anwendung. Niemals gelingt es den Kranken, auf diese Weise
das Morphium aus eigener Kraft los zu werden oder auch nur
durch ein anderes Mittel zu ersetzen; in der Regel kommt zu dem
alten Uebel einfach ein neues, kaum weniger schlimmes oder noch
schlimmeres hinzu.
Die Erkennung des Morphinismus stützt sich neben der Be-
achtung der körperlichen Vergiftungserscheinungen (Myosis, Appetit-
losigkeit, Ernährungsstörung) sowie der oft sehr ins Auge fallenden
Einspritzungsspuren (glänzende^ ovale Narben, schwielige Verhärtungen
oder selbst atonische Geschwüre, meist an den Armen, aber auch
an Bauch und Oberschenkelnj namentlich auf den eigenthümlichen
Wechsel der Zustände, welchen der Morphinist darzubieten pflegt.
Die geistige Frische und Leistungsfähigkeit, die gehobene Stimmung
nach der Einspritzung muss ja nur allzubald einer hochgradigen
Ermüdung, Schlaffheit, Willenlosigkeit und Niedergeschlagenheit
weichen, so dass dem aufmerksamen Beobachter der Gegensatz
110 ni. Die Vergiftungen.
zwischen diesem verschiedenartigen Verhalten kaum verborgen
bleiben kann. Für die Erkenntniss der besonderen Ursache finden
sich dann bei näherem Nachforschen bald weitere anamnestische und
thatsächliche Anhaltspunkte. Die Kranken haben die Neigung, sich,
wenn sie abgespannt sind, unter irgend welchem Vorwande für
einige Augenblicke zurückzuziehen und kehren dann nach erledigter
Einspritzung merkwürdig angeregt und munter zurück. Leider lässt
sich das Morphium in den Ausscheidungen der Kranken nur sehr
schwierig nachweisen, da es zum grössten Theile in den Koth über-
geht. Die volle Sicherheit über das Bestehen des Morphinismus kann
man sich durch eine zuverlässige Abschliessung des Kranken ver-
schaffen. Hat man diesem Letzteren wirklich jede Möglichkeit einer
heimlichen Morphiumzufuhr abgeschnitten, so darf der Eintritt oder
das Ausbleiben der Entziehungserscheinungen als ein untrügliches
ErkennuDgsmittel gelten.
Die wichtigste Aufgabe bei der Bekämpfung des Morphinis-
mus ist ohne Zweifel die Yorbeugung, die leider noch sehr im Argen
liegt. Einen Theil dieser Aufgabe hat die Gesetzgebung zu lösen
gesucht, indem sie den Verkauf des Morphiums ohne besondere ärzt-
liche Vorschrift in jedem einzelnen Falle verbietet. Es ist öffent-
liches Geheimniss, dass die Morphinisten diese Bestimmungen ohne
erhebliche Schwierigkeit zu durchbrechen oder zu umgehen wissen.
Die besten Helfershelfer sind ihnen dabei gewisse, namentlich mor-
phinistische Aerzte. Nach meinen Erfahrungen kann ich daher nur
aus voller Ueberzeugung der von Lewin*) aufgestellten Forderung
zustimmen, dass jedem an Morphinismus leidenden Arzte bis zum
Nachweise seiner dauernden und vollständigen Heilung das Eecht
der Praxis entzogen werden sollte. Freilich stehen der Durchführung
einer solchen Massregel sehr grosse Schwierigkeiten im Wege. Aber
auch in anderer Richtung können wir Aerzte zur Bekämpfung des
Morphiummissbrauches ausserordentlich viel thun. Wir sollten es
uns zum festen Grundsatze machen, bei allen chronischen Er-
krankungen nur dann zum Morphium zu greifen, wenn die-
selben durchaus unheilbar sind und zum Tode führen.
Aber auch hier, ebenso bei acuten Leiden, soll das Morphium nur
dann und nur so lange gegeben werden, als es unumgänglich
*) Berliner klinische Wochenschrift, 1891, 51.
Morphinismus. 111
nothwendig ist. Einfache neurasthenische und hysterisclie Beschwerden
mit Morphium zu behandeln, muss unbedingt als ärztlicher Kunst-
fehle r gelten. Gewissenlos ist es endlich, unter welchem Yorwande
es auch sei, irgend einem Kranken Spritze oder Lösung zum eigenen
Gebrauche in die Hand zu geben und überhaupt grössere
Mengen des Mittels zu verschreiben, deren Verwendung nicht genau
überwacht werden kann.
Die Behandlung des entwickelten Morphinismus besteht in
der Entziehung des Mittels unter ärztlicher Aufsicht. Da sie mit
gewissen Gefahren verknüpft ist, wird man sie möglichst nur bei
gutem Kräftezustande einleiten; Schwangerschaft, acute Krankheiten,
schweres Siechthum sind als Gegeuanzeigen zu betrachten. Völlige
und dauernde Abgewöhnung des Morphiums aus eigener Kraft
kommt erfahrungsgemäss niemals oder doch nur überaus selten
vor. Aus diesem Grunde kann die Entziehung mit Aussicht auf
Erfolg nur in der Weise durchgeführt werden, dass sich der Kranke
für einige Zeit bedingungslos in die Hände des Arztes und in Ver-
hältnisse begiebt, die eine völlige Ausschliessung des Morphiums
mit Sicherheit gestatten. Allerdings ist es, namentlich im Hinbhcke
auf die sittliche Unzu^erlässigkeit der Morphinisten, nicht immer
leicht, sich nach dieser Richtung hin ausreichende Gewähr zu ver-
schaffen. Die Erfahrung zahlloser schlauer Betrügereien seitens
der Kranken, ihrer Angehörigen und Freunde, der Mitkranken^ des
Wartpersonals predigt eindringlich die Nothwendigkeit des äusser-
sten, unermüdlichsten Misstrauens. Ein kranker College bewog einen
Wärter durch Schenken eines Anzugs und das Versprechen, ihn als
Diener anzustellen, zur heimlichen Besorgung eines Morphiumreceptes.
Es muss daher zum mindesten als eine gefährliche Selbst-
täuschung betrachtet werden, wenn manche Aerzte glauben, bei der
Behandlung des Morphinismus das Sicherungsmittel der genauesten
Ueberwachung und einen gewissen äusseren Zwang entbehren zu
können. Ich besitze den Bericht eines bekannten Arztes, der im Hin-
blick auf die Milde der von ihm geübten Entziehungscur seine Ejanken
frei schalten und walten Hess und ihnen nur mittheilte, dass sie
selbst die Verantwortung trügen, wenn sie sich ohne sein Wissen
Morphium verschafften. Die Folge davon war, dass die Kranken
unter seiner Behandlung, freilich ohne sein Wissen, noch mehr
spritzten, als vorher.
112 UI- Die Vergiftungen.
Sobald dem Kranken das gewohnte Reizmittel entzogen wird,
treten nach einigen (5 — 6) Stunden die sog. Abstinenzerschei-
nungen hervor, die von Marme auf die Giftwirkungen des Oxydi-
morphins zurückgeführt worden sind. Wir haben diese Störungen
zum Theil schon in dem Bilde des Morphinismus als die Ursachen
kennen gelernt, welche den gequälten Kranken immer von neuem
zur Spritze greifen lassen. Was aber dort nur angedeutet war und
stets durch die neue Vergiftung rasch beseitigt wurde, das tritt hier
oft mit grosser Gewalt in den Vordergrund. Quälende Unruhe,
häufiges Gähnen, Niesen, Angst, Beklemmungsgefühle, Paraesthesien
in den verschiedensten Gegenden des Körpers stürmen mächtig auf
den Kranken ein und lassen ihn sehr rasch alle die guten Vorsätze
vergessen, mit denen er sich in die Behandlung des Arztes begeben
hat. Dabei besteht, wenigstens in der ersten Zeit, völlige Schlaf-
losigkeit, gegenüber der die gebräuchlichen Schlafmittel meistens
versagen. Das Chloralhydrat pflegt sogar die psychische Erregung
bedeutend zu steigern und Zustände von hallucinatorischer, traum-
artiger Verworrenheit herbeizuführen. Aber auch abgesehen davon
kann sich bisweilen, namentlich bei Herzschwäche, unter lebhafter
Zunahme der Aufregung ein Krankheitsbild entwickeln, welches die
grösste Aehnlichkeit mit dem Delirium tremens der Trinker darbietet,
zumal auch die Unsicherheit der Bewegungen und das Zittern der
Hände in gleicher Weise sich einzustellen pflegt. Allerdings dauert
dieser Zustand gewöhnlich nur eine Reihe von Stunden oder doch
nicht mehr als einige Tage; nur einmal sah ich ihn sich über
mehrere Wochen erstrecken. Hier hatte vorher zum Zwecke der
Entziehung ein bedeutender Alkoholmissbrauch stattgefunden: wahr-
scheinlich ist in solchen Umständen auch sonst die eigentliche Ur-
sache des Delirium tremens der Morphinisten zu suchen. Weiterhin
kommen hie und da hysterische Dämmerzustände mit Sinnes-
täuschungen und Krämpfen in der Entziehungszeit zur Beob-
achtung.
Auch im Bereiche des übrigen Nervensystems macht sich
die gewaltige Umwälzung geltend, welche durch die Entziehung des
gewohnten Reizmittels herbeigeführt wird. Es treten unwillkürliche
Bewegungen und Zuckungen in den Beinen, asthmatische Zufälle,
Zwerchfellkrämpfe, Krampfhusten, Accommodationsparesen, Tenesmen,
Blasenkrämpfe und -lähmungen, Erbrechen, Herzklopfen, namentlich
Morphinismus. 113
aber Ohnmächten und gefährliche Collapse mit plötzlichem, raschem
Sinken der Herzthätigkeit auf, die sich unter Umständen mehrmals
wiederholen und sogar ohne weiteres in den Tod hinüberführen
können. Die secre torischen Verrichtungen, welche unter dem
Einflüsse des Morphiums darniederlagen, zeigen eine rasch vorüber-
gehende beträchtliche Steigerung, welche sich in reichlicher Speichel-
und Schweissabsonderung sowie in andauernden starken Durchfällen
kundgiebt; bisweilen tritt Eiweiss im Harn auf. Die Schwere der
Entziehungserscheinungen ist eine ausserordentlich verschiedene. Sie
hängt von der Grösse der Gabe, der Länge der Gewöhnung, dem
Allgemeinzustande der Kranken und der persönlichen Veranlagung
ab. Bisweilen beschränken sich die Störungen auf einige Durch-
fälle, Schwitzen, lebhaftes Unbehagen und Schlaflosigkeit, während
bei anderen Kranken die allerschwersten, das Leben bedrohenden
Zufälle auftreten. Eine Entziehung ganz ohne Beschwerden giebt
es indessen nach meinen Erfahrungen nicht. Wo die Erscheinungen
auffallend gering sind oder gar völhges Wohlbefinden besteht, wird
sicher heimlich Morphium zugeführt. Noch vor einiger Zeit wurde
ich auf einen derartigen Betrug dadurch aufmerksam, dass ich den
betreffenden Kranken, einen Collegen, bei der Visite behaglich
schlafend antraf.
Alle Entziehungserscheinungen lassen sich nämlich durch das
Morphium selbst wieder beseitigen oder doch erheblich mildern.
Diese Thatsache ist es, die zur Aufstellung zweier verschiedener
Hauptmethoden der Morphiumentziehung geführt hat, zu der plötz-
lichen und zu der allmählichen Entziehungscur. Bei der ersteren
lässt man von der gewohnten Gabe aus die Morphiumeinspritzungen
mit einem Schlage vollständig wegfallen, während man im anderen
Falle zuerst langsam mit der Gabe heruntergeht oder die Zwischen-
zeiten vergrössert, bevor man endlich mit den Einspritzungen voll-
ständig abbricht. Beide Verfahren haben ihre eifrigen Vertheidiger
gefunden. Während bei der plötzlichen Entziehung (Levinstein)
die Abstinenzerscheinungen meist ausserordentlich schroff hervortreten,
von vorübergehenden Delirien und namentlich der Gefahr schwerer
Collapse begleitet sind, dafür aber binnen wenigen Tagen ablaufen,
gestalten sich jene Störungen bei der allmählichen Entziehung
(Burkart) weniger stürmisch, erstrecken sich aber über eine viel
längere Zeit. Gerade dieser Umstand erschwert natürlich den
Kraepelin, Psyehiatrio. 6. Aufl. II. Band. 8
114 III. Die Vergiftungen.
völligen Ausschluss jeder unberufenen Morphiumzufuhr ungemein,
namentKch wenn man den besonnenen Kranken, was bei einer Cur-
dauer von 3, 4 und mehr Wochen schwer zu umgehen ist, etwas
freiere Bewegung gestattet; die Möglichkeit eines Betruges liegt daher
ausserordentlich nahe. Um dieser Gefahr einerseits, den oben ge-
schilderten lebenbedrohenden Zufällen andererseits auszuweichen,
hat Erlenmeyer mit seinem „schnellen"" Entziehungsverfahren,
welches sich über 1 — 2 Wochen erstreckt, einen Mttelweg ein-
geschlagen, der in der That für die überwiegende Mehrzahl der
Fälle am angemessensten erscheint. Da jeder Morphinist weit mehr
Morphium zu nehmen pflegt, als für sein Wohlbefinden nothwendig
ist (Existenzminimum), wird zunächst sofort auf die Hälfte oder
selbst ein Drittel der gewohnten Menge heruntergegangen und dann
allmählich planmässig die Gabe weiter vermindert; die Abendein-
spritzung fällt zuletzt fort.
Die Behandlung der Morphiumentziehung bedarf überall der
vollen und andauernden Aufmerksamkeit des Arztes. Yor
allem muss der Puls unter genauer Ueberwachung gehalten werden,
so dass bei dem Herannahen der Collapsgefahr ein anregendes Ver-
fahren (kühle Uebergiessungen, kräftige Hautreize durch den fara-
dischen Pinsel und Senfteige, Aether- oder Kamphereinspritzungen,
starker Kaffee, Punsch, Champagner) eingeleitet werden kann; im
Nothfalle wird man nicht zögern, durch eine Morphiumgabe die
schweren Erscheinungen zu beseitigen. Gegen die hartnäckige Un-
ruhe und Schlaflosigkeit wird man bisweilen durch Eisanwendung
auf den Kopf, durch laue Bäder oder durch ein Schlafmittel, wenn
es der Kranke verträgt, etwas erreichen können. Die mannigfachen
Schmerzen lindert ebenfalls oft die örtliche Anwendung der Kälte;
gegen Stuhldrang und Durchfälle helfen laue Eingiessungen und
Stuhlzäpfchen mit Belladonna. Das Erbrechen wird durch Eispillen
und Kataplasmen bekämpft. Da das Morphium auch bei Einspritzung
unter die Haut sehr rasch in den Magen gelangt, hat Hitzig Magen-
ausspülungen angewendet, welche nicht nur die genannte Erscheinung,
sondern auch das Gesammtbild der Entziehung in sehr günstiger
Weise beeinflussen sollen. Erlenmeyer hält es für zweckmässig,
die unter dem Morphiumeinflusse stockende, in der Entziehung
überreichlich erfolgende Säureabsonderung im Magen durch
Zufuhr alkalischer Wässer (Fachinger, Vichy) abzustumpfen;
Morphinismus. 115
während des Morphiumgebrauches empfiehlt er die Darreichung
von Salzsäure.
Zur Erleichterung der Entziehung schlägt Burkart vor, zunächst
die innerliche Anwendung des Morphiums an Stelle der Einspritzung
zu setzen und endlich auch fernerhin durch Opiuragaben den Ausfall
des gewohnten Grenussmittels weniger fühlbar zu machen. Da in-
dessen erfahrungsgemäss und aus naheliegenden Gründen der Opium-
missbrauch nicht selten denjenigen des Morphiums einfach ersetzt,
so ist der Nutzen dieses Verfahrens nicht recht verständlich. Das
anfänglich so begeistert angepriesene Cocain muss nach den jetzt
vorliegenden Erfahrungen einfach als ein minderwerthiger und zu-
gleich sehr gefährlicher Ersatz für das Morphium angesehen werden •
es lindert viele Beschwerden der Morphiumentziehung, wirkt aber
immer nur für kurze Zeit und führt in jedem Falle die äusserst
bedenkliche Wahrscheinlichkeit eines späteren Morphio-Cocainismus
herauf. Vor seiner Anwendung kann daher nicht eindringlich
genug gewarnt werden. Ueber den Werth des ebenfalls als Er-
leichterungsmittel bei der Morphiumentziehung empfohlenen Nitro-
glycerin, Spartein, Napellin werden erst weitere Erfahrungen zu ent-
scheiden haben. Ebenso vermag ich ein eigenes ürtheil über die
Erfolge der Hypnose in diesen Zuständen zur Zeit nicht abzugeben *).
Dagegen ist es ohne Zweifel von besonderer Wichtigkeit, in der
Entziehungscur gleich von Anfang an auf eine zweckmässige und
reichliche Ernährung der Kranken bedacht zu sein, da dieselben
wegen ihrer Appetitlosigkeit und Aufregung sonst rasch von Kräften
kommen. Die Einführung von flüssiger Nahrung, namentlich stark
gekühlter Milch mit Sodawasser, pflegt trotz der Neigung zum Er-
brechen meist zu gelingen.
Die auffallenderen Abstinenzerscheinungen treten bei der plötz-
lichen Entziehung oft schon nach wenigen Tagen, bei der schnellen
etwas langsamer und bei der allmählichen nach einigen Wochen
oder selbst erst Monaten vollständig in den Hintergrund. Der
Appetit bessert sich; das Körpergewicht steigt rasch; der Schlaf stellt
sich, anfangs mit Hülfe von Schlafmitteln, Wasserbehandlung, dann
aber auch von selber wieder ein, und es tritt bei den Kranken
mehr und mehr das Gefühl der Gesundheit und der geistigen
*) Wetterstrand, Zeitschr. f. Hypnotismus, IV, 1.
116 III. Die Vergiftungen.
Frische hervor. Allein die Gefahren des Morphinismus sind damit
durchaus noch nicht überwunden. Noch viele Monate, ja selbst
Jahr und Tag nach der völligen Entwöhnung vom Morphium kann
mit einem Male, häufig im Anschlüsse an einen äusseren Anlass, ein
körperliches Unwohlsein, die Ausführung einer Morphiumeinspritzung,
oder bei Eückkehr in die alte Umgebung, in eine aufreibende
Thätigkeit die Neigung zu dem Mittel mit fast unwiderstehlicher
Gewalt wieder hervortreten. Namentlich 6 — 8 Monate nach "Wieder-
aufnahme der Arbeit pflegt sich ein Zustand von Nervosität einzu-
stellen, welcher dem genesenen Morphinisten ausserordentlich gefähr-
lich ist und eine Ausspannung und Erholung dringend nothwendig
macht. Auch späterhin kehren noch öfters in schwächerer Andeutung
ähnliche Mahnungen zum Ausruhen wieder.
Unter diesen Umständen müssen wir dem entlassenen Morphi-
nisten ernstlich rathen, jede Schwankung seiner nervösen und
psychischen Widerstandsfähigkeit genau zu beachten und sich
mindestens ein Jahr lang nach beendeter Cur in irgend einer Form
unter eine gewisse Ueberwachung zu stellen, welche jede Neigung
zum Rückfalle im Keime erstickt, sei es in der Familie, sei es in
der Gesellschaft eines zuverlässigen, eingeweihten Freundes. Dem
genesenden Arzte ist es ans Herz zu legen, dass er niemals wieder
eine Einspritzung selber ausführt, weil gerade dabei die Gefahr des
Rückfalles am drohendsten hervorzutreten pflegt. Forel empfiehlt
ferner jedem Morphinisten, wie mir scheint, mit gutem Recht, gleich-
zeitig die volle Enthaltsamkeit von geistigen Getränken durchzuführen.
Nicht selten ist es der Leichtsinn der Berauschtheit oder der Miss-
muth des Katzenjammers, welche die mühsam bewahrte Selbst-
beherrschung über den Haufen werfen und zum Rückfall führen.
Endlich habe ich es in mehreren Fällen erreicht, dass die Genesenen
sich dazu entschlossen, einige Jahre lang 1 — 2 mal jährlich eine
strenge Ueberwachung von 2 — 3 tägiger Dauer in einer geschlossenen
Anstalt durchzumachen. Auf diese Weise wird dem Kranken selbst
ein gewisser sittlicher Halt gegeben; seine Angehörigen werden be-
ruhigt, und ein etwaiger Rückfall kann nicht allzulange unentdeckt
bleiben. Freilich pflegen nur diejenigen wiederzukommen, welche
gesund geblieben sind; von den Rückfälligen hört man meist erst
auf Umwegen oder gar nicht.
Die vollständige und dauernde Entziehung des Morphiums er-
Cocainismus, 117
weist sich selbst beim besten Willen des Arztes und des Kranken
in einer Reihe von Fällen als undurchführbar. Abgesehen von
jenen Kranken, denen das Leben wegen irgend eines unheilbaren,
schmerzhaften Leidens nur durch das Morphium erträglich wird,
sieht man bei älteren Personen jenseits der 50 er Jahre sowie bei
sehr lange (Jahrzehnte) bestehendem Morphinismus nicht selten
die Entziehung des Morphiums zu einem langsam fortschreitenden
Siechthum führen, welches die Lebensfähigkeit in höherem Grade
beeinträchtigt, als der Morphinismus selbst. Hier muss man sich
damit begnügen, die Gabe des Mittels nach Möglichkeit niedrig zu
halten und den Kranken dauernd unter ärztliche Aufsicht zu stellen.
C. Der Cocainismus.
Der Cocainismus*) ist die modernste der chronischen Ver-
giftungen. Die angenehmen Wirkungen des Cocains in der Morphium-
entziehung sind es gewesen, welche diesem Mittel sehr rasch eine
unerfreuliche Verbreitung verschafft haben. In der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle ist daher der Cocainmissbrauch mit dem Morphi-
nismus verbunden, und Beobachtungen von reinem Cocainismus sind
bei uns ziemlich selten, während allerdings in der Heimath der Coca,
in Peru, die Folgen dieser chronischen Vergiftung ebenso wohl-
bekannt sind, wie diejenigen des Opiumrauchens in China.
Die nächste Wirkung des Cocains ist eine unter Steigerung der
Pulszahl und Sinken des Blutdruckes eintretende rauschartige
Erregung mit behaglichem Wärmegefühle und ausgesprochenem
Wohlbefinden. Leider bietet der psychologische Versuch mit diesem
Mittel zu grosse Gefahren, so dass wir bisher nur sehr wenig über
seine genaue psychische Wirkung wissen. Allem Anscheine
nach erzeugt dasselbe eine sehr bedeutende, aber kurzdauernde
Steigerung der centralen motorischen Erregbarkeit, welcher dann
eine Lähmung zu folgen scheint. Nach dieser Richtung hin besteht
also eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Alkohol, doch sind die Er-
*) Erlenmeyer, a. a. 0. S. 154 ff., Tliomsen, Chariteannalpii XII, 1887,
S.405; Heymann, Berliner Klin. Wochenschr. XXIV, 1887, S.278; Obersteiner,
Wiener Klin. Wochenschr. 1888, 19; Saury, Annales medico-psychologiques,
1889, 439.
118 in. Die Vergiftungen.
scheinungen weit stürmischere. Dem entspricht auch die einfache
Beobachtung des Cocainrausches. Unter der Wirkung des Mittels
wird der Mensch lebhaft, geschwätzig, schreiblustig, fühlt sich leistungs-
fähiger und kräftiger, doch folgt ziemlich bald die Erschlaffung.
Grössere Gaben erzeugen deliriöse Erregungszustände mit Neigung
zu plötzlichen Collapsen. Auffallender Weise sind die bis jetzt
durch den Yergiftungsversuch nachweisbaren Kindenzellenverände-
rungen nach Cocain verhältnissmässig geringfügig, ein Beweis dafür,
dass dieselben kein zuverlässiger Ausdruck für die Schwere der
Functionsstörung sind. Nissl fand bei Kaninchen, die eine Reihe
von Tagen möglichst stark vergiftet worden waren, nur eine geringe
Mitfärbung der ungefärbten Substanz, beginnende Einschmelzung der
Zellkerne und eine leichte Yermehrung der weissen Blutkörperchen
in der Pia und den Gefässen.
Bei längerer Fortsetzung der Einspritzungen, zu der man durch
ein starkes Unbehagen beim Aussetzen des Mittels (Beklemmungs-
gefühl, Herzklopfen, Ohnmacht) gedrängt wird, stellt sich eine
dauernde nervöse Erregung mit leichter Ideenflucht und völliger
Unfähigkeit zu geistiger Beschäftigung, Willenlosigkeit und Abnahme
des Gedächtnisses ein. Der Kranke entwickelt eine planlose Viel-
geschäftigkeit, ist ungemein redselig und weitschweifig im münd-
lichen Verkehre, schreibt langathmige, ideenflüchtige Briefe ohne
ersichtlichen Zweck und verabsäumt dabei seine wichtigsten Obliegen-
heiten. Er wird unzuverlässig und vergesslich, unordentlich und
kopflos in seiner ganzen Lebensführung^ vernachlässigt sein Aeusseres
und geräth mit seiner Berufsthätigkeit, mit seinen gesellschaftlichen
und wirthschaftlichen Verhältnissen in raschen und unaufhaltsamen
Verfall. Die Stimmung schwankt zwischen überschwänglichem
Wohlbefinden, grosser Reizbarkeit und geheimer, misstrauischer Angst
bei gleichzeitiger gemüthlicher Abstumpfung, die sich in der auf-
fallenden Unempfindlichkeit des Kranken gegen die nächstliegenden
Forderungen der Sittlichkeit kundgiebt.
Diese tiefgreifende psychische Veränderung wird regelmässig von
den Anzeichen schweren körperlichen Siechthums begleitet.
Die allgemeine Ernährung liegt trotz reichlicher Nahrungszufuhr
darnieder; das Körpergewicht sinkt ungemein rasch. Das Aussehen
wird greisenhaft, die Hautfarbe fahl, die Gesichtszüge schlaff, aus-
druckslos, müde, der Gang unsicher; es besteht grosse körperliche
Cocainismus. 119
tScbwäche und Hinfälligkeit. Die Reflexe sind gesteigert; häufig
beobachtet man lebhafte Muskelunruhe und selbst krampfartige
Zuckungen. Die Pupillen sind stark erweitert; die Zunge zittert.
Der Puls ist beschleunigt; dazu kommt Herzklopfen, Athemnoth,
Neigung zu Ohnmächten. Die Schweissabsonderung ist vermehrt;
die Potenz schwindet trotz gleichzeitiger geschlechtlicher Aufregung.
Der Schlaf ist stets sehr gestört, zeitweise völlig aufgehoben, so dass
die Kranken zu Schlafmitteln, namentlich zum Morphium greifen.
Bei einem 14jährigen Knaben meiner Beobachtung, der sich seit
sieben Wochen täglich 2 — 3 gr Cocain einspritzte und in Folge dessen
bereits eine Beugecontractur der beiden, von zahlreichen Abscessen
durchsetzten Arme davon getragen hatte, traten ausserdem Unrein-
lichkeit sowie häufige Schwindelanfälle mit deliriöser Yerwirrtheit
und zeitweisen Hallucinationen auf.
Auf der allgemeinen Grundlage der cocainistischen Entartung
entwickelt sich überaus häufig das eigenartige Krankheitsbild des
Cocain Wahnsinns, der in vielen Stücken dem früher geschilderten
Alkoholwahnsinn ähnelt. Der Beginn der Erkrankung ist meist ein
rascher. Nachdem eine reizbare, misstrauiscbe, ängstliche Stimmung
mit grosser Ruhelosigkeit und ünstetigkeit kurze Zeit vorhergegangen
ist, treten plötzlich Hallucinationen auf verschiedenen Sinnesgebieten
hervor. Der Kranke hört Schimpfworte, Anspielungen, Drohungen,
Gespräche, die sich auf sein gegenwärtiges Thun und Treiben, auf
frühere Erlebnisse, ja auf seine geheimsten Gedanken beziehen.
Seine Umgebung erscheint ihm unheimlich, verändert. Er sieht
Bilder, die ihm wie mit einer Zauberlaterne vorgespiegelt werden,
namentlich aber zahllose winzige Gegenstände, die von ihm als
Flöhe, Bakterien, Krätzmilben, Krystalle aufgefasst und bisweilen
auch unter dem Mikroskope wiedergefunden werden. So kam ein
Arzt zu mir, um mir als Entdeckung von grösster Tragweite den
Nachweis von Milben an allen möglichen Dingen, vor allem in den
Oberhautschuppen seiner Finger zu zeigen. Er verlangte Nach-
prüfung der von ihm mit dem Federmesser sofort losgelösten Schüpp-
chen, in denen er schon mit freiem Auge seine Milben erkannte;
Dauerpräparate seien ihm leider noch nicht gelungen. Zugleich
bat er um Aufnahme wegen Morphio-Cocainismus. Besonders stark
ausgebildet pflegen die Gefühlstäuschungen zu sein. Der Kranke
empfindet ein lebhaftes Hautjucken, das er auf elektrische oder
]^20 m« I^iö Vergiftungen.
magnetische Beeinflussung zurückführt. Er glaubt mit Nadeln
gespickt, ausgesogen, mit Fäden umsponnen, von Ungeziefer auf-
gezehrt zu werden; es befinden sich Kügelchen, feiner Staub, Cocain-
krystalle unter der Haut.
Diese letzten Erfahrungen zeigen uns deutlich den grossen Ein-
fluss, den hier die wahnhafte Deutung auf die Verfälschung der
Wahrnehmung hat. Ziehen in den Gliedern wird von dem Kranken
als Zeichen einer feindseligen Vergiftung betrachtet; starkes Herz-
klopfen führt zu der Befürchtung einer bevorstehenden Herz-
zerreissung. In Folge der Gehörstäuschungen glaubt sich der Kranke
überall bedroht und beobachtet. Man liest seine Gedanken mit
Hülfe geheimnissvoller Vorrichtungen; in den Wänden und Thüren
sind versteckte Oefihungen, durch die man ihn überwacht; man
verfolgt ihn durch Radfahrer; seine Papiere werden durchstöbert
und gelesen; in verleumderischen Briefen werden Niederträchtig-
keiten und Verdächtigungen über ihn ausgestreut. Von allen Seiten
drohen Gefahren, denen sich der Kranke durch Beschwerden bei
der Polizei, durch Wohnungswechsel, überstürzte Reisen, durch
Drohungen und schliesslich sogar durch feindliche Angriffe zu ent-
ziehen sucht. Sehr häufig greift er zum Revolver und schiesst auf
seine vermeintlichen Widersacher, um sein Leben so theuer als mög-
lich zu verkaufen, oder er macht seiner verzweifelten Lage durch
Selbstmord ein Ende. Einer meiner Kranken, dem das Blut in
Strömen aus der Brust hervorzuquellen schien, und der daher seinen
Tod herannahen glaubte, beschwor seine gleichfalls unter dem Ein-
flüsse des Cocains stehende Frau, mit ihm zu sterben, worauf sie
sich sofort mit 1 gr (!) Hyoscin vergiftete, das er unmittelbar vor-
her mit zitternder Hand aus der Apotheke verschrieben hatte.
Eine sehr eigenthümliche, aber anscheinend typische Störung in
diesen Zuständen ist der unsinnige Eifersuchtswahn der Cocainisten.
Wenn schon der sonstige Inhalt der Täuschungen vielfach ein ge-
schlechtlich obscöner ist, so bemächtigt sich des Kranken ferner die
Idee, dass seine Frau ihm von jeher untreu gewesen sei. Er hört
und glaubt, dass sie von allen Seiten Liebesbriefe empfangen, mit
zahllosen Männern geschlechtlich verkehrt habe. Sie ist blass ge-
worden, als sie plötzlich von ihrem Manne überrascht wurde, hat
schnell ein Papier versteckt, ist schon auf der Hochzeitsreise mit
einem fremden Herrn im Abtritt verschwunden, in der Tanzstunde
Cocainismus. 121
von Lieutenants mit aufs Zimmer genommen worden. Ein College
erzählte mir mit dem Ausdrucke tiefsten Bedauerns, seine Frau sei
leider krank, nymphomanisch gewesen; sie habe ihm selber ge-
standen, dass sie sich mit jedem Dienstmann und Droschkenkutscher
vergangen habe; er meine fast, sie sei schon unkeusch auf die Welt
gekommen. Auch dieser Wahn kann gelegentlich zu gefährlichen
Angriffen auf die vermeintlich Schuldigen führen.
Das Bewusstsein der Kranken ist trotz der zahlreichen, nicht
berichtigten Sinnestäuschungen und Wahnideen andauernd so klar,
dass sie nicht nur über ihre Umgebung orientirt, sondern auch im
Stande sind, zusammenhängend und ziemlich geordnet über ihre
Yorstellungen und Zustände Auskunft zu geben. Nur vorübergehend
kommt es unter lebhafteren Affectschwankungen einmal zu stärkerer
Bewusstseinstrübung und Verworrenheit. Niemals besteht jedoch
klare Krankheitseinsicht; auch bei anscheinend vollkommener Be-
sonnenheit werden die unsinnigen Wahnideen festgehalten und folge-
richtig gegen alle Einwände vertheidigt. Die Kranken weisen den
Verdacht der Geistesstörung bestimmt zurück, suchen vielleicht gar
den Nachweis zu führen, dass diese oder jene Person ihrer Um-
gebung plötzlich verrückt geworden sei. Die Stimmung ist erregt,
reizbar, zeitweise zornig und erbittert, am häufigsten misstrauisch
und niedergeschlagen. Vielfach sind die Kranken sehr zurückhaltend
in der Mittheilung ihrer krankhaften Ideen, weichen den Fragen
aus, stellen alles in Abrede. Im Benehmen tritt namentlich eine
ausgeprägte Unruhe und Unstetigkeit hervor; sonst kann dasselbe,
abgesehen von den Zeiten deliriöser Benommenheit, annähernd nor-
mal erscheinen, wenn nicht einzelne, geradezu durch Wahnideen
hervorgerufene Handlungen die schwere geistige Störung verrathen.
Die körperlichen Begleiterscheinungen sind diejenigen der chronischen
Cocain Vergiftung,
Die ganze Entwicklung des Cocainwahnsinns pflegt sich ziem-
lich schnell, oft binnen wenigen Wochen zu vollziehen. Dabei
schliessen sich deutliche Verschlimmerungen mit Zunahme der
Täuschungen und der Erregung an die einzelnen Cocaingaben an.
Die Mengen des verwendeten Giftes pflegen rasch zu wachsen, bis
auf einige Gramm in 24 Stunden. Daneben werden zur Bekämpfung
der Schlaflosigkeit regelmässig andere Mittel, am häufigsten Morphium,
aber auch Chloralhydrat, Sulfonal, Hyoscin u. s. f. genommen. So-
122 ni. Die Vergiftungeu.
bald das Cocain ausgesetzt wird, pflegen die stürmischen deliriösen
Zustände sehr rasch, innerhalb weniger Tage, zu verschwinden,
während die Wahnideen erst nach Wochen oder selbst Monaten und
die Erscheinungen der psychischen Zerrüttung noch weit langsamer
sich verlieren.
Die Entstehung des Cocainismus schliesst sich, wie früher be-
merkt, fast immer an einen anfänglichen Morphinismus an. Bei dem
Yersuche, sich von demselben zu befreien, greift der Kranke mit
oder ohne Zureden des Arztes zum Cocain, welches ihm zunächst
und ganz vorübergehend Erleichterung verschafft, ihn dann aber
wegen der wachsenden Unruhe und Schlaflosigkeit zwingt, zum Mor-
phium zurückzukehren. Einer meiner Kranken spritzte anfangs nur
Morphium ein, pinselte sich aber dann wegen Zahnschmerzen die
Mundschleimhaut mit Cocain. Wenn wir es demnach praktisch fast
immer mit einer Verbindung beider Mittel zu thun haben, so dürften
doch die hier geschilderten Krankheitserscheinungen wesentlich oder
ausschliesslich auf die Cocainwirkung zu beziehen sein. In dem zu-
letzt erwähnten Falle traten die ersten Gehörstäuschungen : „Der wird
verhaftet!" bald nach der Anwendung des Cocains auf, und wir
wurden erst durch sie dazu veranlasst, nach etwaigem Gebrauche
dieses Mittels zu forschen, von dem der Kranke bis dahin nichts an-
gegeben hatte. Auch sonst ist die Entwicklung stürmischer psychischer
Störungen bei reinem Morphinismus so überaus selten, bei der Ver-
bindung mit Cocainismus dagegen so regelmässig, dass die ursäch-
liche Bedeutung gerade des Cocains für den eigenartigen psychischen
Verfall und den hallucinatorischen Wahnsinn der Morphio-Cocainisten
nicht wol bezweifelt werden kann.
Der chronische Cocainismus besitzt eine grosse, unverkennbare
Aehnlichkeit mit dem Alkoholismus, die sich bis in gewisse Einzel-
heiten hinein erstreckt. Die Sinnestäuschungen der Cocainisten er-
innern durchaus an diejenigen der Alkoholdeliranten, die Eifersuchts-
ideen an den bekannten Wahn der Trinker. Gleichwol bestehen
bestimmte Unterschiede. Die Cocainzerrüttung bricht weit ge-
waltiger und unwiderstehlicher über den Menschen herein, als der
Alkoholismus; die schwersten Störungen werden sehr viel rascher
erreicht. Der Cocainwahnsinn steht symptomatisch etwa in der Mitte
zwischen dem Delirium tremens und dem alkoholischen Wahnsinn ;
er nähert sich jenem durch die Mannigfaltigkeit der Täuschungen,
Cocainismus. 123
diesem durch die grössere Besonnenheit. Der Eifersuchtswahn tritt
hier acut und frühzeitig, beim Trinker erst spät und als chronische
Störung auf. Besonders kennzeichnend für die Cocainvergiftung
scheinen die miskroskopischen Gesichts- und Gefühlstäuschungen
zu sein. Endlich zeigt sich überall ein unmittelbar verschlimmern-
der Einfluss jeder einzelnen Cocaingabe auf die psychischen Er-
scheinungen, während der Verlauf der alkoholischen Psychosen
durch den Fortgebrauch des Giftes gar nicht oder nur unerheblich
verändert wird.
Die Prognose des Cocainismus ist eine ausserordentlich trübe.
Der Cocainwahnsinn freilich scheint regelmässig zu heilen, sobald
die Zuführung des Giftes dauernd verhindert wird. Dagegen ist
die Zerstörung der sittlichen Widerstandsfähigkeit hier eine weit
tiefergreifende und nachhaltigere, als bei Alkohol und Morphium.
Die Krauken werden daher fast ausnahmslos rückfällig, oft nach sehr
kurzer Zeit.
Eine einigermassen wirksame Bekämpfung des Cocainismus
kann nur von der Vorbeugung desselben ausgehen. Jede nicht rein
örtliche Anwendung des Mittels muss als unzulässig angesehen, sein
Gebrauch bei der Morphiumentziehung geradezu als Gewissenlosig-
keit gebrandmarkt, noch besser als Kunstfehler bestraft werden.
Wir Alle haben als Aerzte die Pflicht, das Publicum auf das ein-
dringlichste vor dem gefährlichen Gifte zu warnen und unnachsicht-
lich die niederträchtige Ausbeutung der Kranken durch Händler und
Aerzte zur Anzeige zu bringen. Dass die Entziehung der Praxis
bei cocainistischen Aerzten noch dringender geboten ist, als bei
morphinistischen, bedarf nach den Schilderungen der Cocainwirkung
und nach meinen eigenen, geradezu schrecklichen Erfahrungen
keiner weiteren Ausführung.
Die Entziehung des Cocains allein pflegt nur von geringfügigen
Störungen begleitet zu sein, die theilweise auch wol noch als Ver-
giftungserscheinungen zu betrachten sind. Dazu gehören Unruhe,
Schlaflosigkeit, Herzklopfen, Athenmoth, endlich plötzliche, collaps-
artige Ohnmächten. Im allgemeinen wird daher das Mittel in
wenigen Abstufungen oder sogar mit einem Schlage entzogen werden
können. Natürlich ist dabei sorgfältige Ueberwachung und unter
Umständen ein anregendes Verfahren mit Alkohol, Kaffee, Kampfer,
Herzmitteln, kühlen Uebergiessungen u. s. f. am Platze. Die Schlaf-
124 ni. Die Vergiftungen.
losigkeit wird durch laue Bäder, Sulfonal, Trional bekämpft, gleich-
zeitig auf möglichst kräftige Ernährung Bedacht genommen. Bei
der regelmässigen Verbindung mit Morphinismus wird man am
zweckmässigsten zunächst das Cocain entziehen und dann erst mit
dem Morphium heruntergehen. Selbstverständlich kann jede der-
artige Cur nur in einer Anstalt und unter sicherem Ausschlüsse
jedes unberufenen Yerkehrs nach aussen geschehen. Ist doch die
sittliche Unzuverlässigkeit dieser Kranken weit grösser, als selbst
diejenige der reinen Morphinisten. Für die weitere Behandlung der
Kranken nach vollendeter Entziehung aller Mittel gelten die früher
ausführlich besprochenen Grundsätze. Nur empfiehlt es sich, hier
überall noch vorsichtii2:er und misstrauischer zu verfahren, als dort.
lY. Das thyreogene Irresein.
"Wenn wir bei den Geistesstörungen nach Vergiftungen und
Infectionen die krankmachende Schädlichkeit von aussen her in den
Körper eindringen sahen, so haben wir nunmehr eine Gruppe von
Psychosen zu betrachten, als deren Ursache krankhafte Vorgänge in
einem Organe des Körpers selbst, in der Schilddrüse, angesehen
werden dürfen. Freilich kennen wir die einzelnen Glieder dieses
Zusammenhanges noch nicht, aber wir wissen doch bestimmt, dass
es sich um Selbstvergiftungen handelt, die durch den Ausfall der
Schilddrüsenthätigkeit zu Stande kommen. Geht die Schilddrüse
schon in früher Kindheit zu Grunde, so entsteht das Krankheitsbild
des Kretinismus, während ihre Vernichtung in späterem Alter
zum myxödematösen Irresein führt. Auch der Geistesstörungen
bei Basedow 'scher Krankheit würden wir in diesem Abschnitte zu
gedenken haben, da sie ebenfalls zu Erkrankungen der Schilddrüse in
Beziehung stehen. Nur die verhältnissmässig geringe praktische Be-
deutung derselben für den Irrenarzt hat uns hier auf die Schilderung
jener Zustände verzichten lassen.
A. Das myxödematöse Irresein*),
Die myxödematöse Geistesstüruug ist gekennzeichnet durch eine
fortschreitende Verlangsamung und Erschwerung aller
psychischen Verrichtungen unter gleichzeitigem Auftreten
eigenthümlicher Hautveränderungen und gewisser nervöser
*) Ewald, Die Erkrankungen der Schilddrüse, Myxödem ii. Cretinismus. 1896;
Buschan, üeber Myxödem und verwandte Zustände. 1896.
126 IV. Das thyreogene Irresein.
Störungen. Das Leiden beginnt in der Regel ganz allmählich. Es
entwickelt sich nach und nach eine auffallende Schwerfälhgkeit
und Unbehülflichkeit in der Auffassung und Yerarbeitung äusserer
Eindrücke. Die Kranken vermögen nur mit Mühe, einem Gespräche
zu folgen, überhören und raissverstehen Vieles; beim Lesen eines
Buches müssen sie die einzelnen Sätze mehrmals wiederholen, bis
sie den Sinn einigermassen erfasst haben. Dabei ermüden sie un-
gemein leicht. Schon die einfachsten geistigen Leistungen kosten
ihnen eine unverhältnissmässige Anstrengung, so dass sie nach
kurzer Anspannung ihre Gedanken nicht mehr recht zu sammeln
vermögen. Die psychischen Zeiten, die ich in einem Falle messen
konnte, sind dementsprechend bedeutend verlängert. Das Gedächt-
niss nimmt sehr erheblich ab. Namentlich die Ereignisse aus letzter
Zeit verblassen schnell. Die Erinnerung wird unklar und zusammen-
hangslos; Vieles geht auch spurlos wieder verloren. Die Kranken
vergessen daher Verabredungen, Aufträge, Vorhaben, müssen sich
alles aufschreiben, was irgendwie für sie Wichtigkeit hat. Das Be-
wusstsein, die allgemeine Orientirung pflegt dabei dauernd klar zu
bleiben, wenn auch regelmässig eine leichte Unbesinnlichkeit deutlich
erkennbar ist.
Natürlich entwickelt sich aus diesen Störungen eine schwere
Beeinträchtigung der gesammten Lebensführung. Die Kranken ge-
winnen kein rechtes Verständniss für die Vorgänge in ihrer Um-
gebung; sie brauchen zu den einfachsten Verrichtungen, zum
Schreiben eines Briefes, zum Ankleiden, unglaublich lange Zeit,
müssen sich auf alle Einzelheiten erst mühselig besinnen und oft
von vorn anfangen, weil sie irgend etwas Wichtiges vergessen
haben. Diese Schwierigkeiten wachsen allmählich so sehr, dass die
Kranken kaum das Allernothwendigste fertig bringen und schliess-
lich auf jede eigentliche Thätigkeit verzichten. In den höchsten
Graden der Störung werden sie ganz hülflos, da sie zu jeder körper-
lichen oder geistigen Beschäftigung vollkommen unfähig sind. Die
tiefgreifende Veränderung, welche sich auf diese Weise mit den
Kranken vollzieht, wird mindestens in der ersten Zeit von ihnen
deutlich auf das peinlichste empfunden. Sie merken, wie sie „ver-
simpeln'^; es ist ihnen, als ob sich ein Schleier über ihr Denken
lege. Späterhin freilich tritt immer mehr eine gewisse Stumpfheit
und Gleichgültigkeit hervor. Die Kranken machen sich keine sonder-
Myxödematöses Irresein. 127
liehen Sorgen über ihren Zustand, nehmen keinen Antheil an
dem Wohl und Wehe ihrer nächsten Angehörigen, äussern weder
Freude noch Schmerz und gerathen in eine Art gemüthlicher Er-
starrung, in der sie sich willenlos, ohne eigene Wünsche und ohne
Pläne für die Zukunft von irgend welchen zufälligen Einflüssen be-
stimmen lassen.
In einer nicht geringen Anzahl von Fällen wird das Bild einer
einfachen Verblödung von einer Keihe auffallenderer psychischer
Störungen begleitet. Namentlich sind es gemüthliche Erregungen,
die sich vielfach einstellen. Die Kranken werden ängstlich, klein-
müthig, machen sich Sorgen, äussern Selbstvorwürfe, Befürchtungen,
Selbstmordgedanken. Bisweilen entwickelt sich nun Schlaflosigkeit,
starke Unruhe und Aufregung, Jammern, sinnloses Widerstreben,
Nahrungsverweigerung; seltener scheinen auch Zustände von Ver-
wirrtheit, allerlei Sinnestäuschungen und ausgeprägtere Verfolgungs-
ideen vorzukommen.
Die körperlichen Begleiterscheinungen dieses Verblödungs Vor-
ganges sind so bekannt, dass wir ihrer hier nur kurz zu gedenken
haben. Am meisten in die Augen fallen die Veränderungen an der
Haut. Dieselbe wird dick, trocken, rauh und legt sich in starre
Falten, so dass sie sich nur in Wülsten von ihrer Unterlage abheben
lässt. In den Wangen, am Kinn, an der Stirn, besonders aber am
Nacken, an den Oberarmen, oft auch in der Bauchhaut und am
Oberschenkel fühlt man plattenartige Einlagerungen im Unterhaut-
zellgewebe. Nicht selten finden sich hier deutliche Striae. Der
elektrische Leituugswiderstand ist beträchtlich erhöht. Finger und
Zehen werden dick und unförmlich. Das Gesicht wird breit, die
Züge grob und plump; der Ausdruck erhält durch den Verlust des
feineren Mienenspiels etwas Starres, Maskenartiges. Die Haare fallen
aus; die Nägel werden brüchig. Auch auf die Schleimhäute erstreckt
sich die Hautverdickung. Die Zunge vergrössert sich, wird schwer
beweglich; das Zahnfleisch wulstet sich; die Zähne beginnen oft zu
kränkeln und auszufallen. Die Nasenschleimhaut zeigt eine trockene
Schwellung mit geringfügiger, aber dauernder schleimig-seröser Ab-
sonderung. Der Magen wird empfindlich, der Appetit gering, der
Darm träge. Die Stimme wird rauh, klanglos, eintönig, die Sprache
langsam und schwerfällig. Das Gehör pflegt zu leiden, doch besteht
öfters gleichzeitig Empfindlichkeit gegen laute Geräusche. Alle Haut-
128 iV. Das thja'eogene Irresein.
verdickungen können sich übrigens im Laufe der Krankheit wieder
verlieren, so dass dann die Haut an den früher infiltrirten Stellen
in Form von weiten, schlaffen Säcken herabhängt
Dazu kommt eine ganze Reihe von nervösen Störungen. Schon
im Beginne bestehen häufig Kopfschmerzen, dumpfer Druck, Schwindel-
gefühl; bisweilen kommt es zu Ohnmächten und selbst Krampf-
anfällen, die entweder den epileptischen gleichen oder die Kenn-
zeichen der Tetanie darbieten; auch Stimmritzenkrämpfe habe ich
beobachtet. Sehr häufig sind an der Zunge und namentlich an
Armen und Händen feine Zitterbewegungen, von einzelnen gröberen
Stössen unterbrochen. Die Bewegungen werden plump, ungeschickt,
der Gang langsam, schwerfällig. Die mechanische Erregbarkeit der
Muskeln und Nerven pflegt erhöht zu sein; die Kniesehnenreflexe
sind meist gesteigert.
Endlich haben wir noch eine Anzahl von Krankheitszeichen
zu erwähnen, die unmittelbar auf Stoffwechsel Veränderungen hin-
deuten. Die Schleimhäute sind blass, blutleer; die Menses bleiben
aus; die Körperwärme ist sehr niedrig; es besteht grosse Empfind-
lichkeit gegen Kälte, wie denn auch die Krankheit in der kalten
Jahreszeit sich gern verschlimmert. Wahrscheinlich sind auch tief-
greifende Yeränderungen des Blutes vorhanden. In einigen von
mir beobachteten Fällen erschienen die rothen Blutkörperchen ver-
grössert, und es fanden sich auch sonst noch allerlei, einstweilen
nicht näher erklärbare Abweichungen in ihrem chemischen Ver-
halten, Oefters scheint auch eine Abnahme der rothen Blut-
körperchen vorzukommen. Die Absorptionsfähigkeit für Sauer-
stoff ist nach Alexander Schmidt's Erfahrungen herabgesetzt,
ebenso die Gerinnungsfähigkeit, Mit dieser letzteren Veränderung
steht oÖenbar die Thatsache im Zusammenhang, dass Blutungen
bei unseren Kranken häufig und in grosser Ausdehnung beobachtet
werden.
Der Verlauf der myxödematösen Geistesstörung ist, wie es
scheint, in der Regel ein fortschreitender, wenn keine geeignete Be-
handlung eintritt. Die Kranken verblöden immer mehr; zugleich
stellen sich die Zeichen eines zunehmenden körperlichen Verfalles
ein, äusserste Abmagerung, Schwäche, schwere Verdauungs- und
Ernährungsstörungen, Collapse. Vielfach erfolgt dann der Tod durch
eine hinzutretende Krankheit, welcher der geschwächte Körper keinen
Myxödematöses Irresein. 129
"Widerstand mehr entgegenzusetzen vermag. Nachlässe der Störungen
kommen indessen häufiger vor. Ausserdem muss ich nach meinen
Erfahrungen annehmen, dass die Fälle nicht ganz selten sind , in
denen sich schwächer ausgeprägte myxödematöse Störungen auch
ohne Behandlung allmählich wieder zurückbilden.
Die Ursache der mxyödematösen Yerblödung liegt ohne jeden
Zweifel in dem Ausfalle der Schilddrüsenthätigkeit. Das wird am
klarsten dargethan durch das Auftreten der ganzen Erscheinungs-
reihe nach der chirurgischen Entfernung der Schilddrüse, durch die
sogenannte „Kachexia strumipriva". Beim Menschen wie bei fleisch-
fressenden Thieren sehen wir nach vollständiger Beseitigung jenes
Organs sehr bald gesteigerte Erregbarkeit der Muskeln und Nerven,
erhöhte Reflexe, Tetanie, Zittern, epileptiforme Krämpfe auftreten,
Störungen, die uns beim Myxödem in gleicher Weise begegnet sind.
Während Hunde und Katzen meist unter schweren Collapsen rasch
zu Grunde gehen, pflegen sich beim Menschen die stürmischen Er-
scheinungen allmählich zu bessern. Allein es kann sich nunmehr
ein fortschreitendes Siechthum entwickeln, welches in allen Einzel-
heiten durchaus demjenigen des Myxödems gleicht. Wir werden
daher zu der Annahme gezwungen, dass die Schilddrüse ein unent-
behrliches Glied im Haushalte unseres Körpers vorstellt. Am wahr-
scheinlichsten ist es heute wol, dass ihre Thätigkeit gewisse giftige
Stoffwechselproducte zerstört. Wo trotz ihrer Entfernung das Siech-
thum nicht auftritt oder sich wieder verliert, haben wir an die
Deckung des Ausfalles durch Nebenschilddrüsen oder vielleicht auch
durch andere Organe zu denken. So sah man die Hypophysis nach
Ausschneiden der Schilddrüse sich vergrössern.
Beim eigentlichen Myxödem entwickelt sich das Krankheitsbild
natürlich weit langsamer, als bei der Kachexia strumipriva. Immer
aber findet man auch hier eine Vernichtung des Schilddrüsengewebes,
die meist mit einem Schwund des Organs, seltener mit einer krank-
haften Vergrösserung desselben einhergeht. Am Lebenden ist es bei
der ungünstigen Lage der Drüse nicht immer leicht, sich über solch e
Veränderungen Klarheit zu verschaffen. Am häufigsten scheint binde-
gewebige Entartung der Drüse zu sein; seltener wird das Myxödem
durch colloide Veränderungen erzeugt, da bei diesen in der Regel
noch gesunde Inseln des Drüsengewebes erhalten bleiben. In ver-
einzelten Fällen kann auch Syphilis, Tuberculose, Aktinomykose die
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Baud. •'
130 IV- Das thyreogene Irresein.
Zerstörung der Schilddrüse herbeiführen. Endlich hat man das
Myxödem bisweilen als Ausgang der Basedow 'sehen Krankheit
beobachtet, gewissermassen als Verödung der vorher übermässig
thätigen Drüse.
Ganz besonders interessant, wenn auch leider noch sehr dunkel,
sind die Beziehungen des Myxödems zum Geschlecht. Mehr als 2/4
der bisher bekannten Fälle betreffen Frauen, namentlich im mittleren
und im Rückbildungsalter. Hie und da ist ein Zurücktreten des
Myxödems während der Schwangerschaft beobachtet worden. Diese
Thatsachen bieten eine gute Uebereinstimmung mit der allgemeinen
Erfahrung, dass die Thätigkeit der Schilddrüse mit den geschlecht-
lichen Vorgängen beim Weibe in nahem Zusammenhange steht.
Wir wissen, dass Yergrösserungen der Schilddrüse bei Frauen un-
gleich häufiger sind, als bei Männern, dass jenes Organ während
der Menses nicht selten merklich anschwillt. Während der Schwanger-
schaft und beim Säugegeschäfte entwickeln sich vielfach Tetanie
und Basedow 'sehe Krankheit. Diese letztere, die sich zudem gern
in den Entwicklungsjahren einstellt, ist ebenso wie das Myxödem
häufig von Menstruationsstörungen begleitet. Allerdings sind wir
heute noch nicht in der Lage, uns über das Wesen dieses an den
verschiedensten Punkten hervortretenden Zusammenhanges irgendwie
klare Yorstellungen zu machen; wir werden jedoch ähnlichen An-
deutungen späterhin auch bei der Besprechung der Dementia praecox
begegnen.
Die Behandlung des Myxödems ist, Dank den Entdeckungen
der letzten Jahre, eine ungemein einfache und sichere geworden..
Es genügt vollständig, das fehlende Drüsengewebe dem Körper wieder
zuzuführen, sei es roh, in Gestalt des getrockneten Pulvers, in Ta-
bletten oder in flüssigem Auszuge, Die Wirkung dieser Behandlung
übertrifft an verblüffenden Erfolgen alles, was wir sonst von eigent-
lichen Arzneiwirkungen kennen, offenbar deswegen, weil es sich hier
gar nicht um eine Arznei handelt, sondern um ein natürliches Er-
zeugniss des Körpers. Meist bedient man sich der getrockneten
Hammelschilddrüse, von der etwa 0,1 gr 1 — 3 Mal täglich gegeben
werden. Man hüte sich vor verdorbenen und daher unwirksamen
Präparaten. Zweckmässiger ist vielleicht noch die Anwendung des
von Baumann aus der Drüse dargestellten Jodothyrins, wenn auch
die Angaben über dessen Wirkung noch etwas auseinandergehen^
Cretinismus. 13 1
Es ist nothwendig, die Gabe des Mittels nur sehr vorsichtig zu
steigern, weil sonst leicht Vergiftungserscheinungen, Kopfschmerz,
Schwindel, Pulsbeschleunigung, bedrohliche Herzschwäche und selbst
tödtliche Collapse eintreten können. Die Wirkung beginnt mit dem
3. oder 4. Tage, um von nun an mit erstaunlicher Schnelligkeit
fortzuschreiten. Es stellen sich massenhafte Ausscheidungen durch
den Darm und die Nieren ein; Haut und Schleimhäute schwollen
ab; das Körpergewicht sinkt rasch. Die Nase wird durchgängig, die
Zunge beweglicher; die Magenbeschwerden schwinden; die Haut
wird weich und feucht, sondert reichlichen Schweiss ab. Zugleich
löst sich auch die Erstarrung von dem geistigen Leben. Die Kranken
fühlen sich freier, leistungsfähiger, wie erlöst von schwerem Druck,
nehmen wieder Antheil, werden munter, frisch und lebhaft. In dem
obenerwähnten Falle sank die Dauer der psychischen Zeiten binnen
14 Tagen auf die Hälfte. Auf diese Weise kann in verhältnissmässig
kurzer Zeit das ganze schwere Krankheitsbild verschwinden; nur
eine gewisse Ermüdbarkeit pflegt noch längere Zeit zurückzubleiben.
Freilich muss das Mittel, wie das in dem Wesen der Krankheit
liegt, in kleinen Gaben dauernd fortgenommen werden; die Menge
bestimmt sich nach dem Auftreten der ersten leichten Erscheinungen
des Rückfalles.
Ob in allen, auch in den sehr weit vorgeschrittenen Fällen, noch
eine vollständige Genesung möglich ist, muss erst die weitere Er-
fahrung lehren; jedenfalls scheinen die Störungen recht lange einer
gänzlichen Rückbildung zugänglich zu sein.
B. Der Cretinismus.
Der Cretinismus*) ist ausgezeichnet durch die Verbindung einer
früh erworbenen, mehr oder weniger hochgradigen psychischen
Entwicklungshemmung mit den körperlichen Begleiterschei-
nungen einer Verkümmerung oder Entartung der Schild-
drüse. Der cretinistische Zustand ist bei der Geburt in der Regel
*) Baillarger et Krishaber, cretin, cretinisme et goitre endemique,
dictionnaire encyclopedique des sciences medicales. 1879 (Literatur); Bircher,
Volkmanns Klinische Vorträge, Nr. 357; Cristiani, annali di freniatria,
1897, 349.
9»
132 IV. Das thyreogene Irresein.
noch nicht vorhanden; in seltenen Ausnahmefällen sind indessen
Einder bereits mit Kröpfen geboren worden. Am häufigsten zeigen
sich die ersten Andeutungen des Leidens gegen Ende des ersten
Lebensjahres. Die Kinder bleiben in ihrer gesammten körperlichen
Entwicklung zurück, zeigen ein blasses, gedunsenes Aussehen. Sie
lernen sehr spät oder gar nicht gehen, sind träge und unbeholfen in
ihren Bewegungen. Psychisch sind sie stumpf, theilnahmlos, sprechen
nicht, schlafen viel, essen ohne Auswahl, vermögen sich nicht rein-
lich zu halten und bedürfen lange, bisweilen ihr ganzes Leben hin-
durch, einer sorgfältigen Pflege.
Um das 5. oder 6. Lebensjahr macht sich meist deutlich die
Yergrösserung der Schilddrüse bemerkbar, die, bis zum 12. oder
15. Jahre fortschrei tend_, ganz ausserordentliche Grade erreichen kann.
In anderen, weniger häufigen Fällen (etwa ^j^) verschwindet da-
gegen für die äussere Untersuchung jede Spur der Schilddrüse. Das
geringe Längenwachsthum des Knochenskeletts führt zum Zwerg-
wuchs. Dabei pflegen die einzelnen Skeletttheile massig, öfters sogar
unförmlich entwickelt zu sein; auch der Kopf ist meist auffallend
gross, aber flach, das Gesicht niedrig, der Hals kurz und dick. Die
Schädelbasis ist verkümmert, stark gekrümmt; dagegen findet eine
Ausweitung der Schädelkapsel nach den Seiten, bisweilen auch nach
oben statt. Die Nase ist breit; die Augenhöhlen stehen weit aus-
einander. Die gesammte Haut ist wulstig, hypertrophisch, hängt an
einzelnen Stellen, am Nacken, an den Oberarmen, in Form dicker,
nur im Ganzen verschieblicher Platten über der gewöhnlich recht
schwächlichen Muskulatur. Namentlich die breiten Gesichter mit
den schwammigen Backen und Augenlidern, den dicken Lippen, der
aufgestülpten, an der Wurzel tief eingedrückten Nase bieten einen
sehr merkwürdigen Anblick dar. Die beigegebene Tafel I zeigt alle
diese Yeränderungen sehr deutlich. Bei schlechterem Ernährungs-
znstande wird die Haut eigenthümlich faltig, schlaff und runzlig.
Der Haarwuchs ist regelmässig spärlich. Die Zähne sind schlecht,
cariös, gerippt, stehen schief, nach vorwärts gerichtet. Die beiden
Zahnreihen passen vielfach nicht aufeinander, weil der Unterkiefer
gegenüber dem oberen zurücktritt oder vorspringt. Die Zunge ist
dick, unbeholfen in ihren Bewegungen, die Sprache daher auch dort,
wo sie sich über unarticulirtes Grunzen erhebt, vielfach lallend,
stammelnd, ungelenk. Die Stimme klingt rauh, heiser, bisweilen
TS
Cretinismus. 133
fistulös. Die Hautempfindlichkeit ist erheblich herabgesetzt. Alle
BeAvegungen sind plump, schwerfällig, der Gang langsam und
schleppend. Hie und da werden Krampfanfälle beobachtet, ferner
Facialisphänomen, in einzelnen Fällen Tetanie. Die Geschlechts-
entwicklung tritt spät oder bei den höchsten Graden des Leidens gar
nicht ein. Hier unterbleibt bisweilen auch der Zahnwechsel. Die
Widerstandskraft der Cretinen gegen Krankheiten und andere Schäd-
lichkeiten pflegt eine sehr geringe zu sein; sie erreichen daher meist
kein hohes Lebensalter, nur recht selten das 50. Jahr.
In psychischer Beziehung können die Cretinen alle mög-
lichen Grade der Erkrankung vom tiefsten Blödsinn bis zum leichten
Schwachsinn darbieten, ja es giebt einzelne Personen, welche trotz
gewisser körperlicher Anzeichen des Cretinismus (namentlich Kropf)
dennoch in ihrem geistigen Verhalten von der Gesundheitsbreite
nicht erkennbar abweichen. Bei der überwiegenden Mehrzahl der
Kranken jedoch findet sich eine ausgeprägte Stumpfheit und Un-
empfänglichkeit, welche sie mehr oder weniger unfähig macht, Ein-
drücke in sich aufzunehmen, Erfahrungen zu sammeln, Vorstellungen
und Begriffe zu bilden. Sie bleiben daher sehr häufig auf der Stufe
des 4 — 5jährigen Kindes stehen, öfters auch noch tiefer. Auch die
gemüthliche Erregbarkeit der Cretinen ist regelmässig eine sehr
geringe; sie sind gleichgültig, phlegmatisch, vielfach kindisch zu-
thunlich, gutmüthig und lenksam. Zu geregelter Arbeit sind sie
meist nicht fähig, theils wegen ihrer Trägheit und Schlaffheit, theils
wegen ihrer geringen Kräfte und der grossen Ermüdbarkeit. Ge-
wöhnlich besteht dieser Zustand durch das ganze Leben gieichmässig
fort. Nur in einzelnen Fällen gesellen sich, gerade wie bei Idioten,
mehr vorübergehende geistige Störungen hinzu, Erregungen, De-
pressionen oder dürftige Wahnbildungen. Ferner können sich natür-
lich auf dem Boden der cretinistischen Veranlagung auch ver-
schiedenartige sonstige Formen des Irreseins entwickeln; mehrfach
sah ich manisch-depressives Irresein, einmal auch Paralyse.
Die pathologische Anatomie des Cretinismus liegt leider
noch völlig im Argen. Wir wissen über den Hirnbefund eigent-
lich nur, dass theilweiser Schwund, Asymmetrien, Erweiterung
der Hirnhöhlen vorkommen. Hier wäre ein Angriffspunkt für
die Forschung mit Hülfe der neueren Methoden. Der Schädel
ist häufig verdickt, Jochbogen und Unterkiefer schwach ent-
134 ^^- Das thyreogene Irresein.
wickelt; auch sonst finden sich eine grosse Zahl verschiedenartiger
Abweichungen *).
Der Cretinismus tritt bei weitem am häufigsten endemisch
auf, namentlich in den grossen Gebirgsstöcken aller Erdtheile, in
Europa besonders in den Alpen und Pyrenäen. Am meisten scheinen
die mittleren Abschnitte sehr heisser und feuchter Gebirgsthäler
gefährdet zu sein; auch dem Kalkboden wird eine gewisse Bedeutung
zugeschrieben. Die letzten Ursachen dieser endemischen Vertheilung
sind bisher noch unbekannt; man hat die verschiedenartigsten Um-
stände, grosse Feuchtigkeit, Stagnation der Luft, schlechtes Trink-
wasser, Gehalt der Luft und des Bodens an gewissen Bestandtheilen
geologische Formatiou, ungünstige hygienische Yerhältnisse , dafür
verantwortlich gemacht, ohne doch bisher eine sichere Erklärung
auffinden zu können. Immerhin weisen zahlreiche Beobachtungs-
thatsachen vor allem auf eine sehr wichtige Eolle des Trinkwassers
hin. Dl der Schweiz hat die Bevölkerung vielfach solche Quellen
als „Kropfbrunnen" bezeichnet, auf deren Benutzung die Entstehung
des Cretinismus zurückgeführt wurde. Hie und da hat sich die Be-
schränkung des Leidens auf einen bestimmten Brunnenbezirk, das
Aufhören oder das Auftreten des Cretinismus mit der Schliessung
oder Eröffnung einer bestimmten "Wasserquelle nachweisen lassen.
Auch das Kochen, ja schon das Eiltriren des verdächtigen "Wassers
soll seine verhängnissvolle Wirkung beseitigen können.
Meistens pflegt die Ursache des Cretinismus eine weitere Yer-
breitung zu besitzen und den Typus der Gesammtbevölkerung einer
Gegend mehr oder weniger stark zu beeinflussen, so dass eben dadurch
jene zahlreichen Abstufungen bis in die Gesundheitsbreite hinein ent-
stehen, denen wir regelmässig neben den schwersten Formen begegnen.
Ja, auch die Thiere, Schweine, Hunde, Pferde, Rindvieh, Katzen^ be-
sonders aber Maulthiere, können die Zeichen des endemischen Creti-
nismus darbieten. Erwachsene Fremde, welche sich in den gefährdeten
Gegenden niederlassen, erkranken nicht oder höchstens mit ganz
leichten Kropfbildungen, während die dort von ihnen erzeugten
Kinder gar nicht selten cretinistisch entarten. Andererseits ist der
Cretinismus einer erblichen Uebertragung fähig, auch nach der Aus-
wanderung aus der befallenen Gegend; er pflegt sich unter solchen
*) Jentsch, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 776.
Cretinismus. 1 35
Umständen erst nach wiederholter Kreuzung mit gesundem Blute
zu verlieren.
Alle diese eigenthümlichen Thatsachen scheinen darauf hinzu-
weisen, dass wir als die Ursache des Cretinismus eine Schädlichkeit
anzusehen haben, welcher eine gewisse Selbständigkeit der Ent-
wicklung neben der Entstehung unter bestimmten allgemeinen
hygienischen Bedingungen zukommt, ein Verhalten, das mit grösster
Wahrscheinlichkeit auf einen organisirten Ansteckungsstoff
hinweist. Namentlich der jugendliche, bezw. fötale Organismus
scheint diesem, offenbar wenig flüchtigen und vielleicht auf die Nach-
kommenschaft übertragbaren endemischen Contagium besonders leicht
zugänglich zu sein. Nach Allem, was wir über das Myxödem sowie
über das Siechthum nach Ausschneidung der Schilddrüse wissen,
kann kein Zweifel mehr sein, dass auch beim Cretinismus die
Erkrankung der Schilddrüse das erste Glied des Leidens dar-
stellt, während die Hautveränderungen, die Wachsthumshemmung,
der Blödsinn als die Folgen des Ausfalls der Schilddrüsenthätigkeit
anzusehen sind. Ist es doch gelungen, bei Thieren die cretinistische
Entartung mit allen ihren Eigenthümlichkeiten durch die Entfernung
jenes Organes künstlich herbeizuführen! Auf diese Weise erklärt
es sich einmal, dass es Cretinen mit und ohne Kropf giebt, da die
Erkrankung der Schilddrüse natürlich zur Vergrösserung und Ent-
artung, aber auch zur Schrumpfung des Organs führen kann. So
erklären sich ferner die verschiedenen Grade des Cretinismus durch
die verschiedene Ausbreitung der örtlichen Veränderungen wie
durch die wechselnde Ausbildung stellvertretender Drüsen. Endlich
aber begreift man leicht, dass es neben dem endemischen hie und
da auch einmal einen Fall von „sporadischem'' Cretinismus geben
kann, wenn nämlich die Schilddrüse nicht durch den gewöhnlichen,
auf bestimmte Gegenden beschränkten Krankheitserreger, sondern
durch irgend ein anderes Leiden bereits in der Jugend leistungs-
unfähig wird. Die Aehnlichkeit der cretinistischen mit der Malaria-
entartung scheint mir eine sehr grosse zu sein; in beiden Fällen
handelt es sich um die Erkrankung einer für den Blutstoffwechsel
nothwendigen Drüse, in beiden wahrscheinlich um einen organisirten
Krankheitserreger, welcher im Grundwasser gewisser Oertlichkeiten
von gleicher Bodenbeschaffenheit seine günstigen Entwicklungs-
bedingungen findet und die ganze Bevölkerimg heimsucht, den
136 I^- Das thyreogene Irresein.
Einen stärker, den Andern weniger. Ob sich unter den verschiedenen,
von italienischen Forschern im Trinkwasser der Cretinengegenden
aufge fundenen Mikroorganismen bereits der wirkliche Erzeuger der
Schilddrüsenerkrankung befindet, bleibt abzuwarten.
Aus der Eikenntniss der Entstehungsweise des Cretinismus
leiten sicii leicht die Massregeln für seine Bekämpfung ab. Die
Erfahrung hat gezeigt, dass Entsumpfung des Bodens und Ver-
sorgung der Bevölkerung mit gutem Trinkwasser überall mit über-
raschender Sicherheit eine Abnahme der Endemie herbeigeführt
hat. Auch die allgemeine Yerbesserung der hygienischen Yerhält-
nisse scheint vielfach günstig gewirkt zu haben, vielleicht weil auf
diese Weise die "Widerstandsfähigkeit gegen den Krankheitsträger ge-
steigert wurde. Es wäre wenigstens denkbar, dass der vielfach be-
stätigte Einfluss der Erblichkeit wesentlich mit auf der Vererbung
einer geschwächten, wenig widerstandsfähigen körperlichen Anlage
beruht. Jedenfalls ist daher reichliche Kreuzung mit gesundem
Blute zu empfehlen. Eür die einzelne Person kann die Vorbeugung
wirksam dadurch eingreifen, dass die kleinen Kinder möglichst früh-
zeitig aus der befallenen Gegend fortgeschickt werden, bis sie das
gefährdete Alter überschritten haben, am besten auf die Höhe des Ge-
birges. Erfahrene Beobachter theilen mit, dass diese Massregel selbst dann
noch völlige Genesung erzielen könne, wenn bereits die ersten Zeichen
der beginnenden Erkrankung erkennbar seien; auch fortgesetzte kleine
Jodkaliumgaben sollen in diesem Stadium von guter Wirkung sein.
Endlich kann man daran denken, die Entwicklung des Leidens
durch regelmässige Verabreichung von getrockneter Schilddrüse zu
verhindern. Die bis jetzt über dieses Verfahren vorliegenden Be-
obachtungen*) sprechen durchaus dafür, dass es bei rechtzeitigem
Eingreifen gelingen kann, sogar die deutlichen Zeichen der cretinisti-
schen Entartung noch zum Schwinden zu bringen. Bei sehr langer
Dauer der Krankheit ist es nach meinen Erfahrungen zwar auch
möglich^ durch Thyreoidin die Hautschwellungen erheblich zu ver-
ringern ; auch die ausgebliebenen Menses sah ich wiederkehren. Allein
der psychische Zustand wird nicht mehr merklich beeinflusst, offen-
bar deswegen, weil sich nun bereits unausgleichbare Veränderungen
in der Hirnrinde vollzogen haben.
*") Bourneville, Progies niedical, 1897, 10 u. 11.
Y. Die Dementia praecox.
Unter dem Namen der Dementia praecox sei es uns gestattet, vor-
läufig eine Eeihe von Krankheitsbildern zusammenzufassen, deren ge-
meinsame Eigenthümlichkeit der Ausgang in eigenartige Schwäche-
zustände bildet. Es scheint zwar, dass dieser ungünstige Ausgang
nicht ausnahmslos eintreten m.uss, aber er ist doch so ungemein
häufig, dass wir einstweilen noch an der gebräuchlichen Bezeichnung
festhalten möchten. Vielleicht wären andere Bezeichnungen, wie die
„demenza primitiva" der Italiener oder der von Rieger bevorzugte
Ausdruck „Dementia simplex" noch zutreffender. Ich kann nach
den bisher bekannten klinisclien und anatomischen Thatsachen
nicht zweifeln, dass wir es hier mit schweren und in der
Regel höchstens theilweise rückbildungsfähigen Schädigungen der
Hirnrinde zu thun haben. Ob allerdings der Krankheitsvorgang
überall der gleiche ist, mass zur Zeit noch als völlig unsicher be-
zeichnet werden.
Yom klinischen Standpunkte empfiehlt es sich vielleicht, der
Uebersichtlichkeit halber drei Hauptgruppen der Dementia praecox
auseinander zu halten, die jedoch ohne Zweifel durch flicssende
Uebergänge mit einander verbunden sind. Wir wollen diese Formen
als hebephrenische, katatonische und paranoide bezeichnen.
Die erste derselben deckt sich mit der frülier von mir beschriebenen
Dementia praecox, die zweite mit der Katatonie, während die dritte
die Dementia paranoides und ausserdem diejenigen sonst der Paranoia
zugerechneten FäUe umfasst, die rasch zu einem erheblichen Grade
geistiger Schwäche führen. Das ganze Gebiet der Dementia praecox
entspricht im wesentlichen den früher als „Verblöduugsprocesse" be-
zeichneten Krankheitsbildern; ich möchte diese Verschiebung der
Benennungen vorschlagen, weil auch die Paralyse und der Alters-
138 ^- 01*3 Dementia praecox.
blödsinn sowie eine Reihe weiterer Krankheitsvorgänge allenfalls
mit unter dem Namen der Verblödungsprocesse verstanden werden
könnten.
Die Mannigfaltigkeit der Zustandsbilder, die wir im Verlaufe
der Dementia praecox beobachten, ist eine sehr grosse, so dass für
die oberflächliche Betrachtung oft die innere Zusammengehörigkeit
nur schwer erkennbar ist. Dennoch begegnen uns gewisse Grund-
störungen in mehr oder weniger ausgeprägter Form überall wieder,
am reinsten allerdings in den Endzuständen, in denen die mehr zu-
fälligen und vorübergehenden Begleiterscheinungen des Krankheits-
vorganges hinter den dauernden und kennzeichnenden Veränderungen
des Seelenlebens zurückgetreten sind.
Die einfache Auffassung äusserer Eindrücke pflegt in der
Dementia praecox keine stärkeren Beeinträchtigungen zu erleiden.
Die Kranken nehmen im allgemeinen ganz gut wahr, was um sie
her vorgeht, oft weit besser, als man nach ihrem Verhalten erwarten
sollte. Man ist überrascht, dass anscheinend völlig stumpfe Kranke
alle möglichen Einzelheiten in ihrer Umgebung richtig aufgefasst
haben, plötzlich die Namen ihrer Leidensgefährten kennen, Aende-
rungen in der Kleidung des Arztes bemerken. In Folge dessen ist
auch die Orientirung der Kranken meist ungestört. Sie wissen
in der Regel, wo sie sich befinden, erkennen die Personen, sind
Mar über die Zeitrechnung. Nur im Stupor und in heftigen Angst-
zuständen kann die Orientirung zeitweise stärker getrübt sein, doch
ist es geradezu kennzeichnend K\r die Kranken, dass sie oft trotz
stärkster Erregung vollkommen besonnen bleiben. Andererseits
wird jedoch die Orientirung nicht selten durch Wahnbildungen be-
einträchtigt. Die Kranken bezeichnen Aufenthaltsort und Personen
falsch, geben ein verkehrtes Datum an, nicht wegen der Unfähigkeit,
richtig aufzufassen und zu überlegen, sondern weil ihre Wahnvor-
stellungen mächtiger sind, als die von der Wahrnehmung gelieferten
Anhaltspunkte. Freilich ist es nicht immer möglich, über diese
Verhältnisse Klarheit zu gewinnen, weil die Kranken vielfach gar
keine oder absichtlich falsche Auskunft geben.
Schwere Störungen erleidet die Sinnoserfahrung bei unseren
Kranken sehr häufig durch das Auftreten von Trugwahrnehmungen.
Namentlich bei acuter oder subacuter Entwicklung der Krankheit
pflegen dieselben fast niemals zu fehlen. Hie und da begleiten sie den
Allgemeine Krankheitszeichen. 139
ganzen Krankheits verlauf; häufiger schwinden sie späterhin aUraäii-
lich, um dann in den Endzuständen nur noch zeitweise stärker
hervorzutreten. Am häufigsten sind Gehörstäuschungen, nächstdem
Gesichtstäuschungen und Gefühlstäuschungen, die Empfindung von
Durchströmungen, Berührungen, Beeinflussungen. Im Beginne der
Krankheit pflegen die Täuschungen unangenehmen Inhalts zu sein
und den Kranken lebhaft zu beunruhigen. Später werden sie meist
gleichmüthiger hingenommen, wenn wir von vorübergehenden Er-
regungszuständen absehen. Manche Kranke betrachten die Täusch-
ungen als künstliche Erzeugnisse, als eine Art Theater, das ihnen
vorgeführt wird, belustigen sich auch wol darüber; noch andere
kümmern sich gar nicht darum und machen überhaupt erst auf
eindringliches Befragen einige spärliche Angaben über den Inhalt
ihrer Täuschungen. Oefters ist derselbe ein ganz unsinniger und
zusammenhangsloser. So hörte ein sonst völlig besonnener und ge-
ordneter Kranker dauernd Sätze wie die folgenden, die deutlich die
Erscheinung des Haftens der Vorstellungen zeigen:
„Denn wir selber können immer hoffen, dass wir uns andere Gedanken zaMen
lassen sollen. Denn wir selbst wollen's wissen wollen, wer mit uns den Saukopf
närrisch hin zu Tode quälen lassen sollte. Nein, wir selber sind nicht mehr so
dumm, und kümmern uns nicht immer drum, wenn wir uns Saufen sparen lassen
soUen. Weil wir eben närrisch machen und uns selber saudumm anschmieren
lassen sollen."
Das Bewusstsein der Kranken ist in vielen Fällen dauernd
völlig klar. Nur in den Erregungs- und Stuporzuständen kommt
es zeitweise zu Trübungen, wenn sie auch meist weniger hochgradig
sind, als es auf den ersten Blick scheint. Schwere Störungen pflegt
dagegen regelmässig die Aufmerksamkeit zu zeigen. Wenn man
auch oft die Kranken vorübergehend zum Aufpassen bringen kann, so
besteht doch dabei nicht selten grosse Ablenkbarkeit, die ein längeres
Festhalten bei demselben Gegenstande unmöglich macht. Yor allem
aber fehlt den Kranken durchweg das Interesse, die Neigung, aus
eigenem inneren Antriebe ihre Aufmerksamkeit auf die Vorgänge in
ihrer Umgebung zu richten. Obgleich sie recht wol wahrnehmen, was
um sie her vorgeht, beachten sie es doch nicht, suchen es nicht zu er-
fassen und zu verstehen. In sehr tiefem Stupor oder bei vor-
geschrittenem Blödsinn kann es auch ganz unmöglich werden, über-
haupt noch irgendwie die Aufmerksamkeit der Kranken zu erregen.
Umgekehrt sieht man bisweilen beim Schwinden des Stupors eine
\4:0 V. Die Dementia praecox.
gewisse Neugierde bei den Kranken auftreten; sie beobachten ver-
stohlen, was sich im Zimmer abspielt, folgen dem Arzte von weitem,
sehen in alle offenstehenden Thüren hinein, wenden sich aber ab,
wenn man sie anruft, blicken fort, sobald man ihnen etwas zeigen
will. Anscheinend wird hier di§ wieder erwachende Aufmerksam-
keit durch den Negativismus in Schranken gehalten.
Das Gedächtniss der Kranken ist verhältnissmässig wenig ge-
stört. Sie vermögen, wenn sie wollen, über ihre Vergangenheit ein-
gehende, richtige Angaben zu machen, wissen oft auf Tage genau,
wie lange sie in der Anstalt sind. Ihre in der Schule erworbenen
Kenntnisse haften bisweilen mit erstaunlicher Zähigkeit bis in die
Zeit tiefster Yerblödung hinein. Ich erinnere mich an einen ganz
stumpfsinnigen Bauernburschen, der vor der Landkarte jede beliebige
Stadt ohne Zögern aufzeigen konnte; ein anderer verblüffte durch
seine geschichtlichen Kenntnisse ; noch andere lösen mit Leichtigkeit
schwierige Kechenaufgaben. Auch die Merkfähigkeit ist oft recht
gut erhalten. Allerdings stellt sich nach schwerem Stupor nicht
selten heraus, dass die Kranken von den Vorgängen während
längerer Zeiträume gar keine oder doch nur sehr unklare Erinnerung
besitzen; auf der anderen Seite aber gelingt es meist leicht, selbst
ganz theilnahmlosen Kranken Zahlen oder Namen einzuprägen, die
sie dann nach Tagen und Wochen richtig wieder vorbringen. Frei-
lich erhält man dabei öfters zunächst wegen des Negativismus un-
zutreffende Antworten, bis dann bei eindringlicherem Befragen
klar wird, dass die Kranken sich die Aufgabe ganz gut gemerkt
hatten.
Der Gedankengang der Kranken pflegt früher oder später
stets empfindlich zu leiden. Auch wenn wir absehen von der Ver-
wirrtheit in den Erregungszuständen und vom Stupor, bei dem wir
die inneren Vorgänge nicht verfolgen können, bildet sich in der
Regel mehr und mehr eine gewisse Zerfahrenheit des Denkens
heraus, wie wir sie früher eingehend geschildert haben. In leichteren
Fällen zeigt sich dieselbe vielleicht nur in erhöhter Ablenkbarkeit
und Sprunghaftigkeit, in unvermitteltem üebergehen von einem
Gegenstande zum anderen, dem Einflechten überflüssiger Redens-
arten und Nebengedanken; bei schwererer Störung dagegen ent-
wickelt sich nicht selten die Sprach Verwirrtheit mit ihrem völhgen
Verluste jeden Zusammenhanges und ihren Wortneubildungen. Frei-
AUgemeiue Krankheitszeicheu. 141
lieh muss zugegeben werden, dass dabei der eigentliche Gedanken-
gang möglicherweise viel weniger gestört ist, als es den Anschein
hat, weil die Kranken unter Umständen nicht nur gut auffassen,
sondern auch das Aufgefasste weiter verarbeiten und sich annähernd
geordnet benehmen können. Fast immer begegnen uns übrigens im
Gedankengange der Kranken die Anzeichen der Stereotypie, des
Haftens einzelner Yorstellungen , welches zeitweise sogar das ganze
Denken der Kranken derart beherrschen kann, dass Wochen und
Monate lang immer dieselben dürftigen Wendungen wiederkehren.
Häufig beobachten wir auch die Neigung zum Reimen, zu sinnlosen
Klangwiederholungen, zu gewaltsamen Wortspielereien.
Schwer geschädigt wird ferner ausnahmslos die Urtheilsfähig-
keit der Kranken. So sicher sie sich bisweilen noch in eingelernten
Bahnen bewegen, so pflegen sie doch zu versagen, sobald es sich
darum handelt, neue Erfahrungen geistig zu verarbeiten. Sie ver-
stehen nicht mehr recht, was um sie herum vorgeht, überblicken die
Sachlage nicht, denken nicht nach, verfallen nicht auf die nächst-
liegenden Schlüsse und machen sich keine Einwände. In Folge
dessen haben sie von ihrer Lage, ihrem Zustande meist eine ganz
falsche Vorstellung. Wenn auch nicht selten ein gewisses Bewusst-
sein der krankhaften Veränderung vorhanden ist, die sich mit
ihnen vollzogen hat, fehlt ihnen doch regelmässig das tiefere Ver-
ständniss für die Schwere der Störung und die weitreichenden
Folgen, welche dieselbe für die ganze Zukunft nach sich zieht.
Ungemein häufig entwickeln sich auf diesem Boden vorüber-
gehend oder dauernd Wahnvorstellungen. In der ersten Zeit
der Krankheit pflegen sie vorzugsweise traurigen Inhalts zu sein,
hypochondrische, Versündigungs-, Verfolgungsideen. Späterhin gesellen
sich oft Grössenideen hinzu oder treten auch wol ganz in den
Vordergrund. Alle diese AVahn Vorstellungen zeigen in der Regel
sehr bald ein unsinniges, abenteuerliches Gepräge, anscheinend wegen
der sich rasch entwickelnden geistigen Schwäche. Sie sind ferner
nicht unveränderlich, sondern wechseln ihren Inhalt mehr oder
weniger schnell durch Ausfallen früherer. Hinzutreten neuer Bestand-
theile. Bisweilen bringen die Kranken trotz gewisser dauernder
Grundzüge fast jeden Tag neue w^ahnhafte Einzelheiten vor, lassen
sich auch wol durch Zureden zur Erfindung beliebiger Wahn-
bildungen anregen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle hört
142 V. I^ie Dementia praecox.
die anfangs oft sehr üppige Wahnbildung allmählich ganz auf.
Höchstens werden noch einzelne "Wahnvorstellungen einige Zeit hin-
durch festgehalten, ohne weiter verarbeitet zu werden, oder sie
tauchen von Zeit zu Zeit noch einmal hervor, oder endlich sie ge-
rathen dauernd und vollständig in Vergessenheit. Nur in jener
Gruppe von • Beobachtungen, die wir als paranoide Formen zu-
sammenfassen wollen, erhalten sich die Wahnvorstellungen länger,
aber auch hier werden sie immer zerfahrener und zusammen-
hangsloser.
Sehr auffallende und tiefgreifende Störungen spielen sich regel-
mässig im Gemüthsleben unserer Kranken ab. Den Beginn der
Krankheit bilden ausserordentlich häufig traurige oder ängstliche
Yerstimmungen, bisweilen mit lebhafter Erregung. Etwas seltener
sind Zustände ausgelassener Lustigkeit mit fortwährendem unbändigem
Lachen. Weit wichtiger aber, als diese vorübergehenden Zustands-
bilder ist die ausnahmslos eintretende, mehr oder weniger hoch-
gradige gemüthliche Verblödung, die einen der Grundzüge des
ganzen Krankheitsvorganges darstellt. Schon der oben erwähnte
Mangel an Interesse für die Umgebung dürfte als eine Theil-
erscheinung dieser allgemeinen Störung aufzufassen sein, insofern
die inneren Beweggründe zur Anspannung der Aufmerksamkeit
eben wesentlich durch Gefühle geliefert werden. Die eigenthüm-
liche Gleichgültigkeit der Kranken gegenüber ihren sonstigen ge-
müthlichen Beziehungen, das Erlöschen der Zuneigung zu Angehörigen
und Freunden, der Befriedigung an Thätigkeit und Beruf, an Er-
holung und Vergnügungen ist nicht selten das erste und auffallendste
Zeichen des hereinbrechenden Leidens. Die Kranken empfinden,
auch wenn etwa die Ausdrucksbewegungen noch lebhaft sind, inner-
lich keine rechte Freude und keine Trauer mehr, hegen weder
Wünsche noch Befürchtungen, sondern leben theilnahmlos in den
Tag hinein, bald stumpf vor sich hinbrütend, bald in gegenstands-
loser Heiterkeit. Auch gegen körperliches Unbehagen scheinen sie
oft unempfindlicher gCAvorden zu sein, ertragen unbequeme Stellungen,
Nadelstiche, Verletzungen, ohne sich viel daraus zu machen. Oefters
behält jedoch das Essen sehr lange eine besondere Anziehungskraft.
Man sieht die Kranken ohne Gruss oder sonstiges Zeichen gemüth-
licher Anregung die Besuche ihrer Angehörigen empfangen, aber
eiligst deren Taschen und Körbe nach Esswaren durchstöbern, die
Allgemeine Kraukheitszeiclien. 143
sie sich sofort, mit vollen Backen kauend, bis auf den letzten Rest
einzuverleiben pflegen. Auch in den Endzuständen der Krankheit
ist die vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber allen Vorgängen in
der Umgebung ein Hauptzug des klinischen Bildes. Damit kann
sich unter Umständen recht wol eine gewisse Reizbarkeit verbinden,
die allerdings meist nur zu Zeiten hervortritt, seltener dauernd
fortbesteht.
Hand in Hand mit dieser tiefen Störung des Gemüthslebens
gehen die ausgebreiteten und mannigfaltigen Krankheitserscheinungen
auf dem Gebiete des Benehmens und Handelns, die dem ganzen
Bilde am meisten sein eigenartiges Gepräge geben. Die allgemeine
Grundlage scheint eine Herabsetzung der Willensantriebe überhaupt
zu sein, wie sie sich namentlich in der Willenlosigkeit der End-
zustände zeigt, oft aber auch schon von Anfang an deutlich hervor-
tritt. Die Kranken haben jeden eigenen Antrieb zum Handeln und
zur Thätigkeit verloren, sitzen müssig herum, vernachlässigen ihre
Obliegenheiten, obschon sie vielleicht noch im Stande sind, sich
auf äussere Anregung hin in geordneter Weise zu beschäftigen.
Neben dieser Unfähigkeit zu selbständiger Thätigkeit kann sich
dauernd oder vorübergehend ein mehr oder Aveniger lebhafter Be-
wegungsdrang entwickeln, der sich unter Umständen bis zu stürmisch-
ster Tobsucht steigert. Aber auch bei ihm haben wir es, wie schon
früher ausgeführt, nicht mit einer Steigerung der Willensantriebe,
sondern nur mit einer motorischen Erregung zu thun; die Be-
Avegungen erstreben nicht die Verwirklichung bestimmter Ziele,
sondern sind die planlosen Entäusserungen innerer Spannung.
Allerdings verbindet sich mit dieser Erregung in der Regel
auch eine erleichterte Umsetzung von Bewegungsantrieben in Handeln,
Wir sehen unsere Kranken auf plötzliche Einfälle hin Scheiben zer-
schlagen, die Beine durch das Eenstergitter stecken. Tische und
Stühle umwerfen, sich selbst verletzen, schwere Selbstmordversuche
machen. Alle derartigen unsinnigen Handlungen pflegen plötzlich,
mit grosser Gewalt und blitzschnell ausgeführt zu werden, sobald
der Antrieb dazu auftaucht. Den Kranken fehlen dabei bestimmte
verstandesmässige Beweggründe; sie handeln triebartig, ohne sich
über den Zweck ihres Thuns Rechenschaft zu geben, auch wenn sie
dasselbe mitunter nachträglich noch durch Ueberlegungen zu be-
gründen suchen.
144 ^- Die Dementia praecox.
Diese Unfähigkeit, auftauchende Antriebe zu unterdrücken, findet
sich aber nicht nur in der Erregung, sondern vielfach auch im
Stupor der Dementia praecox. Dieser letztere wird im allgemeinen
von der Erscheinung der Willenssperrung beherrscht; jeder An-
trieb wird zunächst durch einen noch stärkeren von entgegengesetzter
Kichtung ausgelöscht. Auf diese Weise entsteht das Krankheits-
zeichen des Negativismus, dem wir hier in den verschiedenartigsten
Gestaltungen unendlich häufig begegnen. Dahin gehören der starre
Widerstand gegen jede Lage Veränderung, gegen Nahrungsaufnahme
und Kleidung, das Schliessen der Augen, das Wegwenden des Kopfes
und Entschlüpfen bei Anreden, das Zurückhalten von Koth, Urin
und Speichel, das Verkriechen unter die Bettdecke, das "Verschmähen
des Bettes, die Stummheit, die gesucht unsinnigen Antworten, die
plötzliche Unterbrechung angefangener Bewegungen und Hand-
lungen, die Unzugänglichkeit gegenüber allen Aufforderungen und
Eingriffen. Auch dieser Negativismus, dessen Ausprägung und
Stärke zwar vielfach wechselt, der aber von aussen her nur selten
zu beeinflussen ist, kann durch innere Antriebe ganz unvermittelt
jäh durchbrochen werden, so dass die bis dahin regungslosen Kranken
plötzlich mit grösster Kraft und Schnelligkeit irgend eine sinnlose
Handlung begehen, um vielleicht ebenso plötzlich in den früheren
Zustand zurück zu versinken.
Yielfach indessen schwinden die einmal aufgetauchten Antriebe
nicht sofort wieder, sondern wiederholen sich durch kürzere oder
längere Zeit hindurch immer von neuem. Auf diese Weise entstehen
alle jene mannigfachen Bewegungs- und Haltungsstereotypen,
die namentlich das Bild der Katatonie so seltsam gestalten, ferner
die Yerbigeration und endlich auch die Manieren, die wenigstens
der Mehrzahl nach nichts anderes sind, als erstarrte krankhafte Ab-
änderungen geläufiger Handlungen. Das Athmen, Sprechen, Schreiben,
das Stehen und Gehen, das An- und Auskleiden, das Handgeben
und Essen, die Geberden laufen nicht in der gewöhnlichen unge-
zwungenen Weise ab, sondern sie werden bestimmt, begleitet, durch-
kreuzt von allerlei Nebenantrieben, die trotz mannigfaltigster persön-
licher Yerschiedenheiten doch gewisse immer wiederkehrende Formen
aufweisen, namentlich aber bei demselben Kranken oft jähre- imd
jahrzehntelang mit grosser Zähigkeit haften. Wir werden sie später-
hin im einzelnen zu schildern haben.
Allgemeine Krankheitszeicben. 145
Mit der schweren Schädigung des Willens, dem Untergehen
der eigenen Antriebe und Hemmungen dürfte endlich auch das bei
der Dementia praecox sehr häufige Krankheitszeichen der Befehls-
automati e in nahen Beziehungen stehen. Die Kranken sind,
namentlich bei vorgeschrittener Terblödung, nicht nur im allgemeinen
lenksam, so dass sie den unentbehrlichen Stamm jener Massen
bilden, die sich willig dem einförmigen Tageslaufe der grossen An-
stalten fügen, sondern sie zeigen auch im einzelnen vielfach die
Zeichen erhöhter Beeinflussbarkeit. Bei einer grossen Zahl be-
obachten wir zeitweise oder bis an das Lebensende Katalepsie, sehr
oft auch Echolalie und Echopraxie. Allerdings wechselt das Auf-
treten dieser Störungen vielfach, aber es dürfte wenige Kranke mit
Dementia praecox geben, die nicht das eine oder das andere dieser
Zeichen zu irgend einer Zeit des Krankheitsverlaufes dargeboten
haben.
Die Arbeitsfähigkeit der Kranken leidet ausnahmslos sehr
empfindlich. Sie müssen überall angetrieben werden, stocken vor
jeder kleinen Schwierigkeit, vermögen sich veränderten Bedingungen
nicht anzupassen. Einer meiner Kranken, der unter Aufsicht rasch
und flott abschrieb, so lange man wollte, war durchaus unfähig, den
Einschalturgszeichen zu folgen, gab vielmehr trotz eingehendster
vorheriger Belehrung doch immer alles gedankenlos genau so wieder,
wie es ihm vor die Feder kam. Andere sind im Stande, früher
eingeübte Arbeiten mit grosser Sauberkeit zu wiederholen, versagen
aber sofort, wenn ihnen neue Aufgaben gestellt werden. Hier kommt
es dann oft zu eigeuthümlich verschrobenen Leistungen, Handarbeiten,
Zeichnungen, in denen sich neben den Spuren technischer Fertigkeit
der Yerlust des Schönheitssinnes und die Neigung zum Absonder-
lichen kundgiebt. Ebenso pflegt sich bei den musikalischen Leistungen
der Untergang des künstlerischen Feingefühls in ihren bald aus-
druckslosen, bald verzerrten und willkürlichen Darbietungen be-
merkbar zu machen.
Ausser den psychischen Störungen sind auch auf körper-
lichem Gebiete eine Reihe von Krankheitserscheinungen zu
verzeichnen, deren genauere Beziehungen zu dem Grundleiden
allerdings noch nicht in allen Punkten feststehen. Yor allem
sind hier die Anfälle zu erwähnen, die schon von Kahlbaum
und Jensen sehr gut beschrieben wurden. Es handelt sich meist
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. It)
146 V. Die Dementia praecox.
um Ohnmächten oder um epileptiforme Krämpfe, die bald ver-
einzelt, bald häufiger bei unseren Kranken auftreten. Seltener
sind Krämpfe in einzelnen Muskelgebieten (Gesicht, Arm), Tetanie
oder gar apoplektiforme Anfälle mit länger dauernder Lähmung;
doch wurde auch von solchen einige Male aus der Yorgeschichte
berichtet. Ich selbst sah einmal einen schweren Collaps mit Krämpfen
in der linken Körperhälfte und im rechten Facialis. Nicht ganz
selten bildet ein solcher Anfall das erste Zeichen der beginnenden
Krankheit. So sah ich unter anderen einen von Jugend auf be-
sonders begabten älteren Studenten, der plötzlich von einem tiefen
Koma befallen wurde, aus dem er nur ganz aJlmähhch wieder er-
wachte. Es war ausser einer leichten Pupillendifferenz, Facialis-
phaenomen und starker Steigerung der Reflexe keine Spur von
Hirnerscheinungen vorhanden, doch bot der Kranke, als ich ihn
wenige Wochen später untersuchte, das ausgeprägte Bild des vor-
zeitigen Schwachsinns dar, das noch heute fortbesteht. Alle diese
Anfälle sind nahezu doppelt so häufig beim weiblichen wie beim
männlichen Geschlechte. Nach meiner Zusammenstellung fanden
sie sich in etwa 18% aller Fälle. Ausserdem aber waren bei einer
ganzen Reihe von Kranken schon in der Jugend Krämpfe oder
Ohnmächten vorausgegangen, von denen es zweifelhaft bleiben muss,
ob ihnen irgend ein Zusammenhang mit der Geistesstörung zu-
geschrieben werden darf. Endlich wurden öfters hysteriforme
Krämpfe und Lähmungen beobachtet, Aphonie, Singultus, plötzliches
Steif werden, örtliche Contracturen u. ähnl. Mehrfach bestanden
dauernd eigenthümliche choreaartige Bewegungen, die ich am besten
mit dem Ausdrucke „athetoide Ataxie" kennzeichnen zu können
glaube. In zwei Fällen gelang es, während eines Zustandes dumpfer
Benommenheit deutliche aphasische Störungen nachzuweisen. Die
Kranken waren ausser Stande, die ihnen vorgelegten Gegenstände
zu erkennen und zu benennen, obgleich sie sprechen konnten und
sich offenbar die grösste Mühe gaben, die geforderte Auskunft zu
geben. Wiederholt kamen nach langem Besinnen falsche Bezeich-
nungen zu Tage. Die Störung war nach wenigen Stunden wieder
verschwunden.
Die Sehnenreflexe sind regelmässig gesteigert, oft sogar sehr
bedeutend; vielfach findet sich auch erhöhte mechanische Erregbar-
keit der Muskeln und Nerven. Die Pupillen sind häufig auffallend
Allgemeine Krankheitszeichen. 147
weit, namentlich in den Aufregungszuständen; hie und da beobachtet
man deutliche, aber wechsehide Pupillendifferenz, auch Bulbusunruhe.
Verbreitet sind ferner vasomotorische Störungen, Cyanose, um-
schriebene Oedeme, Dermatographie in allen Abstufungen; in ein-
zelnen Eällen besteht starkes Schwitzen. Die Speichelabsonderung
scheint vielfach vermehrt zu sein; so konnte ich bei einem Kranken
in 6 Stunden 375 ccm Speichel sammeln. Die Herzthätigkeit ist
grossen Schwankungen unterworfen, bald verlangsamt, häufiger
etwas beschleunigt, oft auch schwach und unregelmässig. Die
Körperwärme ist meist niedrig; einmal sah ich sie bis auf 33,8
heruntergehen. Die Menses pflegen auszubleiben oder unregelmässig
zu werden.
Sehr oft beobachtete ich diffuse Yergrösserungen der Schilddrüse,
einige Male das Schwinden solcher Yergrösserungen unmittelbar vor
dem ersten Auftreten der Krankheitserscheinungen, auch wiederholten
raschen Wechsel im Umfang der Drüse während der Entwicklung des
Leidens. In einzelnen Fällen waren Exophthalmus und Zittern vor-
handen. Endlich fielen uns wie den Angehörigen der Kranken nicht
selten myxödematöse Yerdickungen der Haut ins Auge, namentlich
im Gesichte. Leider sind diese Befunde bei der Häufigkeit creti-
nistischer Andeutungen bei uns zunächst nicht weiter zu verwerthen.
Sehr häufig schienen anaemische Zustände zu bestehen. Im Harne
fand sich einmal Zucker; einmal bestand Polyurie.
Der Schlaf der Kranken ist während der ganzen Entwicklung
des Leidens vielfach gestört, auch wenn sie ruhig daliegen.
Die Nahrungsaufnahme schwankt von völliger Yerweigerung bis
zu stärkster Fressgier. Das Körpergewicht pflegt zunächst zu
sinken, oft sehr beträchtlich, bis zur äussersten Abmagerung,
auch trotz reichlichster jSTahrungszufuhr. Späterhin sehen wir
im Gegentheil das Gewicht meist rasch ganz ausserordentlich
ansteigen, so dass die Kranken in kurzer Zeit ein ungemein
wohlgenährtes, gedunsenes Aussehen gewinnen. Yon den hier
wiedergegebenen Curven zeigt die erste den Gang des Körper-
gewichtes bei dem gewöhnlichen Yerlaufe eines katatonischen
Stupors mit Ausgang in Blödsinn mittleren Grades. Trotzdem
nach dem Erwachen aus dem Stupor eine leichte Erregung
einsetzte, nahm das Gewicht doch sehr stark zu. Die Curve lY
wurde bei einer Kranken gewonnen, welche trotz sorgfältigster
10*
148
Y. Die Dementia praecox.
Pflege und reichlicher Nahrungsaufnahme ohne irgend eine Organ-
erkrankung in hochgradigstem Marasmus zu Grunde ging. Die
Curve Y endlich bietet bei einer beginnenden Katatonie eine Keilie
von ziemlich regelmässigen Schwankungen dar, die jeweils mit
einem Wechsel zwischen Stupor und grösserer Klarheit einhergingen.
Später verwischte sich diese Regelmässigkeit, und es kam zu dauern-
der Yerblödung.
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Katatonie. Stupor, dann Verblödung'
mit leichter Erregung.
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Curve IV.
Katatonie mit sehr starker Erregung. Tod in
iiusserstem Marasmus oline Organerlirankung.
Subnormale Temperaturen ; reichliche
Nahrungsaufnahme.
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Curve V.
Katatonie. Wechsel zwischen Stupor
und Klarheit.
Die klinische Einzeldarstellung des grossen Gebietes der De-
mentia praecox stösst auf erhebliche Schwierigkeiten, weil eine Ab-
grenzung der verschiedenen Krankheitsbilder nur künstlich durch-
führbar ist. Es giebt wol eine ganze Reihe häufiger wiederkehrender
Gestaltungen, aber zwischen ihnen liegen so zahlreiche Uebergänge,
dass es trotz aller Bemühungen heute unmöglich erscheint, jeden
Fall einwandsfrei einer bestimmten Form zuzuweisen. Die im
folgenden versuchte Gruppirung hat daher keinen anderen Werth, als
den der Uebersichtlichkeit. Möglich ist es ja, dass eine genauere
Hebephrenische Formen. 149
Kenntniss des Wesens der Dementia praecox uns einmal Gesichts-
punkte für die klinische Eintheilung des Gebietes an die Hand giebt,
die uns heute noch völlig unbekannt sind.
Hebephrenisclie Formen. Die erste genauere und in ihrer Art
geradezu mustergültige Schilderung gewisser Formen der Dementia
praecox verdanken wir Heck er*), der 1871 im Anschlüsse an
Kahl bau ms Aufstellungen unter dem Namen der Hebephrenie
solche Fälle beschrieb, bei denen sich nach einem melancholischen
Eingangsstadium ein solches der Manie entwickelt, um rasch in einen
ganz eigenartigen Schwachsinnszustand auszugehen. Als Hebephrenie
in diesem Sinne würde somit nur ein kleiner Theil der hier in der
Dementia praecox vereinigten Beobachtungen zu bezeichnen sein.
Daraszkiewicz**) hat daher den Begriff der Hebephrenie dahin
erweitert, dass er auch die „schweren Formen" umschliesst, welche
zu tiefem Blödsinn führen. Da diese Ausdehnung der Bezeich-
nung sich einzubürgern scheint, wollen auch wir hier als Hebe-
phrenie ganz allgemein diejenigen Formen der Dementia praecox
zusammenfassen, bei denen sich allmählich oder unter den
Erscheinungen einer subacuten, seltener acuten Geistes-
störung ein einfacher, mehr oder weniger hochgradiger
geistiger Schwächezustand herausbildet.
Die Entwicklung dieses Krankheitsvorganges kann sich in sehr
verschiedenartiger Weise abspielen. In mehi* als der Hälfte der
Fälle vollzieht sich die Umwälzung so unmerklich und unter so un-
bestimmten Anzeichen, dass der eigentliche Beginn derselben sich
nachträglich gar nicht mehr feststellen lässt. Viele dieser Fälle
kommen überhaupt nicht in die Behandlung des Irrenarztes, da die
"Veränderung von der Umgebung nicht als eine eigentlich krankhafte
sondern nur als das Ergebniss einer unglücklichen Entwicklung,
vielleicht sogar auch einer Verschuldung durch Charakterfehler be-
trachtet wird.
Die ersten Zeichen des herannahenden Leidens bilden in der
Kegel Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindelgefühl und eine all-
mähliche Veränderung im Wesen des Kranken. Er wird still, in
sich gekehrt, verstört, scheu, verschlossen, wortkarg, zeitweise auch
*) Virchows Archiv LH, S. 394.
**) Ueber Hebephrenie, insbesondere deren schwere Form. Diss. Dorpat, 1892.
150 V. Die Demeutia praecox.
wol reizbar und grob, störrisch, rechthaberisch oder grundlos heiter
und ausgelassen. Die Arbeit geht ihm nicht mehr von der Hand; in
seinen Obliegenheiten ist er nachlässig, gedankenlos, zerstreut, ver-
gesslich, kümmert sich nicht darum, ob etwas fertig wird oder nicht,
sondern sitzt unthätig und brütend in den Ecken herum, starrt
theilnahmlos vor sich hin, legt sich einige Tage ins Bett. Andere
Kranke zeigen eine gewisse innere Unruhe und ünstetigkeit, halten
es nirgends lange aus, treiben sich planlos herum, laufen ohne be-
stimmtes Ziel davon, auch in der Nacht, reisen aufs gerathewohl
und ohne Geld in die Welt hinein. Bisweilen lässt der Zustand im
Beginne deutliche Schwankungen erkennen, Wechsel zwischen besseren
und schlechteren Zeiten; bei Frauen werden mitunter längere Zeit
vor der Entwicklung der Krankheit leichte Erregungszustände während
der Menses beobachtet.
Etwas seltener kennzeichnet sich der Beginn der Krankheit
durch eine ausgeprägte traurige Verstimmung. Die Kranken
werden niedergeschlagen, muthlos, ängstlich, misstrauisch , haben
Heimweh, ziehen sich zurück, tragen sich mit Todesgedanken, macheu
öfters plötzlich einen Selbstmordversuch. In der Regel stellen
sich alsbald Sinnestäuschungen ein. In der Nacht erscheint Gott
und Christus, eine feurige Gestalt, ein Kreuz an der Wand; Engel
schweben durch das Zimmer; Mäuse, Ameisen, Teufelchen huschen
auf dem Bette herum. Die Augen werden mit Spiegeln geblendet;
in den Sternbildern erscheint das Deutsche Reichswappen; schwarze
Todtenvögel fliegen vorbei. Yor den Ohren ertönen Zwitschern,
Klingen, Brausen und Surren, Gepolter, Musik, „Murmelei und natur-
gemässe Geisterstimmen", flüsternde Stimmen von der ganzen Mensch-
heit. Der Edison -Phonograph spricht; Beschuldigungen und Dro-
hungen werden ausgestossen („die isst und arbeitet nichts" ; „die Haut
wird abgezogen"; „die kommt in die Irrenanstalt") ; die eigenen Ge-
danken werden laut und für Alle vernehmbar, von der Umgebung
besprochen und durchgehechelt. Es riecht nach Schwefel; abscheu-
liche Dünste werden in das Zimmer gelassen; die Speisen schmecken
nach Gift und Unrath; das Bett schwebt. In den Genitalien spricht
es; im Rückenmark zieht es; der Körper erscheint verdoppelt.
Auch Wahnvorstellungen tauchen auf, die zuweilen sogar sehr
in den Vordergrund des Krankheitsbildes treten. Zunächst pflegen
dieselben mehr traurigen Inhalts zu sein. Der Kranke ist an allem
Hebephrenisclie Formen. 151
Schuld, ein grosser Sünder, Mörder und Vaterlands verräther, hat
vor Gericht falsch ausgesagt, Selbstbefleckung getrieben, kommt
nicht in den Himmel; er ist verloren, verdammt, dem Bösen ver-
fallen, wird gerichtet für Zeit und Ewigkeit, verdient den Feuertod;
ihm ist, „als ob der Teufel nach ihm langen wollte". Er wird fixirt,
beobachtet, verschwätzt, verhext, soll umgebracht, zum Spion erklärt,
erschossen, „englisirt" werden. Man giebt ihm Gift ins Essen,
Moschuswasser, „Schuhnägelsaft und Pottasche", nimmt ihm sein
Blut, bringt ilim Dreck unter die Haare, verschändet sein Gesicht,
macht ihm seine Gedanken, beeinflusst künstlich seine Handlungen,
giebt ihm die Worte ein. Der Samen wird ihm abgetrieben, die
Natur ins Gesicht geworfen. Frauen sehen sich von Herren verfolgt,
werden in der Nacht chloroformirt und entehrt, „naturlos gemacht".
Der Leib zerschmilzt; die Gelenke krachen; die Füsse zerbrechen;
das Blut circulirt nicht; inwendig ist alles verbrannt und verfault;
alles trocknet ein. Der Kranke hat keinen Magen und keine Ge-
därme mehr, einen Glasdiamant, ein Wespennest, einen Kirchthurm
in der Brust.
Späterhin gewinnen vielfach Grössenideen die Oberhand, in
einzelnen Fällen schon von Anfang an. Der Kranke hat eine
grosse Erbschaft gemacht, viel Geld zu fordern, eine ganze Stube
voll Gold, stammt vom deutschen Kaiser ab, ist der grösste in
Deutschland, König von Ungarn, Sohn Gottes, Adam, von Fürsten
■und Kaisern umgeben. Er ist von Gott gesandt, spricht mit ihm,
hat einen höheren Beruf, soll die Menschheit erlösen, will zur
grossen Armee, Pfarrer, Schauspieler werden, hat 22 Frauen, ver-
kehrt Nachts mit der Jungfrau Maria, besitzt die Schlüssel zur
Hölle. Weibliche Kranke sind mit hohen Personen verlobt, Tochter
des Kaisers, Engel, Himmelskönigin, wollen Prinzessin werden, be-
kommen goldgestickte Kleider; allnächtlich finden „göttlich-geistliche
Begattungen" statt.
Yielfach werden hier geradezu die Erlebnisse des Traumes
zu Wahnbildungen verwerthet, oder es kommt zu einem ganz
abenteuerlichen Fabuliren. Der Kranke ist im Himmel gewesen,
von einer Hexe entführt worden, seit Erschaffung der Welt
da, stammt aus dem Lande Hieb, war schon früher auf dem
Kaiserthron, vor Jahrhunderten Militärarzt in Amerika, meint,
er sei „ein Nordlicht" oder „der Berg Horeb", gehört „zum
152 V- Die Dementia praecox.
Komet", spricht vom „Papstneuner", vom „Dolclmiesser mit Hoch-
zeitszettel", vom „socialdemokratischen Jagdstock" u. s. f. In der
ganzen Welt ist Krieg; Deutschland ist abgebrannt; es ist in dem
Jahr nicht Ostern gewesen; der Blitzstrahl kommt. Regelmässig
aber treten diese anfangs vielleicht in grosser üeppigkeit erzeugten
Faseleien nach einiger Zeit wieder in den Hintergrund. Sie wech-
seln, werden immer dürftiger und schwinden schliesslich ganz oder
bis auf einzelne kümmerliclie, zusammenhangslose Reste, die nur
selten, auf ausdrückliches Befragen oder in der Erregung noch ein-
mal vorgebracht werden.
Vielfach tritt ein deutliches, wenn auch oft krankhaft ver-
fälschtes Krankheitsbewusstsein hervor. Im Kopfe ist es
curios, leer; der Verstand ist verloren gegangen; Vernunft
und Verstand und Sinn sind zum Hirn hinausgefahren; die Ge-
danken sind fortgeflossen. „Der Dummkopf ist verwirrt", kann
nicht mehr denken, leidet an Gehirnerweichung; das Gedächt-
niss hat abgenommen. Der Kranke ist verrückt, nicht mehr wie
er gewesen ist; sein Leben ist nichts werth; ihm kann Niemand
helfen.
Die Besonnenheit, Orientirung und Ordnung der Ge-
danken pflegt bei den sich allmählich entwickelnden Formen dauernd
annähernd erhalten zu bleiben, während in den acuten Krankheits-
zuständen zeitweise Unklarheit und Verwii-rtheit eintreten kann.
Alles erscheint dem Kranken wie umgewandelt; seine Gedanken
verwirren sich; er verkennt die Personen, fühlt sich „von Heim-
tückerevolution umgeben", ist „wie geistesabwesend", weiss nicht, wo
er sich befindet. Zugleich spricht er unverständlich und zusammen-
hangslos, schreibt sinnlose Briefe und zeigt mehr oder weniger
deutliche Sprachverwirrtheit. Das Gedächtniss ist in der Regel
verhältnissmässig w^enig gestört Die Erinnerung an Erlebnisse, die
zeitliche Ordnung derselben, die Schulkenntnisse haften leidlich gut;
erst im weiteren Verlaufe der Krankheit kommt es allmählich zu
einer fortschreitenden Verödung des Vorstellungsschatzes. Die Merk-
fähigkeit ist erhalten, aber der Kranke macht keinen Gebrauch
davon, weil er gar kein Bedürfniss dazu hat, sich irgend etwas
einzuprägen. Dieser Untergang der geistigen Regsamkeit, des eigenen
Antriebes zum Denken und Beobachten ist vielleicht die wichtigste
Ursache dafür, dass nicht nur keine neuen Erfahrungen mehr ge-
Hebephrenische Formen. 153
sammelt werden, sondern auch die alten mehr und mehr versinken,
weil sie niemals aufgefrischt und ins Gedächtniss zurückgerufen
werden. So kommt es, dass ein zufälliger Anlass bei dem Kranken
bisweilen noch eine ganze Menge von Vorstellungen wachrufen
kann, die längst verloren schienen und jedenfalls von ihm nicht
mehr beherrscht w^irden.
Weit rascher und tiefgreifender, als die Schädigung des Ge-
dächtnisses durch die Krankheit, ist diejenige des Yerstandes.
Soweit sich das Denken in eingelernten Bahnen bewegt, fällt diese
Störung vielleicht nicht so sehr in die Augen, aber sie wird deutlich
in den unsinnigen und zerfahrenen Wahnbildungen und Gedanken-
gängen, die in aller Ruhe von den besonnenen Kranken geäussert
werden, in der Unfähigkeit, geistige Arbeit zu leisten, zu überlegen,
Widersprüche zu erkennen, sich in neuen Lebenslagen zurechtzu-
finden, endlich in der Unvernünftigkeit und Kopflosigkeit ihres
Handelns. So sehen wir öfters die Kranken wol noch über den
Büchern sitzen, aber sie begreifen nichts mehr, begehen die gröbsten
Schnitzer, sind gänzlich ausser Stande, Aufgaben fortzuführen, die
ihnen früher gar keine Schwierigkeiten boten.
Den Grundton der Stimmung bildet im allgemeinen die ge-
müthliche Stumpfheit und Gleichgültigkeit. Gleichwol stellen sich
namentlich in der ersten Zeit vielfach lebhaftere Schwankungen des
gemüthlichen Gleichgewichtes ein. Am häufigsten sind Nieder-
geschlagenheit, Angst, Verzagtheit, Verdriesslichkeit, Reizbarkeit, die
bisweilen mit gehobenem Selbstgefühl und ausgelassener Heiterkeit
ohne erkennbaren Anlass wechseln. Sehr gewöhnlich machen sich
bei den Kranken auch geschlechtliche Gefühle stark bemerkbar; sie
sehnen sich nach Liebe, möchten die ganze Welt umarmen, mastur-
biren, fordern zum Coitus auf. Auch lebhafte religiöse Gefühle
tauchen auf; die Kranken beten, lesen viel in fi'ommen Büchern,
beichten, nehmen das Abendmahl, reden in Bibelsprüchen, wollen
ins Kloster gehen, sich der Krankenpflege widmen. Späterhin treten
die Gefühlsbetonungen immer mehr zurück; selbst die ungeheuer-
lichsten Grössen- und Kleinheitsvorstellungen werden gleichmüthig
und ohne innere Bewegung vorgebracht. Der Kranke macht sich
keine Gedanken über seinen Zustand, über seine Lage, nimmt alles
ruhig hin, fügt sich ohne Schwierigkeit in die getroffenen An-
ordnungen; die Besuche der nächsten Angehörigen, die Erinnerungen
154 ^- Die Dementia praecox.
an die frühere Thätigkeit wirken nicht mehr auf ihn ein. Ohne
Sorgen für die Zukunft, ohne Langeweile, ohne klaren Wunsch und
ohne bestimmten Plan lebt er unbekümmert in den Tag hinein, bald
mehr theilnahmlos und gleichgültig, bald in unbestimmter hofFnungs-
froher Erwartung irgend eines zukünftigen Glückes.
Im Handeln der Kranken macht sich entweder eine grosse
Trägheit und Schwerfälligkeit oder ein eigen thümlich kindischer,
läppischer Zug bemerkbar. Ihr Wollen ist haltlos, unselbständig, in
einem Augenblicke unsinnig hartköpfig, im nächsten ohne weiteres
lenksam und bestimmbar. Sie vernachlässigen ihr Aeusseres, leben
unregelmässig, hören auf, zu essen, oder beschränken sich auf be-
stimmte Speisen, verlegen wichtige Gegenstände, vergessen ihre
Pflichten und werden gänzlich unfähig zu andauernder und selbst-
ständiger Thätigkeit. In Folge dessen wechseln sie vielfach ihre
Stellung oder ihren Beruf, werden überall fortgeschickt, gemassregelt,
gerathen in schlechte Gesellschaft, trinken, verthun ihr Geld, ver-
bummeln, sinken zu Landstreichern und Bettlern herab, kehren ab-
gerissen und verwahrlost nach Hause zurück, bis endlich die
Krankhaftigkeit ihres Zustandes erkannt wird.
Vielfach begehen sie allerlei thörichte, unbegreifliche Hand-
lungen, legen Feuer an, suchen Leichen auszugraben, predigen,
läuten die Glocken, verkriechen sich, baden in den Kleidern, küssen
den Fussboden, entkleiden sich auf der Strasse, legen sich in Kreuzes-
form an die Erde, schreiben wildfremden Personen Liebesbriefe.
Ein Kranker ging in vornehme Häuser und machte den Damen
geschlechtliche Anträge, weil er durch Stimmen davon in Kenntniss
gesetzt worden war, dass er als „Beschäler" dienen solle. Ein
anderer, der es mit vieler Mühe zum Volksschullehrer gebracht
hatte, zeigte sich bei seiner Anstellung plötzlich ganz unfähig,
Schule zu halten, spielte statt des Unterrichts mit den Schulkindern
Fangens, legte sich im Viehstall „aus Muth willen'' in eine Krippe,
steckte den Kopf in den Brunnen, weil er wegen seiner grossen
Sünden recht gut noch eine Taufe brauchen könne. Ein Briefträger,
der bis dahin noch mit Unterbrechungen Dienst gethan hatte, unter-
schrieb eines Tages ein amtliches Schriftstück als „Generalfeld-
marschall", verlangte Helm und Generalsuniform, bezeichnete sich
als den Sohn Kaiser Wilhelms und erkannte an den Fingernägeln
seines Vorgesetzten, dass derselbe sein Bruder sei. Wieder ein
Hebephreniscbe Formen. 155
anderer Kranker machte plötzlich ohne irgend einen Grund den
Versuch, seine eigene Schwester zu erstechen, weil ihm „der Ge-
danke dazu kam". Bei Soldaten kommt es zu Verstössen gegen die
Mannszucht, unverbesserlichem Lachen im Gliede, Fahnenflucht.
Weibliche Kranke geben sich dem ersten Besten geschlechtlich
preis, lassen sich von ganz jungen Burschen an der Landstrasse
missbrauchen. Vielfach werden Andeutungen katatonischer Eigen-
thümlichkeiten beobachtet, Gesichterschueiden, Manieren beim Essen
und Handgeben, Wegnehmen fremden Essens, Verkriechen in fremde
Betten, Speicheln, Grunzen, rhythmisches Wischen und Wiegen,
Katalepsie, Echolalie und Echopraxie, ferner hjsteriforme Anfälle,
plötzliche „Gliedererstarrung", einförmiges Schreien, Ohnmächten
mit Verdrehen der Augen, Athem- und Lachkrämpfe.
Gerade das häufige gegenstandslose Lachen, welches sich bei
jeder Unterredung ohne den geringsten Anlass ungezählte ;Male
wiederholen kann, ist eine der auffallendsten Begleiterscheinungen
der Dementia praecox. Demselben liegt keineswegs eine heitere
Stimmung zu Grunde; im Gegentheile erfährt man bisweilen von
den Kranken, dass es zwangsmässig über sie kommt, selbst gegen
ihren Willen. Oft führen die Kranken flüsternde und laute Selbst-
gespräche oder müssen „unverständiges mit sich selber reden", wie
mir ein Kranker sagte, schimpfen sich selbst in den stärksten Aus-
drücken; dabei sind sie meist unzugänglich für Ausfragen, geben
wenig oder gar keine Auskunft über ihren Zustand. Im übrigen
begegnen uns auf dem Gebiete der sprachlichen Aeusseruugen
gezierte Kedeweise, gekünsteltes Aufsagen, häufige Anwendung von
Verklein erungssiiben, Todtreiten bestimmter Moderedensarten, alt-
backener Witze, Reimereien, absichtliche^ Verdrehung der Wörter,
gesuchtes Lispeln, Eimuischuug ungewöhnlicher, mundartlicher oder
fremdsprachiger Ausdrücke und Sätze, Andeutungen von Sprach-
verwirrtheit. Manche dieser Eigenthümlichkeiten pflegen noch deut-
licher in den Schriftstücken der Kranken hervorzutreten. Dazu
kommt eine gewisse nachlässige Zusammenhangslosigkeit im Ge-
dankengange, mehrfacher Wechsel der Construction in lang aus-
gesponnenen Satzbildungen, Vermengung verschiedenartiger Bilder,
unvermitteltes Einstreuen plötzlicher Einfälle, gereimter Ergüsse, oft
auch eine liederliche äussere Form, ungleichmässige Handschrift,
Verschnörkelungen einzelner Buchstaben, Unterstreichungen, Mangel
156 V. Die Dementia praecox.
oder Ueberfluss an Ausdruckszeichen, einförmiger, oft wörtlich sich
wiederholender Inhalt.
Die Nahrungsaufnahme der Kranken ist häufig unregel-
mässig, namentlich in den Zeiten der Verstimmung oder Erregung;
sie essen nicht, weil sie nicht dürfen oder weil Gott es so haben
will. Später stellt sich öfters grosse Gefrässigkeit ein. Auch der
Schlaf ist vielfach gestört. Das Körpergewicht pflegt im An-
fange zu sinken, steigt aber später mit dem Fortschreiten der Ver-
blödung bisweilen sehr stark, so dass die Kranken unter Entwicklung
bedeutender Esslust ein ungemein blühendes Aussehen gewinnen.
Der hie und da beobachteten Abweichungen an den Pupillen, der
häufigen Steigerung der Sehnenreflexe und der nervösen Erregbar-
keit, endlich der vasomotorischen und Herzinnervationsstörungen,
die wir hier wie bei den katatonischen Formen antreffen, wurde
bereits früher gedacht.
Nicht selten kommt es im Verlaufe der Krankheit zu Er-
regungszuständen. Dieselben können sich im Rahmen heiterer
Ausgelassenheit mit Gesprächigkeit, hanswurstartiger Unruhe, un-
bändigem Lachen und Kichern, Neigung zu Ausschreitungen, ge-
schlechtlichen Unarten, läppischen Streichen und planlosem Herum-
treiben halten. In anderen Fällen dagegen tritt tiefe Verworrenheit
mit triebartiger motorischer Erregung auf, anhaltendes Schreien und
Toben, Tanzen und Singen bis zur Erschöpfung, Schmieren, Zer-
stören, Gewaltthätigkeit. Meist sind solche Zustände nicht von sehr
langer Dauer, können sich aber öfters ganz plötzlich, ohne erkenn-
baren Anlass wiederholen.
Den Ausgang der Krankheit bildet regelmässig ein Schwachsinn,
der sich rascher oder langsamer entwickeln, namenthch aber sehr ver-
schiedene Grade darbieten kann. Von den Fällen, die in die Irren-
anstalten gelangen, scheinen etwa 75% die höheren Stufen der Ver-
blödung zu erreichen. Die Kranken versinken allmählich mehr und mehr,
werden stumpf, theilnahmlos und verhören jedes Verständniss für ihre
Umgebung. Vielfach sind sie unsauber beim Essen, schlingen gierig,
verschütten, schmieren mit den Speisen herum; sie verunreinigen
sich, halten Koth und Urin zurück, lassen den Speichel über ihre
Kleider fliessen. Jede eigene Willensregung kann schliesslich er-
löschen; sie bleiben stehen oder sitzen, wo sie sich gerade befinden,
stumm und träge, höchstens zeitweise blöde vor sich hinlächelnd
Hebephrenische Formen. 157
oder auch wol einmal leise einige unsinnige Worte oder Sätze mur-
melnd; sie müssen dann an- und ausgekleidet, gefüttert, geschoben
werden.
Aeusseren Einwirkungen gegenüber verhalten sie sich bald ganz
passiv, kataleptisch, bald widerstrebend. Die spärlichen Antworten,
die man von ihnen erhält, sind meist völlig beziehungslos, verrathen
nur hin und wieder ein gewisses Verständniss der Frage; eindring-
liche einfache Aufforderungen werden bisweilen noch richtig befolgt,
einzelne von früher bekannte Personen zutreffend benannt. Hie und
da gelingt es auch wol, Reste von Schulkenntnissen, richtiges Lesen
oder Schreiben, Lösung einer Rechnung, das Haften einer geschicht-
lichen, geographischen, sprachlichen Erinnerung nachzuweisen, die
dafür zeugen, dass es nicht ein unbestellter oder unfruchtbarer,
sondern ein verwüsteter Acker ist, mit dem wir es zu thun haben.
Im Laufe der Zeit pflegen allerdings nach und nach auch diese
Ueberbleibsel früherer geistiger Arbeit immer mehr zu schwinden.
Immerhin lassen sich auch diese Kranken vielfach überraschend gut
zu mechanischer, allerdings nicht selbständiger Arbeit erziehen und
dadurch vor dem völligen Versinken bewahren. In anderen Fällen
bleibt noch eine gewisse oberflächliche geistige Regsamkeit erhalten,
aber die Kranken sind zerfahren, faselig, zeigen auch wol Reste von
Wahnbildungen und Sinnestäuschungen, Manchmal erhalten sich
deutliche Spuren der früheren Erregung, verwirrtes, unverständliches
Schwatzen, läppisches Lachen, gezierte Bewegungen und Ausdrücke,
stürmisches Auf- und Abrennen. Häufig zeigen die Kranken wenig-
stens vorübergehend Zeiten reizbarer Stimmung, drängen plötzlich
zur Thüre hinaus, fangen an, zu schimpfen, oder begehen unver-
mittelt eine Gewalthandlung, zerschlagen eine Fensterscheibe, werfen
eine Schüssel zu Boden, zerreissen ein Kleidungsstück, versetzen
einem Schlafkameraden unversehens einen Hieb. Auch Zupfen und
Nesteln an den Kleidern, abenteuerliche Drapirungen derselben,
Ausreissen der Kopf- oder Barthaare, beharrliches Zerkratzen ein-
zelner Körperstellen, rücksichtsloses Masturbiren wird vielfach be-
obachtet. In der Regel vollzieht sich dieser Vorgang im Laufe einiger
Jahre, bei den acut einsetzenden Formen vielfach schon innerhalb
des ersten Jahres, wenn auch meist eine bestimmtere zeitliche Um-
grenzung nicht möglich ist.
Es muss indessen nicht immer so weit kommen. Soweit ich es
158 V. Die Dementia praecox.
Überblicken kann, bleibt in etwa 17 "/o der Fälle der Schwachsinn ein
massiger. Die Kranken bewahren nach dem Schwinden der stür-
mischeren Krankheitserscheinungen ihre äussere Haltung, bleiben über
ihre Umgebung wie über ihre Lage ziemlich orientirt, zeigen eine ge-
wisse Einsicht in die überstandene Krankheit, vermögen sich aber
nur in den allereinfachsten Lebensereignissen zurechtzufinden. An
den Vorgängen um sie herum nehmen sie kaum Antheil, kümmern
sich nicht um Zeitrechnung und Lebensunterhalt, können sich jedoch
unter genauer Anleitung oft noch einigermassen nützlich machen.
Keizbarkeit, Empfindlichkeit gegen Alkohol, gelegentliche Erregungs-
zustände, Tcrschrobene Ausdrucksweise, absonderliche Gewohnheiten
sind neben der Verstandesschwäche häufigere Ueberbleibsel der
überstandenen Krankheit. Hier können sich unter Umständen selbst
nach Jahren noch Verschlimmerungen, namentlich Erregungszustände
einstellen. Wahrscheinlich gehören hierher auch einzelne Fälle, in
denen die Wahnbildungen und Sinnestäuschungen der erregten Zeit
zwar allmählich mehr in den Hintergrund treten, aber doch ge-
legentlich vorübergehend einmal wieder auftauchen. Bisweilen be-
stehen andauernd Sinnestäuschungen, durch welche sich aber die
Kranken meist nicht weiter beeinflussen lassen, und über die sie
wenig Auskunft zu geben pflegen. Hie und da aber, namentlich
während der Menses, werden sie unvermittelt gereizt, halluciniren
lebhafter, äussern Verfolgungs- oder Grössenideen, zerstören trieb-
artig irgend einen Gegenstand, um kurz nachher anscheinend völlig
ruhig und einsichtig ihren Zustand zu beurtheilen. Von dauernden^
festen Wahnbildungen ist hier gar keine Kede; vielmehr lässt sich.
stets eine erhebliche Zerfahrenheit erkennen. Die Erziehungs-
fähigkeit nach Ablauf des eigentlichen Krankheitsvorganges pflegt
eine sehr geringe zu sein; es gelingt meist nur, den Bestand
einigermassen zu erhalten. V'erhältnissmässig selten wird der
Kranke im Stande sein, nach Ablauf der Störung sich von neuem
zu einer bescheidenen geistigen Selbständigkeit hindurchzuarbeiten.
In 8% meiner länger verfolgten Beobachtungen verloren sich
die Zeichen der hebephrenischen Erkrankung so vollständig wieder^
dass man vielleicht von Genesung zu sprechen berechtigt ist. Dabei
wird allerdings vorausgesetzt, dass die eingetreteneu Besserungen
auch als dauernde zu betrachten waren, ein Satz, der im Hinblicke
auf die hie und da vorkommenden späteren Wiedererkrankungen
Katatonische Foiinen. 159
nicht ohne weiteres sicher erscheint. Zugleich ist zu bemerken, dass
leichtere Einbussen des Seelenlebens gewiss nicht selten unbemerkt
bleiben, um so mehr, als die Störung wesentlich auf gemüthlichem
Gebiete zu liegen pflegt und somit die bürgerliche Arbeitsfähigkeit
verhältnissmässig wenig herabzusetzen braucht. Wir dürfen, wie ich
glaube, annehmen, dass es eine ganze Menge von Menschen giebt,
deren geistiger Schifl'bruch durch die Dementia praecox vollständig
verkannt wird, weil sie aus demselben noch so viel Leistungsfähig-
keit haben retten können, dass sie iu bescheidenem Wirkungskreise
den Kampf ums Dasein zu bestehen vermögen. So manche jener
fleissigen und vielleicht sogar nach gewissen Kichtungen begabten
Schüler dürften hierher gehören, die anfangs zu höheren Hoffnungen
berechtigten, später jedoch trotz aller Strebsamkeit und Gewissen-
haftigkeit zur Enttäuschung ihrer Erzieher nur mit der grössten Mühe
zu Stande bringen, was die anscheinend weit schwächer veranlagten
Kameraden spielend erreichten. Hier kann natürlich nur eine genaue
Kenntniss und Yerfolgung des einzelnen Falles den Nachweis der
krankhaften "Veränderung erbringen. Bei anderen wird die Störung
deutlicher. Sie beschäftigen sich vielleicht noch mit unpassendem
und für sie unverdaulichem Lesestoffe, mit entlegenen und schwie-
rigen Fragen, aber sie bringen nichts zu Stande, machen in ihrem
Berufe keine Fortschritte mehr, bestehen keine Prüfung, fangen
alles am verkehrten Ende, in ganz unzweckmässiger Weise an. Der
Gesichtskreis verengert sich; die gemüthlichen Beziehungen zur
Aussenwelt schrumpfen ein. Allmählich verlieren sie gewöhnlich
auch das Interesse an geistiger Beschäftigung und Anregung über-
haupt, bewegen sich nur noch in altgewohnten, stereotypen Ge-
dankenkreisen und wenden sich vielleicht schliesslich ganz irgend
einer mechanischen Thätigkeit zu, dem Holzsägen, Abschreiben, der
Gärtnerei, oft in schroffem Gegensatze zu früheren hochfliegenden
Plänen und Hoffnungen.
Katatonische Formen, unter dem Namen der Katatonie*)
hat Kahlbaum ein Krankheitsbild beschrieben, welches der Reihe
•) Kablbaum, Die Katatonie oder das Spannungsirresein, 1874; Brosius,
Allgem. Zeitschr.f. Psychiatrie, XXXIII, 770; Neisser, Ueber die Katatonie. 1887.
Behr, Die Frage der Katatonie oder des Irreseins mit Spannung. Diss. Dorpat,
1881; Schule, AUgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 515; Aschaffenburg^
ebenda, S. 1004.
160 ^- l^ie Dementia praecox.
nach die Zeichen der Melancholie, der Manie, des Stupors, bei
ungünstigem Verlaufe auch der Verwirrtheit und des Blödsinns
darbietet und ausserdem durch das Auftreten gewisser motorischer
Krampf- und Hemmungserscheinungeu, eben der „kata-
tonischen" Störungen, gekennzeichnet wird. Die von ihm gegebene,
in vieler Beziehung meisterhafte Darstellung sollte zeigen, dass alle
bis dahin als Melancholia attonita, Stupor, acute Demenz u. s, w.
bezeichneten Zustände in Wirklichkeit nur Erscheinungsformen
einer einzigen Psychose seien, welche, ähnlich der Dementia para-
lytica, trotz äusserlicher Verschiedenheiten des Verlaufes doch eine
Anzahl durchaus eigenartiger körperlicher und psychischer Krank-
heitszeichen aufweise. Wenn ich nun auch die Zusammengehörig-
keit sämmtlicher von Kahlbaum vereinigter Krankheitsbilder
einstweilen bezweifeln muss, so sehe ich mich doch durch vielfache
Erfahrungen veranlasst, die grosse Mehrzahl jener Fälle als Beispiele
einer eigenartigen Krankheitsform anzuerkennen. Es handelt sich
dabei im wesentlichen um das Auftreten eigenthümlicher, meist
in Schwachsinn ausgehender Zustände von Stupor oder
Erregung mit den Erscheinungen des Negativismus, der
Stereotypie und der Suggestibilität in Ausdrucksbewe-
gungen und Handlungen.
Die Psychose beginnt in der Kegel subacut mit den Anzeichen
einer leichteren oder schwereren psychischen Depression. Oft
gehen schon lange Zeit Erscheinungen von „Nervenschwäche" vor-
aus. Die Kranken werden still, gedrückt, theilnahmlos, ängstlich,
dabei reizbar und widerspenstig, klagen über Kopfschmerzen, Ziehen
im Genick und im Kreuz, Erschwerung des Denkens, Mattigkeit,
verlieren Schlaf und Esslust, ziehen sich von ihrer Umgebung zurück,
wollen ins Kloster gehen, hören auf, zu arbeiten, bleiben viel im
Bett liegen. Dieser Zustand der unbestimmten Vorboten kann
kürzere oder längere Zeit andauern, selbst Jahr und Tag, so dass
sich dann der eigentliche Beginn des Leidens gar nicht mehr recht
feststellen lässt. Bisweilen leitet sich die Krankheit mit mehreren,
anfallsweise auftretenden traurigen Verstimmungen ein, die durch
bessere Zwischenzeiten von einander getrennt sind.
Eegelmässig stellen sich nunmehr Sinnestäuschungen und
Wahnvorstellungen ein. Am Himmel erscheint ein weisser Stern,
Heiligenbilder, Christus am Kreuz, die wilde Jagd; an der Wand
Katatonische Formen. 161
werden farbige Bilder vorgefülirt; Engel, Teufel, Gespenster, wilde
Thiere, Schlangen, der Höllenhund zeigen sich im Zimmer; Flammen
zucken hervor; im Essen sind Menschenköpfe, Würmer in der Suppe.
Draussen krähen die Hähne, rasseln Ketten, ertönt Musik, jammern
die Kinder. Gott spricht zum Kranken; der Teufel ruft seinen
Kamen; sein ganzer Lebenslauf wird ihm vorerzählt. Die Leute
wissen seine Gedanken, reden über ihn, sprechen von „Mörder und
so Geschichten"; „der muss mit". Es sind Offenbarungen, geistige
Stimmen, „Stimmeingreif ungen", Bauchredner; wenn der Kranke
etwas denkt, hört er es gleich weiter erzählen. Im Zimmer ist
Dunst, mephitische Luft, Todtengeruch, im Essen Menschenfleisch
und Unrath, Elektrische Ströme kreisen im Körper; fremdes Blut
wird in den Kopf gepumpt, das Glied steif gemacht; das Bett macht
Bewegungen; „durch Nase und Ohr krabbeln breite Frösche in
den Mund".
Der Kranke fühlt sich als grosser Sünder; alles geschieht
um seinetwillen; er ist der Urheber von allem. Er hat nicht recht
gehandelt, ist verloren, verworfen, moralisch tief gesunken, bringt
alle ins Unglück, kommt nicht in den Himmel, muss mit Tod und
Teufel kämpfen, Anfechtungen erleiden, für die Sünden der Welt
sterben. Der Satan sitzt in ihm, holt ihn ins Höllenfeuer; er muss
seinen Glauben abschwören, ist von der Familie zum Opferlamm
erkoren, hat die Religion zerstört. Das jüngste Gericht, der Welt-
untergang ist da; es ist Krieg; alles ist todt, der Himmel herunter-
gefallen, das Haus voll Leichen; die Pfalz geht in Flammen auf;
Soldaten, die Franzosen kommen; alle werden abgemurkst; die
Menschen haben kein Blut mehr. Der Kranke wird hingeschlachtet,
kommt aufs Schaffet, wird gebannt, verhext, muss das Blut seiner
Verwandten trinken; ein Rabe ist am Fenster, um sein Fleisch zu
fressen. Die Frau ist untreu, von einem Anderen angesteckt.
Wüste Gedanken steigen auf; der Kranke wird gezwungen, mit
seiner Schwester den Beischlaf auszuüben, durch Sympathie beein-
flusst, muss thun, was die Medien wollen; man lässt ihm die Natur
abgehen. Weiblichen Kranken wird die Ehre geraubt; sie gebären
todte Kinder. Die Gedanken werden verschwächt, der Verstand
wie ein Lappen vom Hirn gezogen, das Gehirn zerrissen, der Kopf
mitten durchgesägt, ein Gashahn in den Schädel geschraubt; der
Kopf ist ein Wolfskopf. Der Kranke ist kein Mensch mehr, ganz
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. IL Band. 11
162 ^' Die Dementia praecox.
zu; er kann uicht leben uud nicht sterben, nie wieder gesund
werden, hat keine Gedanken mehr, hat sein Kleinhirn ausgehustet;
der Magen läuft auf und ab; die Lungen fallen herunter; die Ein-
geweide sind los; er ist schon gestorben.
Bisweilen schon jetzt, meist aber erst später, gesellen sich
Grössenideen hinzu, die nicht selten die traurigen Yorstellungen
ganz in den Hintergrund drängen. Der Kranke ist unaussprechlich
glücklich, sehr reich, besitzt 10 Millionen, prächtige Schlösser, be-
kommt von Gott 60 000 Mark, einen Orden vom Prinzregenten von
Schweden, muss zum Kaiser. Er ist ein berühmter Mann, Ge-
dankenleser und Hellseher, untergeschobenes Kind, Paulus, Engel,
Jesus, das Chrislkindchen in der Krippe. Welterlöser, Thronfolger
von Bulgarien, zum Heile der ganzen Menschheit, zum Kampfe für
Gott geboren, befindet sich „im Jordanhimmele", hat übernatürliche
Gaben erhalten, wichtige Erfindungen gemacht, spricht 4 Sprachen,
lebt von Gottes "Wort, braucht nichts mehr zu essen und zu trinken.
Weibliche Kranke sind Gräfin, Welterlöserin, Mutter Gottesr
sind mit feinen Herren verlobt, verkehren geschlechtlich mit Kaisern
und Königen, erkennen ihren Mann nicht mehr an, haben „hofient-
ich einen Mann, der vornehm und von ihrem Range ist". Eine
meiner Kranken lief zum Ortsvorsteher, um ein grosses Vermögen
abzuholen, das sie dort für sich hinterlegt glaubte; eine andere
traf Vorbereitungen zur Hochzeit mit einem ihr ganz fremden
Herrn, der ihr angeblich durch Zeichen seine Liebe erklärt hatte.
Ein Schuhmacher versuchte sich reichen jungen Damen zu nähern,
die ihm nach seiner Meinung ihre Geneigtheit kundgegeben hatten,,
mit ihm die Ehe einzugehen.
Das Bewusstsein der Kranken ist in diesen Zuständen meist
etwas getrübt. Sie fassen unvollkommen auf, vermögen sich nicht
klar zu orientiren. Alles kommt ihnen verwechselt, wie Komödie
vor; die Personen sind verwandelt, nicht die richtigen; sie befinden
sich in einem Zauberhaus, klagen über Verwirrnisse und Verwick-
lungen. Der Gedankengang ist zerfahren, zusammenhangslos, die
Ueberlegung meist schwer beeinträchtigt, wie sich aus den un-
sinnigen und widerspruchsvollen Eeden der Kranken ergiebt. Die
Erinnerung an die Vergangenheit ist gut erhalten, auch die Merk-
fähigkeit öfters überraschend gut. Personen der neuen Umgebung
werden in der Regel wiedererkannt, wenn auch falsch aufgefasst
Katatonische Formen. 163
und benannt, als Christus, Judas Ischarioth. Hie und da aber kommt
es zu Erinnerungsfälschungen, Der Vater hat den Kranken
durchstochen und das Blut aufgefangen ; er ist von einer Zigeunerin
geraubt, im Garten erschossen worden.
Die Stimmung der Kranken ist im Beginne des Leidens meist
eine traurige, ängstliche; sie sind verstört, seufzen, jammern, flehen
um Gnade, fitrchten sich „vor dem Ungewissen". Bisweilen werden
sie reizbar, misstrauisch , finster, drohend; auch beobachtet man
Zornausbrüche von ungemeiner Heitigkeit. Dazwischen hinein aber
kann sich ganz unvermittelt kindische Heiterkeit oder verzückte
Glückseligkeit einschieben, meist begleitet von lebbafter geschlecht-
licher Erregung, Masturbation, obscönen Eeden und Angriffen,
Sehr auffallend pflegen auch die Störungen im Benehmen und
Handeln zu sein. Die Kranken hören auf, zu arbeiten, stehen und
liegen thatenlos herum, laufen davon, stieren vor sich hin, lachen
ohne Grund, fangen an, Ausschweifungen zu begehen, sich zu ver-
nachlässigen, ihre Umgebung zu bedrohen. Andere beten, laufen
viel in die Kirche, knieen den ganzen Tag, gehen ins Kloster, läuten
plötzlich die Glocken, wollen die Gräber öffnen, in der Kirche die
Geräthe vom Altar nehmen. Noch andere wollen heirathen, ziehen
ihre besten Kleider an, nehmen überall Abschied. Mehrere meiner
Kranken machten Selbstmordversuche oder gefährliche Angriffe auf
ihre Angehörigen ohne jeden äusseren Anlass; einer suchte sich in
der Scheuer auf einem Heuhaufen zu verbrennen, weil die Fran-
zosen kämen.
An diesen ersten Abschnitt der Krankheit, der in allen Haupt-
zügen demjenigen gewisser hebephrenischer Formen ähnelt, schliessen
sich in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung diejenigen Zu-
stände an, die der Katatonie insbesondere eigenthümlich sind, der
katatonische Stupor und die katatonische Erregung. In
etwa 1/3 der Fälle allerdings entwickeln sich diese Zustände, und
zwar beide gleich häufig, ganz ohne bemerkbare Yorboten aus an-
scheinend voller Gesundheit heraus.
Der katatonische Stupor ist hauptsächlich beherrscht durch die
Erscheinungen des Negativismus und der Befehlsautom atie.
Die Kranken werden einsilbig, wortkarg, brechen mitten im Wort
oder Satz ab, hören allmählich vollständig auf, zu sprechen (Muta-
cismus), oder hspeln doch nur hier und da leise einige unverständ-
ig*
164 ^' Die Dementia praecox.
liehe Worte, führen auch wol flüsternde Selbstgespräche, lachen vor
sich hin. Manchmal setzen sie zum Sprechen an, sobald man Miene
macht, sich zu entfernen, verstummen aber sofort, wenn man sich
•wieder zu ihnen wendet. Auch zum Schreiben sind sie meist nicht
mehr zu bringen, brechen nach einigen Buchstaben ab, fahren spie-
lend über das Papier oder bringen nur sinnlose Kritzeleien hervor.
Sie blicken nicht mehr auf, wenn man mit ihnen spricht, drehen
den Kopf nicht her, wenden sich vielleicht geradezu ab. In ein-
zelnen Fällen erhält man jedoch zeitweise noch schriftliche Ant-
worten, oder die sonst stummen Kranken singen auf Befehl einmal
mit feiner Stimme ein bekanntes Lied. Im übrigen sind sie gänzlich
unzugänglich gegen jede äussere Einwirkung, reagiren nicht auf An-
reden, Berührungen und selbst Nadelstiche; nur selten führt ein
sehr lebhafter Reiz Ausweichbewegungen noch seltener einmal
einen unvermuthet gewandten und kräftigen Angriff herbei. Auch
ein gelegentliches leises Blinzeln, stärkere Röthung oder Schwitzen
des Gesichtes, Zucken um die Mundwinkel bei solchen Versuchen,
Auflachen bei scherzhaften Anlässen deuten darauf hin, dass weniger
die Auffassung der Eindrücke, als die Auslösung einer Willens-
handlung auf dieselben gestört ist.
Jeder Versuch eines Eingreifens in Haltung oder Bewegung
der Kranken begegnet zeitweise hartnäckigem und unüberwind-
lichem Widerstände. Man fühlt, wie sich sofort jeder Muskel
auf das äusserste anspannt, sobald man irgend eine Lagever-
änderung mit dem Kranken vornehmen will. Drückt man gegen
die Stirn, so schnellt der Kopf beim Loslassen federnd nach
vorn; berührt man das Hinterhaupt, so strebt er dem Fingerdruck
entgegen nach hinten. Den psychischen Ursprung dieses ent-
schiedenen Widerstrebens erkennt man am besten in den nicht
seltenen Fällen, in welchen die Kranken auch auf sprachliche Beein-
flussungen in der gleichen Weise antworten. Es ist dann nicht nur
möglich, den Kranken dadurch zum Vorwärtsgehen zu veranlassen,
dass man ihn scheinbar zurückdrängt und umgekehrt, sondern er setzt
sich auf den Nachtstuhl, wenn man es ihm mit Bestimmtheit ver-
bietet, steht still, sobald man ihn gehen heisst und ähnliches. Auch
in einer Reihe von anderen Zügen lässt sich deutlich der grund-
sätzliche Widerstand gegen die natürlichen Willensantriebe er-
kennen. Manche Kranke dulden keine Kleider, keine Schuhe, ja
Katatonische Formen. 165
kein Hemd, gehen nicht ins Bett, legen sich Nachts an den Boden,
unter das Bett, ziehen Kleidungsstücke verkehrt an, kehren die Bett-
stücke um, liegen auf der Decke, um sich mit der Matratze zuzu-
decken, drängen zu einer bestimmten Thüre hinaus. Sie kriechen
in fremde Betten, ziehen fremde Kleider an, verbinden sich die
Augen, verhüllen sich, halten krampfhaft fest, was sie einmal ge-
fasst haben.
Als eine negativistische Erscheinung ist ferner wol die bei
unseren Kranken häufige Nahrungsverweigerung aufzufassen. Sie
hören bisweilen ganz plötzlich auf, zu essen, und sind nun auf keine
"Weise zur Fortsetzung der Mahlzeit zu bewegen, beissen krampfhaft
die Zähne aufeinander, pressen die Lippen zusammen, sobald man
sich mit dem Löffel nähert. Andere essen nicht, so lange man ihnen
zusieht, lassen alles stundenlang stehen oder nehmen nur heimlich
etwas zu sich. Ebenso plötzlich, wie sie begann, pflegt die Nah-
rungsverweigerung auch zu enden, um nun nicht selten einer
gierigen Gefrässigkeit Platz zu machen. Bisweilen fangen die Kranken
an, zu essen, wenn sie in ein anderes Zimmer, in eine neue Um-
gebung kommen. Einzelne Kranke verschmähen mit unüberwind-
licher Hartnäckigkeit bestimmte Speisen, Fleisch oder das für sie
bereit gestellte Essen, wissen sich aber mit List oder Gewalt die
Speisen ihrer Nachbarn zu verschaffen und verzehren dieselben in
grösster Hast.
Endlich dürfte auf den Negativismus der Kranken auch viel-
fach ihre Unreinlichkeit zurückzuführen sein. Sie halten Urin
und Koth oft lange Zeit zurück und lassen ihn dann einfach unter
sich gehen, nehmen nicht die geringste Lageveränderung vor, um
sich den unangenehmen Folgen zu entziehen. Auf dem Abtritt sind
sie häufig nicht zur Entleerung zu bewegen, um gleich darauf den
Fussboden oder das Bett in ausgiebigster Weise zu verunreinigen.
Der Speichel wird oft bis zum äussersten im Munde angesammelt,
um dann plötzlich springbrunnenartig hervorzuquellen, oder er läuft
immerfort am Kinn über die Kleider herab, zum Theil wol, weil
die Absonderung vermehrt ist, aber auch weil die psychomotorisch
erstarrten Kranken keine Schluckbewegungen ausführen. In anderen
Fällen sieht man indessen die Kranken ihre Umgebung auf das
rücksichtsloseste durch immerwährendes Spucken verunreinigen.
Mit dem Negativismus verbindet sich sehr gewöhnlich eine
Ißß V. Die D(?raeutia praecox.
ausserordentliche Einförmigkeit der Körperhaltung und Muskel-
spannung. In Folge dessen sehen wir die Kranken Tage, Wochen,
ja viele Monate hindurch genau dieselbe Stellung einnehmen. In
eigenthümlicher Haltung, bildsäulenartig, oft starr in sich zusammen-
gekrümmt, hocken, knieen oder liegen sie regungslos da, den Kopf
frei vom Kissen abgehoben oder über den Bettrand herabhängend,
das Leintuch zwischen den Zähnen. Sie lassen sich nach Belieben
herumrollen oder auch an irgend einem Körpertheil wie ein Packet
in die Höhe heben, ohne die Lage ihrer Glieder irgendwie zu ver-
ändern. Eine meiner Kranken faltete so lange Zeit die Hände
krampfhaft, dass an den Berührungsstellen Druckbrand entstand;
ein anderer kniete Jahre lang auf derselben Stelle, bis wegen der
entstehenden Gelenkentzündimg unter heftigstem Sträuben gewalt-
sames Festhalten im Bette nöthig wurde. Die Augen sind dabei
entweder geschlossen, werden bei jeder äusseren Annäherung unter
starker Aufwärtsrollung der Bulbi fest zusammengekniffen, oder
sie sind weit offen, starren mit erweiterten Pupillen in die Ferne,
fixiren niemals; der Lidschlag findet äusserst selten statt. Der Ge-
sichtsausdruck ist unbeweglich, maskenartig, verwundert, erinnert
bisweilen an das starre Lächeln der Aegineten. Die Lippen sind
öfters rüsselartig vorgeschoben („Schnauzkrarapf"), zeigen hier und
da leichte, rhythmisch -zuckende Bewegungen. Häufig ist Grinsen
und Gesichterschneiden.
Auch im Gange der Kranken pflegen sich ähnliche Eigenthüm-
lichkeiten bemerkbar zu machen. Oefters ist es freilich ganz un-
möglich, Gehversuche zu erzielen. Die Kranken lassen sich einfach
steif hinfallen, sobald man sie auf die Füsse stellen will. In anderen
Fällen marschiren sie mit gestreckten Knieen, auf den Zehenspitzen,
auf dem äusseren Fussrande, mit gespreizten Beinen, stark zurück-
gebeugtem Oberkörper, mit krampfhaft emporgerafftem Hemde,
rutschend, tänzelnd, kurz in irgend einer ganz ungewöhnlichen, aber
mit Aufbietung aller Kräfte entgegen jeder äusseren Einwirkung
festgehaltenen Stellung. Die einzelnen Bewegungen sind steif, lang-
sam, gezwungen, als ob ein gewisser Widerstand zu überwinden
wäre, oder ruckweise und dann oft blitzschnell.
Einen eigen thümlichen Gegensatz zu diesen Erscheinungen, in
denen sich das allgemeine Widerstreben gegen jede Veränderung
des augenblicklichen Zustandes ausdrückt, bilden die vielfach her-
Katatonische Formen. 167
vortretenden Anzeichen gerade einer erhöhten Beeinfliissbar-
keit von aussen her. Dahin gehört vor allem die ausnahmslos
kürzere oder längere Zeiten hindurch bestehende Katalepsie, die
in solchen Zuständen ihre höchste Ausbildung zu erreichen pflegt.
Seltener und meist nur vorübergehend begegnet man auch der
Echolalie oder gar der Echopraxie. Die Kranken wiederholen dann
einfach ganz mechanisch die an sie gerichteten Reden oder auch
irgendwelche zufällig aufgefasste Aeusserungen, stimmen in ein Lied
ihrer Nachbarn ein und wiederholen es; sie ahmen lebhaftere Ge-
berden nach, die man ihnen in eindringlicher Weise vormacht
(Hochheben der Arme, Händeklatschen), setzen eine von aussen an-
geregte Bewegung (Taktschlagen, Rollen der Hände um einander)
längere Zeit hindurch fort. Bisweilen sieht man sie sogar stunden-
lang alles mitthun, was irgend eine bestimmte Person ihrer Um-
gebung thut, ihr alles nachsprechen, in gleichem Schritt hinter ihr
hergehen, sich mit ihr an- und auskleiden und ähnliches.
Das auffallende Bild, welches durch die Katalepsie erzeugt
wird, ist auf der Tafel II an mehreren Beispielen wiedergegeben.
Die Kranken wurden ohne Mühe in die absonderlichen Stellungen
gebracht und behielten dieselben bei, als sie in einer Gruppe photo-
graphirt wurden, einzelne mit verschmitztem Lächeln, andere mit
starrem Ernste. Von diesen Kranken war nur E bereits ziemlich blöd-
sinnig, während namentlich A, B und C noch im Beginne der Krank-
heit standen. Mit Ausnahme von D haben alle diese Kranken Re-
missionen gehabt. Bei B dauert dieselbe heute noch fort; auch E
bat sich nochmals gebessert.
Die beiden nur anscheinend entgegengesetzten Zustände des
ausgeprägtesten Widerstrebens und der vollständigen Hingabe an
äussere Einflüsse gehen bei den Kranken regellos und ganz un-
vermittelt in einander über. Zwar kann unter Umständen Wochen
und Monate lang nur das eine Yerhalten bemerkbar sein, aber es
finden sich immer Zeiten, in denen sich eine plötzliche Wandlung fest-
stellen lässt, ja es gelingt nicht so selten, durch geeignete suggestive
Beeinflussung unmittelbar die Starre in Katalepsie überzuführen und
umgekehrt. Die Nahrungsverweigerung wechselt unvermittelt mit Ge-
frässigkeit; der vielleicht wochenlang regungslos stumme Kranke fängt
plötzlich an, überlaut einige ganz unverständliche Schreie auszu-
stossen, Kikeriki, Hurrah zu rufen, wie ein Hund zu bellen, mit
168 V- Die Dementia praecox.
verschmitzter Miene einen zeitgemässen Gassenhauer zu grölen.
Oder er springt mit langen Sätzen durch das Zimmer, hebt irgendwo
blitzschnell ein Fenster aus und stürzt sich mit gewaltigem Schwünge
in ein fremdes Bett, wo er wieder unzugänglich liegen bleibt. Andere
Kranke erheben sich eines Tages und sprechen, wie wenn nichts
geschehen wäre, verlangen ihre Entlassung, beklagen sich über die
Zurückhaltung in der Anstalt; wenige Stunden später findet man
sie vielleicht schon wieder in starrem Stupor. Gerade dieser über-
raschende Wechsel verschiedenartiger Zustände ist in hohem Maasse
kennzeichnend für die Katatonie.
Offenbar spielt hier vielfach jenes zweite katatonische Zustands-
bild in den Stupor hinein, welches wir als katatonische Erregung
bezeichnet haben. Die Eigenthümlichkeit dieser Erregung liegt in
dem Auftreten zahlreicher Triebhandlungen und Bewegungs-
stereotypen. Der Ausbruch derselben ist in der Eegel ein ganz
plötzlicher, meist nach den früher geschilderten Torboten einer trau-
rigen Verstimmung. Die Kranken werden, bisweilen mitten in der
Nacht, unruhig, verAvirrt, schwatzen, singen, tanzen ungestüm, mit
glänzenden Augen im Zimmer herum, reissen sich die Kleider vom
Leibe, werfen Tische, Betten, den Ofen um, spucken um sich, sind
plötzlich sinnlos gewaltthätig. Zugleich beginnen die eigenthüm-
lichen katatonischen Bewegungen, die öfters das erste erschreckende
Krankheitszeichen bilden.
Die Kranken werden plötzhch am ganzen Körper starr, sinken
zu Boden, bleiben in der Stellung eines Gekreuzigten liegen, ver-
drehen die Augen, athmen stossweise, pusten und blasen, rollen sich
um ihre Längsachse, machen Schlangenmensch bewegungen; sie
drehen sich auf den Zehenspitzen herum, rotiren Rumpf und Kopf
schaukeln und wiegen sich hin und her, proniren die Arme bis^
zum Aeussersten, wirbeln die Fäuste mit grosser Geschwindigkeit
um einander. Diese Erscheinungen erinnern vielfach lebhaft an
hysterische Störungen, denen sie bisweilen zum Verwechseln gleichen.
Weiterhin äussert sich der Bewegungsdrang der Kranken in
grosser Unruhe. Sie schnellen sich im Bett auf und nieder, machen
mit den Armen unaufhörlich beschwörende oder tactmässige, kreisende
Bewegungen, schreiben Buchstaben in die Luft, ringen die Hände,
klatschen, trommeln an die Wand, tupfen stundenlang auf den Tisch,,
tänzeln und hüpfen, wischen und stampfen. Alle diese Bewegungen
Katatonische Formen. 1(59
geschehen eckig, steif, plump oder geziert, feierlich; sie sind ganz
zwecklos, haben keinerlei Beziehung zur Umgebung und werden oft
stundenlang in ganz einförmiger Weise fortgesetzt. Meist lassen sie
sich nur mit Aufwendung starker Gewalt unterdrücken, um sofort
wieder zu beginnen, wenn man den Kranken freigiebt.
In diese einförmigen Bewegungen mischen sich die merk-
würdigsten Antriebe hinein. Die Kranken beissen plötzlich in die
Uhrkette des Arztes, bemächtigen sich mit blinder Gewalt irgend
eines bestimmten Gegenstandes, schlagen die verwegensten Purzel-
bäume, trippeln und tanzen in abenteuerlicher Haltung und
Ausschmückung herum, machen einige Luftsprünge, um sich
dann mit gewaltigem Anlauf über die hohe Lehne köpflings ins
Bett zu stürzen. Sie erklettern hastig einen Stuhl, einen Tisch, um
dort zu defäciren, balanciren in den gewagtesten Stellungen, werfen
alle Bettstücke durcheinander, schleppen ihre Matratze stundenlang
im Kreise herum und klopfen bei einer bestimmten Stelle jedesmal
an die Wand, stellen sich mit ausgebreiteten Armen nackt auf den
Nachtstuhl. Andere „ahmen die Wachtparade nach", „exerciren,
wie wenn sie strengsten Befehl vom Oberst hätten", springen bis
zur Ermattung ums Haus, kriechen am Boden herum, galoppiren in
Fechterstellung mit grossen Bocksprüngen, tanzen mit der aus-
gehobenen Stuben thüre herum, schleudern jedes Hinderniss hastig
bei Seite, heben unvermuthet einen harmlosen Nachbarn in die
Höhe oder versetzen ihm eine schallende Ohrfeige. Vielfach sieht
man sie mit unermüdlicher Beharrlichkeit die gleichen Wege zurück-
legen, namentlich im Kreise herumwandern, so dass sich ihre Spur
allmählich ausprägt wie diejenige eines Thieres im Käfig. Häufig
sind auch blindes, sinnloses Hinausdrängen, unermüdliches Klopfen
an den Tliüren, zwangsmässige, fast ununterbrochen wiederholte
Selbstmordversuche. Manche Kranke zerkratzen sich, reissen sich
die Haare aus, brennen sie an, beissen sich in den Arm; einer
sprang singend in den Neckar.
Alle die geschilderten, sehr verschiedenartigen Handlangen werden
mit der grössten Kraft und Rücksichtslosigkeit durchgeführt, so dass
es meist gänzlich unmöglich ist, den äusserst gewandt und schnell
sich bewegenden Kranken an seinem Yorhaben zu hindern. In Folge
dessen kommt es bisweilen zu massenhaften Hautabschürfungen,
kleinen und grösseren Verletzungen, da der Kranke seine Glieder nicht
170 ^- Die Dementia praecox.
im geringsten schont, die oifenen Stellen immer wieder anschlägt
und die ihm hinderlichen Verbände ohne weiteres herunterreisst.
In der Regel sind die Kranken sehr unsauber. Sie lassen
unter sich gehen, packen ihren Koth zusammen, verzehren ihn,
lecken den Urin vom Boden, uriniren in den Pantoffel, in den
Spucknapf, stecken Brot in den After, spucken in die Suppe, auf
ihr Butterbrod, in ihr eigenes Bett, schlürfen das Badewasser ein,
waschen sich mit Urin. Die geschlechtliche Erregung kommt in
rücksichtslosem Masturbiren, Coitusbewegungen, obscönen Reden
zum Ausdruck, in der Neigung, zu küssen, Anderen an die Geni-
talien zu greifen.
Ganz besonders kennzeichnend für die katatonischen Zustände sind
auch die eigenthümlichen Ausdrucksbewegungen der Kranken.
Dahin gehören die gespreizten Geberden, das Gesichterschneiden,
das sinnlose Kopfschütteln und Nicken, das einförmige Heulen,
Brüllen, Krähen, Johlen, Singen, das Quieken, Schreien in Fistel-
stimme, Kreischen und Brummen, das andauernde unbändige Lachen.
Die Sprache ist bald scandirend, rhythmisch, mit ganz verschrobener
Betonung, bald singend oder commandirend, bald überstürzt, stoss-
weise, bald abgerissen. Bisweilen löst sie sich in eine Folge un-
sinniger, tactmässig wiederholter Silben auf, mit Reimen und An-
klängen, oder die "Worte werden verstümmelt, die Endsilben
weggelassen, willkürlich bestimmte Buchstaben eingefügt. Ein
Kranker sprach immer von „Soktor", „Notessor", „neistesnank". In
der Regel haben diese Aeusserungen gar keine Beziehung zu den
an die Kranken gerichteten Fragen oder zu der ganzen Sachlage
überhaupt. Eine Probe derartiger zerfahrener Reden geben die
folgenden Sätze:
„Benollen und betollen kann ich mich doch nicht lassen. Wissen Sie, ich
war ganz irrsinnig und vielleicht bin ich es noch. Ob es ein Herr Grossherzog
ist oder König und Kaiser — ob es die Stimme des Gerichts ist oder wer es ist.
Der liebe Gott vom Himmel kommt auch und wenn es nur ein Hund oder ein
Mück ist — oder ein Stückchen Brot. Ich weiss nicht, ob ich einen Fisch in der
Hand habe oder eine Schlange oder was klappert oder was geht und steht ; lieber
mag ich Alle auf Erden. Von unten und oben kann Niemand betollt werden."
„Meine Nase gehört jetzt in Jesus Christus hineingestopft und mir alles herum-
gedreht. Die thun Alle klappern und Gott vcraftern. Und wenn da drüben der
liebe Erzgrossherzog ist, dann thun die hüben und drüben veraftern und verfatzen
und Schlichte hinein."
Katatonische Formen. 171
Man beachte die Wortiieuhilckmgen, die Wiederkehr einzelner
Ausdrücke, betollen, klappern, veraftern, die sinnlosen Anklänge, den
Mangel jeden Gedankenzusammenhanges bei erhaltener Satzbildung,
endlich die Andeutungen von Grössenideen und von Krankheits-
gefühl. Die Aussprache geschieht dabei vielfach geziert, lispelnd,
grunzend oder in Fistelstimme. In einzelnen Fällen wird Agram-
matismus beobachtet, insofern die Kranken unfähig scheinen, Sätze
zu bilden, und in Infinitiven sprechen.
Sehr gewöhnlich ist endlich hier wie im Stupor das früher be-
reits besprochene Symptom der Yerbigeration, in welchem sich,,
wie in so vielen ihrer sonstigen motorischen Aeusserungen , die
Neigung der Kranken zur Stereotypie, zur Wiederholung der gleichen
Antriebe, auf das deutlichste kundgiebt. Irgend ein kürzerer oder
längerer, häufig durchaus sinnloser Satz fz. B. „Gekreuzigter Krex
in e Umkrexhaus"), auch wol einzelne Buchstaben werden stunden-
und tagelang in derselben, oft rhythmischen Betonung ununter-
brochen wiederholt, bald schreiend, bald flüsternd, bald sogar in
bestimmter Melodie. Bisweilen versprechen sich die Kranken ein-
mal, oder es drängt sich ein in der Umgebung gehörtes Wort hinein-,
so kann der Spruch allmählich Wandlungen erfahren, deren Er-
gebniss man dann nach einigen Stunden vorfindet. Auch in den
schriftlichen Aeusserungen der Kranken lässt sich die Yerbigeration
wiederfinden, in dem endlosen Wiederholen der gleichen Schnörkel,
Zahlen, Buchstaben, Worte oder Sätze. Damit pflegt sich ver-
schrobene Kechtschreibung und Interpunction zu verbinden. Plötz-
liche, unberechenbare Einfälle bewirken die Einfügung ganz sinnloser
oder das Auslassen für den Sinn nothwendiger Zeichen und Wörter,
Die Ausführung der Schrift selbst geschieht bald langsam, zögernd,
mitten im Buchstaben abbrechend, bald rasch und flüchtig oder in
gewöhnlichem Zeitmaasse. Der Druck wechselt ebenfalls vielfach un-
vermittelt. Manche Kranke schreiben Spiegelschrift. Beispiele kata-
tonischer Schriftstücke geben die umstehend beigefügten Proben, von
denen die erste in Form und Inhalt die zwangsmässige Stereotypie
mit geringen allmählichen Abwandlungen erkennen lässt, während
in der zweiten neben Andeutungen von Stereotypie ganz besonders
die Zerfahrenheit hervortritt.
Der katatonische Stupor und die Erregung sind anscheinend
trotz ihrer äusserlichen Verschiedenheit nahe verwandte Zustände.
172
V. Die Dementia praecox.
Wir sehen dieselben im Krankheitsbilde vielfach unmittelbar auf-
einander folgen; dabei scheint die Erregung etwas häufiger voran
zu gehen, als der Stupor. Aber auch in den weit zahlreicheren
Fällen, in denen nur der eine oder der andere Zustand den Krank-
heitsverlauf beherrscht, können sich doch ungemein häufig An-
deutungen des entgegengesetzten Bildes einschieben. Der stuporöse
Kranke geräth plötzlich für einige Minuten oder Stunden in die
Schriftprobe 11.
sinnloseste Erregung, um dann in seine frühere Kegungslosigkeit
zurückzusinken; umgekehrt sehen wir die Erregung vorübergehend
nicht selten einem leichter oder schwerer stuporösen Zustande mit
Katalepsie und Negativismus Platz machen. Die gradweise Aus-
prägung der Erscheinungen ist in den einzelnen Fällen sehr ver-
schieden. Der Stupor kann bisweilen nur durch ein wortkarges,
abweisendes, schläfriges Wesen angedeutet werden, während die Er-
regung von leichter läppischer Ausgelassenheit bis zum rücksichts-
losesten, geradezu das Leben gefährdenden Käsen schwanken kann.
Katatonische Formen.
17-
Während der Entwicklung dieses vielgestaltigen Kranklieitsbildes
ist das Bewusstsein ohne Zweifel dauernd etwas getrübt. Die
Kranken fassen zwar einzelne Eindrücke fast immer ziemlich gut
auf, auch wenn man es zunächst nicht nachweisen kann, aber sie
pflegen doch nur eine ziemlich unklare Vorstellung von ihrer Lage
-*^**5IJ?
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Schriftprobe in.
und den Yorgängen in ihrer Umgebung zu haben, allerdings zum
Theil deswegen, weil sie sich gar nicht darum bekümmern und nicht
das Bedürfniss haben, ihre Wahrnehmungen weiter zu verarbeiten.
Sie verkennen daher vielfach die Personen, wissen nicht, wo sie
sich befinden, überraschen aber nicht selten dadurch, dass sie die
Namen der Wärterinnen oder der anderen Kranken wissen, eine
scherzhafte Bemerkung machen, sich über irgend ein Yorkommniss
beklagen, geordnete Auskunft über ihre Yerhältnisse geben, einen
174 V. Die Dementia praecox.
zusammenhängenden Brief mit zutreffender Scliilderung ihres Auf-
enthaltes, der Bitte um Abholung verfassen.
Selbst eine gewisse Krankheitseinsicht ist vielfach vorhanden.
Die Kranken bezeichnen ihr absonderliches Treiben als Dumm-
heiten, meinen, sie seien eben närrisch, seien „stumpfsinnig und ver-
nebelt", „sehr dumm geworden in letzter Zeit", der Kopf sei hohl,
durcheinander. Eine Kranke, welche die katatonischen Bewegungs-
stereotypen in höchster Ausbildung darbot, sagte mir: „ich muss
aber immer so dumme Bewegungen machen; das ist doch zu ein-
fältig"; eine andere beklagte sich, dass sie immer Gesichter schneiden
müsse; man solle ihr doch das Lachen vertreiben. Freilich erfährt
man über die Gründe des ganzen zwangsmässigen Benehmens von
den Kranken nie etwas anderes, als dass sie nicht hätten sprechen
oder essen dürfen oder können, die Worte nicht gefunden hätten,
dass eine Kraft, ein „Drang" über sie gekommen sei und sie ge-
zwungen habe, alles nachzumachen, dass sie hätten thun müssen,
was man ihnen sagte, dass man es ja so gewollt habe. Sie hätten
nicht eher ruhen können, bis sie es so gemacht hätten; es habe
ihnen Spass gemacht, alles so oft zu wiederholen ; sie hätten es eben
gewollt. Weit seltener sind andere Begründungen. Ein Kranker
hatte nach seiner Aussage gemeint, er falle von Gott ab, wenn er
esse; ein anderer erzählte, er sei zu seinen stürmischen Bewegungen
„wie mit einem Seil" gezogen worden, habe keinen Hunger gehabt.
Trotz dieser klaren Angaben über die Eigenart ihrer Zustände,
die meist auch im allgemeinen als krankhafte betrachtet werden,
fehlt den Kranken doch, zunächst wenigstens, durchaus ein wirk-
liches Verständniss für die Schwere der Störung. Sie wundern sich
nicht besonders über ihr merkwürdiges Gebahren in der Krankheit,
betrachten sich sofort als vollkommen gesund, sobald sie einiger-
massen klar geworden sind, drängen ohne weiteres und blind gegen
besseren Rath nach Hause. Sehr häufig bestehen übrigens während
des Stupors wie in der Erregung und selbst nach deren Schwinden
allerlei Wahnbildungen und Sinnestäuschungen fort, wie wir sie
früher eingehend geschildert haben.
Die Stimmung der Kranken zeigt nach den anfänglichen
stärkeren Gefühlsschwankungen keine sehr auffallenden Störungen.
Meist sind die Kranken im Zusammenhalte mit ihrem sonderbaren
Benehmen und ihren Wahnvorstellungen merkwürdig gleichgültig.
Katatouische Formen. j^75
Bedrohungen machen auf sie gar keinen Eindruck; sie strecken
unter Umständen auf Wunsch ruhig die Zunge heraus, wenn man
ihnen das Abschneiden derselben ankündigt und sich nun mit
Messer oder Scheere nähert. Doch beobachtet man vielfach in un-
regelmässigem Wechsel kindische Weinerlichkeit, Gereiztheit, läppische
Ausgelassenheit oder Verzückung. Weit seltener und dann meist
der ersten Zeit der Krankheit angehörend sind Angstzustände, die
jedoch in einzelnen Fällen eine ausserordentliche Heftigkeit er-
reichen können.
Den Ausgang der Katatonie bildete in 59% meiner Fälle ein
eigenartiger, erheblicher Blödsinn. Die Erregung legt sich; die
starre Spannung des Stupors schwindet; die Wahnvorstellungen und
Sinnestäuschungen treten in den Hintergrund, aber der Kranke
wird nicht frei, sondern zeigt nunmehr die deutlichen Züge der
psychischen Schwäche. Er ist stumpf und gleichgültig ge-
worden, hat seine geistige Regsamkeit verloren, kümmert sich nicht
um seine Umgebung, um seine Angehörigen, um seine Zukunft,
sondern dämmert wunschlos und willenlos dahin. Obgleich er ge-
wöhnlich noch leidlich im Stande ist, aufzufassen und einfache
Dinge zu verstehen, auch hie und da noch Proben früherer Kennt-
nisse und Fertigkeiten liefert, etwa gut Schach spielt, auf der
Landkarte Bescheid weiss, beim Bäumeroden besonders brauchbar
ist, lernt er nichts mehr hinzu, hat gar kein Gedächtniss, „viel zu
kurzen Sinn", „keinen Sinn und Begrifl" für nichts". Er „arbeitet
ohne Ausdauer und Verständniss"; „der Wille ist gut, das Voll-
bringen schwach"; zu selbständiger Thätigkeit ist er nicht fähig,
kennt Ordnung und Reinlichkeit nicht mehr, spielt mit Bildern wie
ein Kind. Manche Kranke sind eigenwillig, abweisend, ziehen sich
zurück, bleiben dauernd im Bett, sprechen nichts oder murmeln nur
unverständlich vor sich hin, halten sich unrein. Andere bleiben
lebhafter, aber faselig, zerfahren, reizbar, unruhig, äussern zusammen-
hangslose Reste von Wahnbildungen.
Besonders bei diesen letzteren Formen kommt es zur Bildung
jener stehenden Manieren, deren Anfänge wir in den früher be-
schriebenen Stereotypen vor uns haben. Dahin gehören u. a. die eigen-
thümlichen Stellungen und automatenartigen Bewegungen, das Gehen
auf einem Strich, das krampfhafte Andrücken der gespreizten Finger
an einzelne Körpertheile, Festhalten eines Ohrläppchens, Auszupfen der
176 ^- Die Dementia ijraecox.
Haare, das zwangsmässige Kopf schütteln und Nicken, die Zungen-
und Lippenbewegungen, das Zähneknirschen, Augenrollen, Gesichter-
schneiden, Lachen, die hanswurstartigen Geberden. Ferner sind
die ausserordentlichen Frisuren zu erwähnen, die schrullenhafte
Anordnung und Auswahl der Kleidungsstücke, das Zurück-
weisen gewisser Speisen, die Bevorzugung bestimmter Thüren und
Betten, das häufige Aufsuchen des Aborts, das Räuspern, Schnauben
Hüsteln, Grunzen, Blasen, Röcheln und namentlich gewisse Sonderbar-
keiten beim Essen. Fast niemals nehmen die Kranken ihre Mahlzeiten
jn natürlicher Weise zu sich. Häufig greifen sie einfach mit den
Händen in den Teller hinein, fahren auf die grosse gemeinsame Schüssel
los, stopfen hastig den Mund so voll wie möglich und schlingen her-
unter, fast ohne zu kauen. Der Löffel wird nur ganz leicht mit den
Fingerspitzen erfasst, oft am äussersten Ende, der Stiel zum Essen be-
nutzt; es wird mit der Gabel regelmässig vor jedem Bissen 2 — 3 Mal
im Essen herumgestochert, das Gemüse in eine Reihe gleicher Häufchen
getheilt, die Hand vorher mit der Jacke umwickelt, die Nase mit in
die Suppe gesteckt,, oder es muss zwischen je zwei Bissen ein
Schluck getrunken, bis 12 gezählt werden u. ähnl. Andere schlecken
die Suppe wie ein Hund oder giessen sie unter reichlichem Yer-
schütten ohne weiteres in den Mund, pressen den Gemüseteller glatt
auf ihr Gesicht und lecken ihn so allmählich aus. Eine meiner
Kranken fasste zwar den Löffel ganz richtig mit der rechten Hand,
führte ihn aber hinter ihrem Kopfe herum von der linken Seite
zum Munde; eine andere verkroch sich beim Essen unter die Bett-
decke. Nicht selten verschlingen die Kranken ganz unglaubliche
Mengen der verschiedensten Nahrungsmittel, aber auch ganz unver-
dauliche Dinge, hie und da sogar ihre eigenen Ausleerungen.
Endlich pflegen sich vielfach auch die oben geschilderten Eigen-
thümlich keifen des Sprechens und Schreibens zu erhalten. Besonders
auffallend gestaltet sich oft das Bild der Sprachverwirrtheit, die
in ausgeprägtester Form zurückbleiben kann, auch wenn der Kranke
in seinem Benehmen leidlich geordnet erscheint. Namentlich in der
Erregung können solche Kranke leicht wieder den blühendsten
Wortsalat zu Tage fördern, während sie sich bei ruhigem Sprechen
vielleicht ganz verständlich auszudrücken vermögen. Bisweilen
kann übrigens die Sprachverwirrtheit sich selbst nach langjährigem
Bestehen noch wesentlich bessern und fast ganz verlieren. Das
Katatonische Formen. 177
war z. B. bei dem Kranken der Fall, der den nachfolgenden Brief
geschrieben hat:
„Der sentimentale Beruf der Welsclineureuther Bürger erheischt nach dem
«rhabenen Geburtstagsfest Sr. Majestät des erlauchten Königs Wilhelm Karl vor
allem seine gesammten geistigen Kräfte zu sammeln, um ihrer seelsorglichen Für-
bitte in dem Herrn gerecht zu werden. So haben es sich 40 angesehene Sturm-
patrioten in Anbetracht der Aufhebung der Statuten der Universität 'Erlangen
zum heutigen angelegen sein lassen, als erste rückwirkende Negative in analogisch-
patriotischem Sinne zu bekräftigen. Die Art. 1 der Welschneureuther Verfassung,
bestehend in brennbar verlügbarem Kriegsmaterial Sr. Majestät zur allergnädigsten
Disposition zu stellen, ferner die ruchbarsten Handlungen wie Umgang mit Vieh,
Schafen und welschen Hahnen gehorsamst einzustellen. Damit nun die erlauchte
Königsgesellsehaft bei transportabler aller zur Nachsicht empfehlender Gemüt her
keiner Coacurrenz von Seiten der nachbarlichen Staaten unterworfen]werden ka nn,
so schwören wir bei Geniessung von Steig Waaren nur Jedem allein zu dienen,
eine Folgerung der periodisch mechanisch zu ziehenden Bilanz des 19. Jahrhunderts
nur dann abzubrechen, wenn wir in unseren Meinungen unserem erhabenen Herr-
scher gegenüber erwartungsvoll getäuscht und als nützliche Rathgeber eines ge-
sunden Alterthumsmuseums betrachtet werden können u. s. w."
Im ganzen ist hier das Satzgefüge noch einigermassen gewahrt , so
dass dieses Gefasel bei unaufmerksamem Lesen oder unvoUkomme nem
Sprachverständnisse allenfalls den Eindruck eines innerlichen Zu-
sammenhanges machen könnte. Bei genauerem Zusehen ist davon
freilich keine Rede mehr. Nicht ohne Bedeutung ist die bei solchen
Kranken stets hervortretende Neigung zu tönenden Redensarten,
geschraubten Wendungen, Fremdwörtern und Wortneubildungen.
Bei der überwiegenden Mehrzahl der verblödeten Katatoniker
werden zeitweise Erregungen beobachtet, bald alle paar Wochen,
bald in längeren Zwischenräumen. Die Kranken, die so lange ruhig
und fügsam waren, sind einige Tage reizbar, missmuthig, drohend, ver-
weigern die Nahrung oder brechen plötzlich in verwirrtes Schimpfen
aus, äussern Verfolgungsideen, zerstören einige Fensterscheiben,
werfen das Essen auf den Boden, machen einen sinnlosen Angriff
oder einen Selbstmordversuch. Nach kurzer Zeit pflegt alles vor-
über zu sein, und die Kranken selbst vermögen dann über die
Beweggründe ihres Handelns keine Rechenschaft mehr zu geben.
In etwa 27 "/o meiner Fälle wurden die schwersten Grade der
Verblödung nicht erreicht, doch ist natürlich eine strengere Ab-
scheidung unter diesem Gesichtspunkte nicht möglich. Es handelt
sich um solche Kranke, bei denen die auf der Höhe der Krankheit
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. ^^
178 V, Die Dementia praecox.
gebildeten ■Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen und ebenso
die auffallenderen katatonischen Erscheinungen vollkommen ver-
schwinden, unter Umständen erst nach Jahren. Sie werden ruhig,
geordnet, arbeitsfähig und können wieder in ihre häuslichen Yer-
hältnisse zurückkehren, vielleicht auch wieder auswärts arbeiten.
Allein es ist eine tiefgreifende Veränderung mit ihnen vor sich ge-
gangen. Ihre geistige Frische ist geschwunden; sie sind vergess-
licher, urtheilsschwächer, stumpfer geworden, unselbständig, ohne
rechte Thatkraft und ohne Ausdauer. Sie haben keinen Ueberblick
mehr, können kein Geschäft, keinen grossen Haushalt leiten, wissen
mit Geld nicht umzugehen, geben aus, was sie in die Hand be-
kommen. Viele dieser Kranken sind still, unfrei, gedrückt, miss-
trauisch, abweisend, andere vielmehr selbstbewusst, kindisch heiter^
prahlerisch oder zappelig, reizbar. Vorübergehende leichte Er-
regungszustände sind auch hier ungemein häufig; Spuren von Kata-
lepsie, Gesichterschneiden, grundloses Lachen, plumpe, übertriebene
Höflichkeit, Manieren beim Handgeben, beim Essen, bei der Arbeit
lassen sich vielfach nachweisen. Oefters besteht grosse Ermüdbar-
keit und ein ungemein starkes Schlafbedürfniss, so dass die Kranken,
ganz entgegen ihren früheren Lebensgewohnheiten, gar nicht zu er-
wecken sind und selbst noch die halben Tage im Bette zubringen»
Die leichtesten Grade der hier geschilderten Zustände gehen
ohne scharfe Grenze in diejenige Gruppe von Fällen über, die wir
als geheilt zu betrachten pflegen. Unter meinen Beobachtungen
möchte ich etwa 13^0 dahin rechnen. Hier verschwinden alle
krankhaften Störungen so vollständig, dass die Genesenen ihre
frühere Stellung im Leben ganz wie früher wieder ausfüllen. Ich
darf indessen nicht verschweigen, dass sich auch bei einigen der
hierhin gerechneten Fälle noch ganz leichte Reste der überstandenen
Krankheit bemerkbar machten, etwas verschrobene Beurtheilung der
krankhaften Erlebnisse, Zucken im Gesicht, stilleres Wesen, ge-
zwungene Bewegungen. Noch schwerer fällt vielleicht der Um-
stand ins Gewicht, dass die Dauer der Genesung bisher meist nur
einige Jahre hindurch sicher gestellt worden ist. Wir wissen aber,
dass bei der Katatonie nach selbst 8 — 10 Jahren noch schwere
und zu tiefem Blödsinn führende Rückfälle eintreten können. Ich
habe schon eine ganze Reihe meiner anscheinend geheilten Kata-
toniker wieder erkranken sehen und muss es daher einstweilen offea
Katatonische Formen. 179
lassen, wie viele der angeführten Genesungen wirklich im strengsten
Sinne und dauernd als solche anzusehen sind.
Gerade durch diese Erfahrung wird die Vorhersage bei der
Katatonie ausserordentlich erschwert. Wir beobachten in einer
grossen Zahl von Fällen mehr oder weniger plötzliche Nachlässe
aller Krankheitserscheinungen. Die Kranken werden besonnen,
klar und einsichtig, meist freilich nur auf kurze Zeit, für Stunden
oder Tage. Der Eindruck dieser unvermutheten, weitgehenden
Besserungen ist ein überraschender. Wir treffen den Kranken, der
bis dahin in seinem unsinnigen Treiben oder seiner Versunkenheit
ganz verwirrt zu sein schien, mit einem Male ruhig und vollständig
geordnet an. Er kennt Zeit und Ort, die Personen seiner Um-
gebung, erinnert sich an alle Ereignisse, auch an seine eigenen un-
sinnigen Handlungen, giebt zu, dass er krank ist, schreibt einen
zusammenhängenden, vernünftigen Brief an seine Angehörigen.
Freilich wird man bei genauer Prüfung niemals eine gewisse Ge-
bundenheit des Wesens, eigenthümlich gehobene oder verlegene
Stimmung wie den Mangel eines wirklich klaren Verständnisses
für die gesammten Krankheitserscheinungen an ihm vermissen.
Ebenso unvermittelt, wie sie gekommen, pflegen diese Nachlässe der
Krankheit auch wieder zu verschwinden. Sie sind am häufigsten
in den Erregungszuständen, weit seltener und unvollkommener beim
Versinken in den Stupor.
In einer ziemlich grossen Zahl von Fällen, nach meiner Zu-
sammenstellung bei etwa 20 ^/^ der Kranken, können die Nachlässe
der Krankheit aber auch lange Zeit hindurch andauern, so dass sie
der Genesung gleichen. Fast immer freilich bleiben auch während
der Zwischenzeiten gewisse Eigenthümlichkeiten im Wesen der
Kranken zurück, welche darauf hindeuten, dass es sich nicht um
wirkliche Heilungen gehandelt hat. Dahin gehört namentlich un-
freies, gezwungenes, geziertes oder auffallend stilles, zurückgezogenes
Benehmen, Reizbarkeit, unvollkommene Krankheitseinsicht. Eine
meiner Kranken, die bis dahin ein anständiges Mädchen gewesen
war, gebar in einer solchen Remission 3 uneheliche Kinder, deren
letztes sie aus Unachtsamkeit erstickte; in der Untersuchungshaft
trat dann ein neuer, sehr heftiger Anfall katatonischer Erregung auf,
der zu endgültiger Verblödung führte. Die Wiedererkrankung er-
folgt meist innerhalb der ersten 5 Jahre, kann aber in einzelnen
12*
180 ^- Die Dementia praecox.
Fällen auch noch nach 7, 10, und selbst noch mehr Jahren ein-
treten.
Leider ist es mir bisher noch nicht möglich gewesen, bestimmte
Anhaltspunkte aufzufinden, aus denen man Schlüsse auf den muth-
masslichen Ausgang des einzelnen Falles ziehen könnte. Wenn wir
die Heilungen gewissermassen als dauernde Remissionen betrachten,
so würde die Frage zu beantworten sein, welche Fälle Aussicht auf
den Eintritt von weitgehenden Remissionen gewähren, und wie lange
man berechtigt ist, noch auf den Eintritt einer solchen zu hoffen.
Ohne Zweifel führen im allgemeinen mehr die rasch entstandenen,
als die schleichend sich entwickelnden Störungen zur Remission,
ganz ähnlich wie bei der Paralyse. Da ein acuter Beginn mit leb-
hafter Erregung bei der Katatonie ungleich häufiger ist, als bei den
hebephrenischen Formen, dürfen wir darauf auch wol die günstigere
Prognose jener ersteren zurückführen. Die Wahrscheinlichkeit einer
erheblichen Besserung dürfte ferner um so geringer werden, je
mehr sich diejenigen Eigenthümlichkeiten ausbilden, die wir bei der
grossen Zahl endgültig ungeheilter Fälle im Vordergrunde stehen
sehen. Dahin gehören einmal der Verlust der gemüthlichen Regsam-
keit bei erhaltener Auffassungsfähigkeit, ferner die feststehenden
Manieren und Stereotypen, endlich die periodischen unvermittelten
Verstimmungen und Erregungen. Es ist natürlich vor der Hand
nur eine Vermuthung, dass die Entwicklung dieser und vielleicht
noch mancher anderer Zeichen die Ausbildung eines unheilbaren
Endzustandes bedeutet, doch scheinen mir viele Erfahrungen dafür
zu sprechen; eine sehr grosse Anzahl unter diesem Gesichtspunkte
planmässig fortgesetzter Beobachtungen wird uns alhnählich darüber
Klarheit bringen.
Freilich ist es nicht immer leicht, sich über das Bestehen jener
Zeichen selbst volle Sicherheit zu verschaffen. Gleichgültigkeit
gegenüber den Vorgängen in der Umgebung kann auch durch
Negativismus oder durch Benommenheit vorgetäuscht werden. Erst
dann, wenn die Kranken trotz völliger Besonnenheit und ohne
Zeichen des Negativismus gar keine Theilnahme mehr für ihre Mit-
kranken, ihre Angehörigen und ihren Beruf zeigen, dürfen wir auf
eine wirkliche Vernichtung der gemüthlichen Regsamkeit schliessen.
Ebenso werden nur die wirklich lange Zeit festgehaltenen und
völlig erstarrten Stereotypen und endlich nur diejenigen Verstim-
Katatonische Formen. 181
raungen und Erregungen für die Beiirtheilung der Heilungsaussichten
zu verwerthen sein, die in einigermassen regelmässigen Zwischen-
zeiten plötzlich auftauchen und nach ganz kurzer Dauer ebenso
wieder verschwinden. Auf der anderen Seite dürfte das Fort-
bestehen eines ausgesprochenen Negativismus mit Stupor selbst nach
sehr langer Zeit die Möglichkeit einer weitgehenden Besserung zu-
lassen. Bei sicher ungeheilten Fällen pflegt der Negativismus all-
mählich nachzulassen; dagegen kennen wir Fälle, in denen aus dem
negativistisclien Stupor heraus noch nach 3, 5, ja 8 Jahren eine
überraschende Heilung mit Defect erfolgte. Ob wir freilich in
solchen Fällen mit Wahrscheinlichkeiten und nicht blos mit ent-
fernten Möglichkeiten rechnen dürfen, bedarf noch der w^eiteren
Erforschung.
Eine letzte Verlaufsmöglichkeit führt die Kranken zum Tode. In
einzelnen Fällen kommt es vor, dass dieselben unter den Erscheinungen
heftigster Erregung anscheinend an Erschöpfung, auch wol in Folge von
Verletzungen oder anderer Zufälle, zu Grunde gehen. Weit häufiger
jedoch ist die Entwicklung der Tuberculose bei den regungslos da-
liegenden, nur sehr oberflächlich athmenden und schwer zu pflegen-
den Kranken. Die Sterblichkeit wird auf diese Weise gerade für die
verblödeten Endzustände der Katatonie eine verhältnissmässig grosse.
In einigen Fällen, die unter dem Bilde des Delirium acutum
zu Grunde gingen und von ihm der Katatonie zugerechnet werden,
hat Alzheimer schwere Veränderungen an den Rindenzellen, be-
sonders der tiefen Schichten, beschrieben. Die Kerne erschienen
hochgradig aufgebläht, die Kernmembran stark gefaltet, der Zellleib
bedeutend geschrumpft mit Neigung zum Zerfall. In der Glia liess
sich krankhafte Neubildung von Fasern feststellen, welche die Zellen
in eigenthümlicher Weise „umklammerten". Nach längerem Krank-
heitsverlaufe sah Nissl ausgedehnte Veränderungen an den Zellen,
die er als „körnigen Zerfall" kennzeichnet. Anscheinend war auch
eine nicht geringe Zahl von Zellen bereits zu Grunde gegangen,
doch zeigte sich keinerlei Schrumpfung der Rinde. In den tieferen
Schichten fanden sich zahlreiche, in Rückbildung begriffene, mächtige
Gliazellen, wie sie unter normalen Verhältnissen nur im Rinden-
saume vorkommen. Ausserdem war die Rinde durchsetzt von eigen-
thümlich blass gefärbten, sehr grossen Gliakernen, die vielfach an
die erkrankten Zellen dicht angelagert, ja in dieselben hineingedrängt
182 ^- Die Dementia praecox.
erschienen, nicht nur an der Basis, wie die gewöhnlichen Trabant-
kerne, sondern an den verschiedensten Stellen. Die Figur 3 der
Tafel lY zeigt einen derartigen Kern an einer zerfallenden Zelle
und daneben eine Zelle mit gewöhnlichem Trabantkern, um den
Unterschied beider Bilder deutlich zu machen. Der Befund würde
sich recht gut mit dem von Alzheimer am Gliabilde gewonnenen
Eindrucke der „Umklammerung" decken. —
Paranoide Formen. Sow^ol bei der Hebephrenie wie bei der
Katatonie sind ausgeprägte Wahnbildungen überaus häufig. Während
sie aber dort in der Regel nach verhältnissmässig kurzer Zeit wieder
zu verblassen pflegen, haben wir nunmehr eine Gruppe von
Krankheitsbildern ins Auge zu fassen, bei denen neben den Er-
scheinungen einer rasch sich entwickelnden geistigen
Schwäche unter vollkommener Erhaltung der Besonnen-
heit Wahnvorstellungen und meist auch Sinnestäuschungen
viele Jahre hindurch die hervorstechendste Störung bil-
den. Man rechnet diese Formen daher meist zur Verrücktheit; sie
scheinen mir jedoch wegen der schnellen Verblödung mehr dem
Gebiete der Dementia praecox nahe zu stehen. Dazu kommt, dass
sie nicht selten acut beginnen und vielfach einzelne katatonische
Zeichen darbieten, stuporöse Zustände, Erregung, Manieren, Wort-
spielereien, Wortneubildungen, Sprachverwirrtheit.
Eine erste Gruppe hierher gehöriger Fälle habe ich als De-
mentia paranoides beschrieben. Es handelt sich dabei um das
dauernde Bestehen massenhafter, zusammenhangsloser, immerfort
wechselnder Yerfolgungs- und Grössenideen mit leichter Erregung.
Das Leiden pflegt, wie die übrigen Formen der Dementia praecox,
mit den allgemeinen Erscheinungen einer leichten Verstimmung,
Kopfschmerzen, Mattigkeit, Schlaflosigkeit, Unlust zur Arbeit, Reiz-
barkeit, innerer Unruhe zu beginnen. Alsdann werden die Kranken
ziemlich plötzlich erregt, ängstlich, verstört, beten viel, führen eigen-
thümliche Reden und entwickeln unversehens eine Menge von Wahn-
ideen. Der Kranke meint, dass man ihn überall scharf beobachte,
sonderbare Fragen an ihn richte, gegen ihn intriguire, ihn ver-
giften wolle, alle seine Gedanken offenkundig mache. Ungemein
rasch gewinnen diese Vorstellungen einen durchaus abenteuerlichen
Inhalt. Ein junger Offizier erzählte schon wenige Monate, nachdem
die ersten Veränderungen bei ihm wahrgenommen waren, sein Arzt
Paranoide Formen. 183
habe ihm den Kopf abgeschnitten, den Leib geöffnet, die Gedärme
herausgenommen; er habe einen Pferdefiiss bekommen. Nachts
werden mephitische Dämpfe ins Zimmer gelassen, Schröpfköpfe an-
gesetzt, Einspritzungen vorgenommen, die Muttergefühle heraus-
gedreht, die Nerven ausgerissen; der Leib wird bis in den Hals
hinein durchsucht, am After gezupft, das Blut ausgedörrt, das Fleisch
vom Körper abgemacht, die Gedanken gelesen, das Gesicht verzerrt
und heimlich photographirt; es wird Magie und Sympathie ange-
wandt. Der Kranke wird in den Kamin eingemauert, von der Fabrik,
von der Kirche mit einem Rad lebendig herausgeschmissen, von
boshaften Menschen abgemartert. Das Yieh frisst nicht mehr wie
früher, ist verhext; der Mann ist verändert, hat keinen rechten Glauben
mehr; in den Speisen ist Gift. Alles ist umgewendet und Blend-
werk; das „Bleichbuch" ist aufgemacht; das Weltende steht vor der
Thür; der Pfarrer ist todtgeschlagen und eingegraben worden.
Zugleich treten meistens Gehörstäuschungen auf. Alle
schwätzen aus der Wand; durch das Telephon wird das ganze Land
aufgemacht; es sind Männer im Hause; es ist eine Listigkeit und
Heimlichkeit hinter dem Ej-anken; er ist in ganz Deutschland als
Spion bekannt gemacht. Seltener sind Gesichtstäuschungen, das
Sehen von Gespenstern, blutigen Männerköpfen, baumelnden Leichen.
Gewöhnlich bemächtigt sich des Kranken nunmehr eine gewisse
Erregung. Er wird ängstlich, aufbrausend, streitsüchtig, lacht, weint
und singt durcheinander. Dabei pflegt die Orientirung nicht ver-
loren zu gehen. Dennoch kommt es oft genug zu den unnatürlichsten
und folgenschwersten Handlungen, zu Selbstmord, gefährlichen An-
griffen und Brandstiftung. Eine meiner Kranken brachte ihren
Kindern schwere Verletzungen bei, um ihnen durch den Tod das
nach ihrer Meinung gefährdete Seelenheil zu verschaffen. Eine andere
erschlug fast ihren ruhig schlummernden Mann, um ihn von seinen
Leiden zu erlösen, da ihr der Gedanke kam, er liege im Sterben;
später griff sie Nachts die Wärterinnen an, weil sie ihr mit der
Wachuhr die Eingeweide aus dem Leibe rissen.
In der Regel dauert diese einleitende traurige oder ängstliche
Verstimmung nicht sehr lange. Vielmehr tritt meist sehr bald eine
expansive Färbung der Stimmung wie der Wahnideen immer
stärker hervor. Die Kranken werden heiter, überschwänglich , ge-
schwätzig, bezeichnen sich als Freifrau, Kaiserin, Stellvertreterin der
184 y. Die Dementia praecox.
Jungfrau Maria, sind mit dem Weltkaiser schwanger, verlangen,
Majestät angeredet zu werden.
In einer Anzahl von Fällen beginnt nun die unaufhaltsame Ent-
wicklung des blühendsten und unsinnigsten Grössenwahnes ohne
Maass und Ziel. Der Kranke ist vertauschtes Kind, Graf Eberstein,
Monarch, Maria Theresia, nach der Weltordnuug Kaiserin von Frank-
furt, Ideal der Frauenwelt, allerheiligste Göttin, Präsident von
Amerika aus Hamburg, Pius IX. und Leo XIII. in einer Person,
ist Jesasus Christasusaesus Heilandasus, „Sinngott", Arzt, Dichter,
Entdecker, Universalgenie, Perle und Inbegriff des "Weltalls ; er weiss
alles, kann alles, gebietet über alles. Er stammt vom Herzog von
Brabant, von den Propheten ab, dem ersten Abglanz der Sonne,
ist gar nicht auf natürliche Weise zur Welt gekommen, wurde im
Amazonenstrom aufgefischt, aus Blut und Speichel zusammengerieben,
hat schon viele Male gelebt, die fabelhaftesten Dinge durchgemacht,
alle historischen Begebenheiten geleitet, alle Kriege geführt, ist durch
Himmel und Hölle geflogen; er war selber Alexander und Cäsar,
Muhamed und Luther, Goethe und Humboldt. Zehnmal wurde er
geboren, ist 50 mal gestorben, immer durch Aufsetzen eines frischen
Schädels wieder neu belebt, durch Gypsverbände klein gezogen
worden; er hat die schönsten Weiber, unzählige Kinder, be-
sitzt die Afrikanermethode des Lebens; da kann man gar nicht
sterben.
Das Keich Gottes ist auf ihn herniedergekommen, sein Gedächt-
niss bis in die Wolken ausgebildet worden; durch ihn werden die
Jahrhunderte belohnt und Deutschland befreit. Der liebe Gott hat
ihm alles gezeigt; er kann Yulkane essen, trägt sein Gehirn auf
der Schulter, hat sich unserm Herrgott als Wildsau zur Yerfügung^
gestellt. Er besitzt die prachtvollsten Schlösser in fremden Welt-
theilen mit selbsterfnndenen wunderbaren Namen, wo er von Geistern
bedient wird, grossartige Ländereien auf der Sonne, auf den Sternen,
ein unermessliches Vermögen; er wird die Prinzessin heirathen, den
Glaubenskampf durchkämpfen, die Welt erlösen auf Krieg, als oberste
Herrin eingesetzt werden, ist Braut des Kaisers Augustus, als fran-
zösischer Fahnenträger aufgestellt, weiss, was die Fahnen bedeuten,
die von der Gedächtnisskrönung auf ihn Bezug haben; es ist ein
Wunder, wie es nicht mehr in dem Jahrhundert vorkommt.
Entsprechend diesem ungeheuerlichen, vielfach wechselnden und
Paranoide Formen. 1^5
an die Dementia paralytica erinnernden Grössenwalin gestalten sich
auch die nebenher laufenden Yerfolgungsideen, die jetzt meist mit
lachendem, strahlendem Gesichte vorgebracht werden. Entsetzliche
Kämpfe hat der Kranke schon mit feindlichen Mächten zu bestehen
gehabt von Anbeginn der Welt; 2000 mal ist er vergiftet, mit
Höllenmaschinen in die Luft gesprengt, auf den Geist getödtet worden;
unzählige Geschosse haben seinen Leib durchbohrt. Seine Glieder
sind ihm abgehauen, der Kopf vom Rumpfe getrennt worden; der
ganze Leib wurde eingeschmolzen, die Genitalien verstümmelt, aber
wie der Phönix aus der Asche hat sich der Kranke aus allen diesen
Unfällen triumphirend wieder erhoben, seinen Körper selbst neu aus
unzerstörbarem Stoffe wiederhergestellt und seine "Widersacher zer-
schmettert. In der Regel lassen sich diese Wahnvorstellungen durch
Zureden in beliebiger Weise beeinflussen und durch Einwendungen
zu immer ungeheuerlicheren Gestaltungen steigern. Yielfach giebt
der Lesestoff den Anstoss zu neuen Erfindungen.
Auch der Inhalt der Sinnestäuschungen nimmt an der Wand-
lung des Krankheitsbildes Theil. Engel steigen vom Himmel herab;
der liebe Gott, Kaiser Wilhelm in Galauniform erscheint den Kranken,
von Fahnen und Sternen umgeben. Sie sprechen alle Tage mit dem
lieben Gott, werden nach Befehl vom Telegraphen zum Jesus Christus
von Oesterreich ernannt; die Herzensstimme spricht von Macht und
Reichthum; die Ohrenstimme sagt Gönnersprüche. In der Nacht, im
Traume unternehmen sie \^ainderbare Reisen über die ganze Erde,
auf herrlichen Schiffen, in die schönsten Marmorsäle, ja durch das
Weltall, zum Erdtheil hinter dem Monde, haben nächtlichen Umgang
mit Prinzessinnen. „Ich bin weit draussen, wenn ich gleich in der
Irrenanstalt bin," sagte mir ein Kranker, ,,und habe nicht nöthig,
Selbstbefriedigung zu ti'eiben.'*
AU dieser sinnlose Gallimathias wird von dem Kranken in ge-
läufiger Rede vorgebracht, oft auch in bogenlangen, nur in grossen
Zügen verständlichen Aufzeichnungen niedergeschrieben. Meist ist
es schwierig, dem einmal entfesselten Redestrome Einhalt zu thun.
Gleichwol besteht kein eigentlicher Rededrang und keine Ideenflucht;
der Kranke schweift nicht planlos ab, hält an seinem bestimmten
Gedankengange fest, spricht auch meist nicht ohne Aulass und ohne
Zuhörer. Bei längerer Bekanntschaft mit ihm bemerkt man, dass
gewisse Wendungen und Vorstellungen häufig wiederkehren, nament-
186 ^^- Die Dementia praecox.
lieh wenn die anfängliche Fruchtbarkeit der Erfindung allmählich
nachlässt.
Jeder Hinweis auf die völlige Ungereimtheit und Zusammen-
hangslosigkeit der von ihm geäusserten Ideen prallt an dem Kranken
machtlos ab, vermag ihn höchstens in gereizte, ärgerliche Stimmung
zu versetzen. Trotzdem laufen häufig Aeusserungen mit unter, die
auf ein gewisses Krankheitsgefühl hinzudeuten scheinen. „Es kann
schon sein, dass ich geisteskrank bin,^' sagte mir ein Kranker; „ich
weiss eben so gar nichts mehr von mir." Ein anderer erzählte, wie
er im Beginne der Krankheit „einen Ruck im Gedächtniss" verspürt
habe, „Die üebernahme ist durch die Kopfkrankheit und das an-
gespannte Gedächtniss erfolgt"; „Sie haben ja gar keine Ahnung,
wie viel in meinem Kopf vorgeht; ich meine oft, er müsste mir
zerspringen."
Das Bewusstsein der Kranken ist in einzelnen Fällen ziemlich
klar, meist aber etwas getrübt, namentlich nach längerer Dauer des
Leidens. Sie wissen zwar, wo sie sich befinden, fassen einfache
Anreden auf und geben über ihre persönlichen Yerhältnisse auf
eindringliche Fragen richtige, wenn auch mit unsinnigen Zusätzen
verbrämte Antworten. Ihre nächsten Angehörigen erkennen sie
regelmässig, bisweilen auch einzelne Personen ihrer späteren Um-
gebung. Fast überall jedoch besteht die Neigung, Fremde mit
irgend welchen historischen oder selbsterfiindenen Namen zu be-
legen oder sie mit früheren Bekannten zu identificiren. Die Aerzte
sind verkappte hohe Staatsbeamte, die Mitkranken der Kronprinz,
Makart, Richard Wagner; ein neu eintretender Kranker wird als
hoher Potentat begrüsst. Die Auffassung der wirklichen Personen
ist in manchen Fällen eine ganz unklare und verschwommene; eine
meiner Kranken fragte noch nach jahrelangem Anstaltsaufenthalte
den eintretenden Arzt regelmässig: „War der Herr schon ein-
mal da?"
Bisweilen erscheint dem Kranken jede neue Person als alter
Bekannter, nicht weil er sie einfach verkennt, sondern weil sich an
den neuen Eindruck eine Menge von Erinnerungsfälschungen
anschliessen. Ihm fällt sofort ein, dass er mit dem betreffenden
Herrn früher schon Jahre lang zusammen gelebt, mit ihm auf dem
Monde gejagt hat, von ihm geköpft worden ist. Diese Art der
Personenverkennung ist offenbar nur eine Theilerscheinung der hier
Paranoide Formen. 1^7
bestehenden Neigung zu traumhaft üppiger, zügellos freier Er-
findung.
Der Verstand der Kranken leidet stets rasch und sehr be-
trächtlich. Zwar haften im Anfange manche der früher erworbenen
Kenntnisse noch leidlich gut, aber sehr bald geht die Fähigkeit zu
geordneten und ausdauernden geistigen Leistungen mehr und mehr
verloren. Die Kranken vermögen längeren Auseinandersetzungen
nicht mehr zu folgen und mischen in ihre mündlichen und
schriftlichen Aeusserungen sogleich ihre verworrenen, wahnhaften
Abschweifungen.
Die Stimmung ist regelmässig eine gehobene. Die Kranken
sind sehr selbstbewusst, hochfahrend, anspruchsvoll, betrachten sich
als die Hauptpersonen, verlangen besondere Berücksichtigung, haben
Eigenheiten in der Auswahl der Speisen. Manche Kranke zeigen
dauernd eine gewisse Unruhe und grosse gemüthliche Eeizbarkeit.
Sie gehen hastig auf und ab, poltern des Nachts mit ihren Möbeln,
Meiden sich unanständig, zerkratzen sich, schwatzen viel, haben
Neigung zum Schimpfen und zu gewaltthätigen Handlungen bei
geringfügigem Anlass. Zeitweise kann es zu blinden Wuthausbrüchen
von ausserordentlicher Heftigkeit kommen, namentlich im Zusammen-
hange mit den Menses. Lebhafte geschlechtliche Erregbarkeit ist
sehr häufig.
In anderen Fällen ist das Benehmen der Kranken geordneter,
so dass sie sogar zu allerlei mechanischen Beschäftigungen heran-
zuziehen sind, doch pflegen sie dabei sehr launisch und wetter-
wendisch zu sein. Ihre Sprache wird nach und nach dunkel und
schwer verständlich, namentlich durch das Einmischen selbsterfundener
Ausdrücke und Wendungen, die sich allmählich zu befestigen und
häufig zu wiederholen pflegen. Ein solcher Kranker gab als seine
Adresse an: „Aewa owa Ouwou Aewouwio sanco to totosaak saakiou
sahaia siri tou toutou. Hoch Waiowauoxyowiüowäüoxyoohoeho hächi
hihi". Es war der Name seines Schlosses. Bisweilen kommt es zu
einer absonderlichen Häufung von Superlativen, indem die Kranken
mit Aufgebot aller sprachlichen Hülfsmittel ihre allerherrlichsten
geistigen Yorzüge wie die allergrässlichsten Martertode zu schildern
suchen, die sie täglich und stündlich zu erleiden haben. Auch die
Schriftzüge werden verschnörkelt, gross, anspruchsvoll, so dass
schliesslich unter Umständen wenige Buchstaben oder Worte die
188 V. Die Dementia praecox.
Bogenseite füllen. Auf diese "Weise entstehen dann gewaltige Bündel
von Eingaben, Aufrufen, Erlassen, in denen der Kranke unter zahl-
losen Wiederholungen seine verworrenen Grössen- und Verfolgungs-
ideen niederlegt.
Auffallendere körperliche Störungen sind gewöhnlich bei den
Kranken nicht zu bemerken; nur konnte ich einige Male eine sehr
bedeutende Erhöhung der vasomotorischen Erregbarkeit beobachten,
heftigstes Erröthen oder Erblassen bei den leisesten Gemüths-
schwankungen, schon beim einfachen Sprechen. Der Appetit kann
wol während der ersten Zeit in Eolge von Yergiftungsideen leiden,
ist aber später meist vortrefflich. Der Schlaf wird zeitweise durch
nächtliche Unruhe gestört. Das Körpergewicht zeigt nur unregel-
mässige Schwankungen; meist gewinnen die Kranken sehr bald ein
blühendes Aussehen.
Der Ausgang der Dementia paranoides ist die schwachsinnige
Yerwirrtheit. Die Kranken bleiben dauernd besonnen und orientirt,
aber ihre weitschweifigen Reden werden allmähKch zu völlig zu-
sammenhangslosem Gefasel, in welchem für den Kundigen die Reste
der früheren Verfolgungs- und Grössenideen noch erkennbar sind.
Die Stimmung zeigt selbstbewusste Heiterkeit mit zeitweiser Reizbar-
keit; das ganze Tlmn und Treiben wird zerfahren und planlos.
Die Schnelligkeit, mit welcher diese Verblödung zu Stande kommt,
ist nicht immer die gleiche. In manchen Fällen wird man schon
nach wenigen Monaten von den deutlichen Zeichen der geistigen
Schwäche überrascht, während bei anderen Kranken selbst 1 bis
2 Jahre vergehen können, bevor die Gleichgültigkeit, mit welcher
die ungeheuerlichsten Wahnvorstellungen vorgebracht und fest-
gehalten werden, den endgültigen Zusammenbruch der Urtheils-
fähigkeit klarstellt. Nicht selten beobachten wir einen Verlauf in
einzelnen Schüben. Rasch vorübergehende Depressionszustände oder
Erregungen mit Grössenideen können dem eigenthchen Ausbruche
der Krankheit schon mehrere oder selbst viele Jahre voraufgehen.
Auch späterhin kommen Zeiten vor, in denen die Kranken ihre
Wahnvorstellungen verleugnen und als „Dummheiten" bezeichnen,
freilich ohne klares Krankheitsverständniss.
Die zweite Gruppe von Krankheitsbildern, die ich geneigt bin,
vorläufig an dieser Stelle einzufügen, ist dadurch gekennzeichnet,
dass abenteuerliche Wahnvorstellungen, meist von zahlreichen
Paranoide Formen. 189
Sinnestäuschungen begleitet, sich in mehr zusammenhängender
Weise entwickeln und eine Reihe von Jahren festgehalten
werden, um dann entweder wieder zu verschwinden oder
völlig verworren zu werden. Bisher habe ich diese Formen
als phantastische Yerrücktheit der Paranoia zugerechnet, wie das
allgemein zu geschehen pflegt. Allmählich jedoch ist es mir immer
deutlicher geworden, dass sie der Dementia praecox jedenfalls näher
verwandt sind, als der Paranoia. Ob es sich dabei wirklich nur um
eine klinische Spielart jener ersteren Krankheit oder um ein eigen-
artiges Leiden handelt, wird die Zukunft zu entscheiden haben.
Die Krankheit .beginnt auch hier zumeist mit mehr oder weniger
ausgeprägter trauriger Yerstimmung und allmählich sich einstollenden
depressiven "Wahnvorstellungen. Der Kranke fühlt sich unglücklich,
vereinsamt, macht sich allerlei Vorwürfe, dass er durch Selbst-
befleckung Körper und Geist für immer ruinirt, fremdes Eigenthum
unrechtmässig für sich behalten habe, hängt viel religiösen Grübe-
leien nach, betet fleissig, singt Kirchenlieder und trägt sich mit
Todesgedanken, um grosses Unglück zu verhüten. Er wird äusserst
argwöhnisch und misstrauisch, merkt, dass seine Umgebung ihm
feindlich gesinnt ist, macht überall seine „stillen Beobachtungen".
Man hustet auffällig hinter seinem Rücken, streckt ihm die Zunge
heraus, ist ihm aufsässig, thut ihm alles zum Spott, stellt verfäng-
liche Fragen an ihn. In den Zeitungen wird er „herumgeschmiert",
in Flugschriften biosgestellt; Theaterstücke enthalten Yerhöhnungen
seiner Person; die Reden Vorübergehender sind auf ihn gemünzt.
Die Kinder auf der Strasse pfeifen und singen ihm zum Schabernack:
die Nachbarn foppen ihn mit Geberden und Anspielungen. Irgend
ein Mensch trägt seine grosse Nase, sein rothes Gesicht nur zur
Schau, um ihn zu ärgern; ein zufällig Vorübergehender scheint einen
lebensgefährlichen Angriff zu planen. Die Frau ist dem Kranken un-
treu, empfängt ihn anders als früher, schrickt bei seiner Heimkehr
zusammen, plaudert im Schlafe ihr Vergehen aus; er fühlt es in
seinem Herzen, dass sie es mit anderen Männern hält. Massenhafte
„vermuthende Gedanken", Ahnungen, Eingebungen steigen auf. Der
Kranke muss sein ganzes früheres Leben durchdenken, „in vier
Stunden 19 Jahre durch sein Gehirn durchschlagen"; er müsste ein
Buch schreiben, wenn er alles aufzeichnen wollte, was ihm in den
Kopf kommt.
190 V. Die Dementia praecox.
In der Eegel stellen sich nunmehr auch wirkliche Gehörs-
täuschungen ein, mit denen die Krankheit bisweilen überhaupt
ziemlich plötzlich einsetzt, Telephonstimmen, Signale aus der Luft
durch den Sprachschalter. Alle schmähen und bedrohen ihn: „Der
hat gestohlen, seinen Meister verschwätzt, muss per Schub heim,
wird hingerichtet; die Haussuchung wird's erweisen; da wird die
Frau schön gucken; Dir wird's gemacht, Du bist ein Lausbub". Er
soll zum Scharfrichter geführt werden, den Tod durch eine Loko-
motive finden; das Gift ist schon im Glas; er hat's schon; „wenn
er wüsste, dass ich da wäre", ruft eine fremde Mannesstimme. Bei
weiblichen Kranken ist es namentlich die Geschlechtsehre, gegen
welche sich die „Yerfolgung" richtet; „die hat vier Kinder, ist ein
Mensch, eine Hure, schwanger, angesteckt, radical caput gemacht,
hat ihr Kind umgebracht".
Bisweilen sind diese Täuschungen so deutlich, laute Zurufe,
dass der Kranke sie wörtlich wiedergeben kann und sie als gewöhn-
üche Sinneswahrnehmungen betrachtet, sogar genau die Stimmen zu
erkennen vermag. Die Verfolger sitzen dann im Keller, in den
Wänden, im Nebenzimmer, auf dem Dachboden („Deckenläufer",
„Hinterwändner"), martern seine Angehörigen, so dass ihr Jammern
zu ihm herüberschallt. In anderen Fällen handelt es sich um leises
Lispeln und Wispern, um „Einflüsterungen", deren Inhalt nur ganz
im allgemeinen aufgefasst wird. Auch aus dem Schreien der Thiere,
dem Pfeifen der Eisenbahn hört er bestimmte Schimpfworte heraus;
er weiss es „aus dem Glockenton", dass man ihm nachstellt.
In der Nacht werden ihm Bilder vorgemacht, um ihn zu ärgern ;
das Essen zeigt bisweilen einen sonderbaren Geschmack oder Geruch,
„nach todten Menschen"; im Kaffee ist Urin oder Phosphor, Ricinusöl
in der Bouillon. Er spürt nach der Mahlzeit Bauchweh, Aufge-
triebensein, Jucken am ganzen Körper. Nachts ist ein schwefel-
artiger Dampf im Zimmer; die Bettstelle erscheint heiss, wie wenn
elektrisirt würde; er empfindet Geräusche im Kopf, wie von einem
Uhrwerk, einem Mühlrad. Schmerzen bei der Menstruation deuten
auf Entjungferung in Chloroformnarkose hin. Einzelne Sachen ver-
schwinden auf geheimnissvolle Weise oder finden sich verschoben,
an andere Stellen gelegt; die Kleider weisen unerklärliche Löcher,
Flecken, Abnutzungszeichen auf; das Gesicht erscheint im Spiegel
verzerrt, gedunsen, die Personen oder Gegenstände der Umgebung
Paranoide Formen. 191
zeitweise ganz auffallend verändert; sie werden vertauscht, um ihn
zu verwirren; die eingehenden Briefe sind gefälscht; man bringt
immer neue Menschen herbei. Auch die Träume haben vielfach eine
geheime Bedeutung; es wird Sympathie angew^endet; alles ist wie
umgewechselt; es ist ein „nächtlich -religiöser, geheimer, meuchel-
mörderischer Staatsbürgerkrieg".
Im einzelnen kann sich nun die weitere Ausbildung der Wahn-
ideen sehr mannigfaltig gestalten. Ganz besonders häufig pflegen
die Vorstellungen einer körperlichen Beeinflussung zu sein,
die oft in überaus abenteuerlicher Weise ausgemalt werden („physi-
kalischer Verfolgungswahn"). Zunächst deuten vielleicht Schmerzen
im Rücken und in den Beinen, Schwere im Körper, Reissen und
Ziehen im Leibe dem Kranken darauf hin, dass die Gesundheit durch
künstlich angewandte Mittel geschädigt ist; im natürlichen Körper
geht so etwas nicht vor. Schwindelanfälle treten auf, Durchzuckung
im Körper, Schlaffheit der Glieder; die Kranken fühlen, wie sie in
Betäubung versetzt, auf den Boden gelegt und begattet werden;
nackte Weiber legen sich auf sie und ziehen ihnen „die Natur'' ab.
Ein gelegentliches Bauchgrimmen oder eine vorübergehende Ein-
genommenheit des Kopfes macht es klar, dass man ihnen Gift in die
Speisen gegeben hat, um ihnen auf diese Weise die Eingeweide zu
ruiniren und das Gedächtniss zu schwächen; d^s Hirn dreht sich
wie in Wickeln. Man regt ihnen die Natur auf, verführt sie zur
Onanie, zieht ihnen die Gedanken aus dem Kopf, sucht sie von Tag
zu Tag dümmer zu machen. Bisweilen suchen sich die Kranken
auch von den Hülfsmitteln, mit denen solche Fernwirkungen (Tele-
pathie) erzeugt werden, genauere Rechenschaft zu geben. Nament-
lich sind es magnetische und elektrische Batterien, mit welchen die
Verfolger arbeiten, Lichtmaschinen, grosse Hohlspiegel u. dergl., von
denen einzelne Kranke nach längerer Bekanntschaft mit ihren
Feinden ausführliche Zeichnungen entwerfen.*) Oder aber es handelt
sich um Zaubersprüche, Sympathie, Hypnotismus, Röntgenstrahlen,
je nach dem Bildungsgrade des Kranken. Einer meiner Kranken
fühlte sich „in öffentlicher hypnotischer Haft", trotz anscheinender
Freiheit im erweiterten Käfig, da die „Hypnotisten" ihn durch die
hypnotische Augenkraft vollständig in ihrer Gewalt hatten.
*) Haslam, Erklärungen der Tollheit, übersetzt von Wollny. 1889.
192 V- Die Dementia praecox.
So verschiedenartig- die Werkzeuge, so verschiedenartig sind
auch die Empfindungen, über welche die Kranken sich zu beklagen
haben. Die Haut wird ihnen mit zahllosen Kugeln, Nähnadeln be-
schossen, mit feinem Giftregen besprüht; an den verschiedensten
Stellen des Körpers werden brennende, stechende, bohrende Schmerzen
erzeugt. Im Ohr sitzt ein Magnet; die einzelnen Glieder werden
gegen den Willen des Kranken in Bewegung gesetzt; namentlich
die Zunge wird gezogen, um Dinge zu reden, die ihm verhasst sind;
es wird ihm ein Räderwerk in die Brust gesetzt, mittels dessen er
von den Verfolgern wie eine Gliederpuppe gelenkt wird. Seine Ein-
geweide werden ihm zerstört und durcheinandergeworfen, Schmutz
in sein Essen, in sein Blut hineingeschüttet, „Schweinemord" auf ihn
verübt, der Darm „aufgewickelt und in Platten abgelagert", „Seich-
zauber getrieben", der Stuhlgang verhindert, der Athem versetzt, der
Koth ins Hirn gepumpt, das Geschlecht „wagerecht herausgezogen
und senkrecht wieder hineingesteckt", der Samen abgetrieben, die
Zähne ausgeschlagen. Meist werden diese verschiedenartigen Em-
pfindungen mit eigenen Namen belegt und ganz genau beschrieben,
das Fingerzucken, Fleischschwellen, Blutstiilen und Blutfliessenlassen,
Ereignissmachen, Bombenbersten, Hummerknacken u. s. f.
Ein besonders hinterlistiges Yerfahren der ebenfalls oft absonder-
lich benannten Verfolger besteht in dem „Abziehen" der Gedanken.
Die Kranken merken, dass ihre Gedanken durch feindliche Einwir-
kungen beliebig gelenkt (suggerirt) werden können („Gedanken-
sammeln''). Beim Versuche, zu arbeiten, werden sie plötzlich „des-
animirt" und müssen dann aufhören, oder es kommen ihnen gute
Gedanken, die aber offenbar nicht ihre eigenen, sondern eingegeben
sind. Beim unwillkürlichen Verschreiben eines Wortes „waltet die
Wahrscheinlichkeit der Inspirirung ob"; es kommt „zu criminellen
Pressionen und Inquisitionen"; ihnen wird die Unterstellung ge-
macht, als ob sie sich einbildeten, König zu sein.
Sie wissen schliesslich gar nicht mehr, ob sie aus sich heraus
denken oder „suggestirt" werden. Bisweilen werden die Gedanken
sogar laut (Doppeldenken), besonders beim Lesen. Die Stimmen
klappen dabei nach, oder sie eilen auch wol voraus: „ich kann
schneller lesen als Du!" Die Kranken merken, dass ihre Seele offen,
der ganzen Welt zugänglich ist; Jedermann kann nach Belieben in
derselben lesen. Andere haben die Gabe, den Kranken so zu durch-
Paranoide Formen. 193
schauen, während er selbst nur als ,,echtes Medium" dienen muss.
Dieses Gefühl einer erzwungenen, ohnmächtigen Abhängigkeit von
fremden Einflüssen verstrickt den Kranken in ein unentwirrbares,
wahnhaftes Netz der quälendsten Vorstellungen. Einen Einblick in
derartige Gedankengänge gewährt folgendes Bruchstück eines Briefes :
„Ich bin in entsetzlicher Angst; es ist die grösste Gefahr, dass mein Leben
mit Schrecken ein Ende nimmt, weil die ganze Anstalt wie ein Uhrwerk ein-
gerichtet ist, das aber nicht von Vernunft, sondern von verrückten Köpfen in den
Zellen, die wie Zahnräder regulirt werden, geleitet ist, und nicht allein die Zellen
sind so eingerichtet, dass man sich in Haranguationen wie auf einem telegraphi-
schen Nervenspinngewebe hin- und herbewegen muss, auch auf den Gängen ist
jeder Quadratmeter eine Eintheilung, die irgend woher einen Henkelmann zu Tage
fördert, sei es zur Ansicht oder einen Gewaltthätigen. Dabei werden Dünste,
Gluthwellen in den Abtheilungen entwickelt, die einen schauderhaften Grad von
Befangenheit einerseits, brutale, fascinirende Gewalt und Schnelligkeit andererseits
erzeugen; dazu besteht ein fortwährender Klang von Medienklängen, Vermittlungs-
stimmen, die in grausamer Weise das Gemüth mit Widersprüchen perhorrescireu.
Es ist ganz unbeschreiblich, mit welcher bösen Eafflnirtheit diese Wechselgespräche
geführt werden, die unter Zuhülfenahme von Influenzen in zersetzender Weise
meuchlerisch von Körper zu Körper übertragen werden und Zeugniss davon geben,
dass sogenannte verrückte Stationäre in Verbindung mit allerhand Treibern und
Haranguirern im Leben die grausamsten Verbrecher sind, die es giebt, die nur
noch übertroffen werden von einer anderen Classe, die unter Umständen einen er-
fasst, ihn mit giftigen Fingern in unbedenklicher Weise wie eine gefüllte leblose
Masse in einen andern Zustand quetscht. . . .'"
In manchen Fällen werden die Beeinflussungen nicht unmittel-
bar wahrgenommen, sondern nur die durch sie herbeigeführten Wir-
kungen. Die Feinde kommen hier in der Nacht, während der Kranke
schläft, entführen ihn und treiben nun die scheusslichsten Dinge
mit ihm, üben Hirnbeeinflussungen aus, päderastiren ihn, stecken
ihm Sperma und Koth in den Mund, vertauschen seine Knochen.
Leider erwacht er dabei nicht, sondern merkt erst am andern Morgen,
dass man ihn mit ekelhaften Dingen angefüllt, ihm das Gehirn aus-
geräumt, den Hirnschaum abgeschöpft, die Glieder verrenkt und
verdorrt hat. Weibliche Kranke merken, dass sie geschwängert,
entbunden wurden. Die Mannigfaltigkeit und die Ungeheuerlichkeit
dieser Klagen ist eine ausserordentliche.
Eine ganz eigenartige Ausbildung gewinnt der physikalische Ver-
folgungswahn in jenem sittengeschichtlich bedeutsamen Krankheits-
bilde, welches man als „Besessenheitswahn'' bezeichnet. Hier
werden die Feinde, welche den Kranken quälen, geradezu in den
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band. lo
194 V- Die Dementia praecox.
eigenen Körper hineinverlegt. Der oder die Verfolger sitzen nun
in den Ohren und betäuben den Kranken durch ihr gräuliches
Schreien und Fluchen, häufiger aber im Unterleib, steigen bis in
den Kopf hinauf, schnüren dem Kranken die Kehle zu, verdicken
ihm sein Blut, klappen ihm seinen Schädel auf, zwingen ihn zu den
sonderbarsten Handlungen und reden ihm aus dem Bauche herauf
gotteslästerliche Dinge vor. Hier kann es vorkommen, dass sich
dem Feinde im eigenen Leibe eine andere, freundlich gesinnte
Macht hinzugesellt, vv^elche jenen in eine Körperhälfte hineindrängt
und lange, erbitterte Kämpfe und Zwiegespräche mit ihm führt.
Während die Yerfolger bei den früher geschilderten Formen zumeist
als eine geheimnissvolle Kotte von Nihilisten, Freimaurern, Social-
demokraten gedacht wurden, so pflegen in diesen letzteren Fällen
mehr religiöse Vorstellungen zur Erklärung herbeigezogen zu werden.
Es ist eine abgeschiedene Seele, der Teufel, ein böser Geist, der
von dem Leibe des Kranken Besitz genommen hat, und dem unter
Umständen der liebe Gott oder einer der Erzengel siegreich ent-
gegentritt. Diese eigenthümliche Verdoppelung der Persönlichkeit
erinnert uns an jene Träume, in denen wir ausgedehnte Unterhal-
tungen führen und oft über die schlagenden Beweisgründe unseres
Gegners im höchsten Grade überrascht sind.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gesellen sich zu den
ßeeinträchtigungsideen mehr oder Aveniger ausgeprägte Grössen-
ideen. Der Kranke hat „bewunderungswürdig gelitten", wird noch
Grosses vollbringen, ist zu Höherem berufen, hat ein zukünftiges
besseres Loos zu erwarten. Manchmal sind es lebhafte Träume, die
ihn erheben und für alles Ungemach entschädigen. In diesen „nächt-
lichen geistigen Verschleuderungen" führt ihn die Gewalt Gottes in
fremde Länder, bringt ihn in Verkehr, auch geschlechtlichen, mit
hohen Personen und giebt ihm durch mannigfache Darstellungen
aussichtsreiche Verheissungen für die Zukunft. Häufiger noch kommt
es zu einzelnen, mit klarem Bewusstsein aufgefassten visionären Er-
lebnissen. Der Kranke erwacht in der Nacht mit unbeschreiblichen
AVonnegefühlen, fühlt sich durchströmt und durchleuchtet vom
heiligen Geiste. Seine Augen werden von dem Lichte geblendet^
welches sein Schlafzimmer erfüllt; ein wunderbarer Duft strömt
herein. Er sieht Gott in Gestalt eines Sterns, eine bedeutungsvolle
Figur aus Lichtpunkten, eine herrliche Gestalt in köstlichem Ge-
Paranoide Formen. 195
wände, die Mutter Gottes, Engel mit goldenen Flügeln, welche eine
Königskrone tragen, das Christkind, welches ihn an der Hand führt,
ihm die Weltkugel überreicht, den Kaiser mit einer strahlenden
Sonne. Dabei hört er eine Stimme, die in mehr oder weniger
klaren Ausdrücken ihm seine hohe Sendung verkündet: „Das ist
mein lieber Sohu, an dem ich Wohlgefallen habe", „Dir sind Deine
Sünden vergeben" und dergl. Bisweilen wiederholen sich solche
Erlebnisse mehrmals in längeren Zwischenräumen. Auch die Sinnes-
täuschungen gewinnen vielfach einen angenehmen Inhalt. Gott selbst
spricht zum Kranken, ernennt ihn zum Kaiser Rothbart, schenkt
ihm riesige Summen, verheirathet ihn mit einer Prinzessin.
Dazu gesellen sich sehr häufig eigenthümliche Wahrnehmungen
nicht sinnlicher Natur, die als „Gewissensstimmen", als „innere
Stimmen, die nicht mit Worten sprechen", bezeichnet werden. Durch
sie erfährt er, dass er besonders begnadet, Christus oder Braut
Christi, ein gewaltiger Menschengeist ist, von den höchsten Persön-
lichkeiten geliebt, alle Kämpfe siegreich überstehen, die Bürgerkrone
für das Land erringen werde. Gerade diese Ofifenbarungen pflegen
für ihn eine besonders grosse überzeugende Kraft zu haben. „Ich
habe unzählig viele und gar keine Beweise," sagte mir eine der-
artige Kranke. Ausserdem werden indessen auch wirkliche Wahr-
nehmungen einfach von dem Kranken im Sinne seiner Ideen ver-
arbeitet. Zunächst weiss er freilich vielfach noch nicht, was alles
bedeuten soll, ist aber sicher, dass es ihm später klar werden
wild. Ein Besuch aus der Hauptstadt hängt mit seiner Berufung
auf den Thron zusammen; der Geistliche auf der Kanzel legt seine
Sachen aus; in den Büchern w-eist alles auf ihn hin. Wenn er
betet, so strömt fruchtbarer Regen herab, oder der umwölkte Himmel
klärt sich plötzlich auf, sobald er auf die Strasse tritt. Erinnerungs-
fälschungen erwecken in dem Kranken die Vorstellung, dass ihm
von Gott alles im voraus verkündet werde, was sich ereignet.
Während der Entwicklung dieser Wahnbildungen, die sich in
einigen Monaten oder Jahren zu vollziehen pflegt, bleiben die Kranken
besonnen, orientirt und im ganzen geordnet. Sie sind, namentlich im
Anfange, recht wol im Stande, ihre Ideen zusammenhängend darzu-
legen, zu begründen, Einwände zu bekämpfen; es ist „Methode" im
Wahnsinn. So verlangte ein Kranker als Entschädigung für seine
Gefangenhaltung einfach die Civilliste des Königs, indem er aus-
13*
196 V. Die Dementia praecox.
führte, dass die Yerueinung des Rechtes auch nur einem einzigen
TJnterthanen gegenüber die thatsächliche Absetzung des Königs als
des Hortes der Gerechtigkeit bedeute; er, der Geschädigte, habe
demnach zu fordern, was der König durch Zulassen des Unrechts
freiwillig aufgebe. Späterhin aber treten immer deutlicher die
Zeichen der geistigen Schwäche hervor. Die Wahnvorstellungen
werden unsinniger, zusammenhangslos, widerspruchsvoll, bald ein-
förmig, bald vielfach wechselnd. Der Gedankengang wird ver-
schroben, unklar, verworren und schliesslich nicht selten ganz un-
verständlich. Oefters besteht wenigstens zeitweise ein gewisses
Krankheitsgefühl; die Kranken klagen, dass sie verändert, arbeits-
unfähig, aufgeregt seien. Niemals aber besitzen sie das geringste
wirkHche Yerständniss für die Krankhaftigkeit ihrer Wahnbildungen,
auch wenn sie einmal auf starkes Drängen zugeben, dass möglicher-
weise Krankheit, „Nervosität", mitspielen könne. „Mich mit dem
Irrenhause in einem Wort zu nennen, ist geradezu eine quadratische
Yerkehrtheit", schrieb ein Kranker. Vielmehr werden auch jene
selbstempfundenen Krankheitszeichen nur als die Folgen feindliche]-
Einwirkungen betrachtet. Jeder Versuch, den Kranken von der
Irrthümlichkeit seiner Ideen zu überzeugen, indem man ihn dorthin
führt, wo er seine Verfolger vermuthet, bleibt gänzlich erfolglos, da
er den Stimmen entnimmt, dass man für seinen Besuch zeitweilig
alles Verdächtige bei Seite geräumt habe.
Die Stimmung der Kranken ist im Beginne der Krankheit
meist eine niedergeschlagene, ängstliche oder feindselig -gereizte.
Späterhin pflegen mehr gehobene Gefühle hervorzutreten, bald im
Sinne eines selbstgefälligen Hochmuthes, bald in demjenigen einer
verzückten Schwärmerei; auch süsslich- erotische Stimmungen sind
nicht selten. Vorübergehend werden lebhafte Angstzustände sowie
Ausbrüche von Ausgelassenheit oder Reizbarkeit beobachtet. In
einzelnen Fällen sah ich auch länger dauernden Stupor mit Anfällen
zorniger Erregung auftreten.
Das Handeln der Kranken wird, wie es scheint, vielfach durch
die Wahnvorstellungen bestimmt. Es kommt zu Fluchtversuchen,
planlosen Reisen, unvermittelten gefährlichen Angriffen auf die ver-
meinthchen Feinde, auf Angehörige, Nachbarn oder selbst wild-
fremde Personen, zu Nahrungsverweigerimg aus Vergiftungsfurcht
und vielfach auch zu Selbstmordversuchen. Andere Kranke wenden
Paranoide Formen. 197
sich an die Behörden und schliesslich an die Oeffentlichkeit, machen
ihrer Erbitterung in Zeitungsanzeigen, Maueranschlägen, offenen
Briefen, Flugschriften*) Luft, in denen sie das schändliche Treiben
ihrer Feinde in gebührender Weise brandmarken. Oder aber sie
unternehmen irgend eine recht auffallende That, um die allgemeine
Aufmerksamkeit auf ihre verzweifelte Lage zu lenken.
Viele Kranke verfallen auf allerlei Massregeln der Selbsthülfe,
die ihnen einigermassen Ruhe vor den Verfolgern schaffen. Nament-
lich sind es eigenthümliche Geberden, Abwehrbewegungen, bestimmte,
oft sehr verzwickte Stellungen, die längere Zeit hindurch eingehalten
werden müssen, ferner das „innere Sprechen", die unablässige Wieder-
holung gewisser Worte, mit Hülfe deren sie sich vor den feind-
seligen Beeinflussungen schützen. Mitunter werden auch Misshand-
lungen, ja Verstümmelungen des eigenen Körpers zum gleichen
Zwecke unternommen. Andere Kranke fühlen sich genöthigt, den
Stimmen laut und nachdrücklich zu antworten, und führen daher
in ihrer geordneten Thätigkeit, auch des Nachts, schimpfende Selbst-
gespräche. Oder sie verstopfen sich die Ohren, umwickeln den Kopf
mit Tüchern, halten die feindlichen Giftpfeile und Lichtblitze durch
grosse Schirme oder Masken von sich ab. Gegen die elektrischen
und telepathischen Beeinflussungen helfen Drähte, die um die Bett-
stelle gezogen sind, ferner selbstgeschnitzte, phallusartige Amulette.
Merck lin hat einen vielleicht hierher gehörigen Kranken be-
schrieben, der zu diesem Zwecke eine aus altem Blechgeschirr ge-
fertigte Rüstung im Gewichte von 12 Kilogramm trug, auf dem
Kopfe eine Kasserolle; ein anderer hatte sich die Bewegung der
Arme selbst durch einen Ledergürtel mit Schlingen beschränkt, um
dem von seinen Feinden erzeugten Antriebe zum Zerkratzen des
Gesichtes widerstehen zu können.
Die Grössenideen können den Kranken dazu führen, dass er seine
Arbeit aufgiebt, weil sie seiner nicht mehr würdig ist, sich hoch-
trabende Titel beilegt, sich in auffallender Kleidung zeigt, die ersten
Schritte zur Erfüllung seiner göttlichen Sendung unternimmt. Er
predigt öffentlich, unterbricht den Geistlichen in der Kirche, greift
*) Wollny, Ueber Telepathie, 1888; Sammlung von Actenstücken, 1888;
Teffer, Ueber die Thatsache des psycho -sexualen Contactes oder die actio in
Distans, 1891.
198 V. Die DemeDtia praecox.
ihn an, lässt sich durch Eingebungen und göttliche Stimmen leiten.
Die Zunge wird ihm gezogen, dass er sprechen muss, was ihm der
Geist eingiebt; ohne oder sogar gegen seinen Willen muss er gräss-
liche Schreie ausstossen ; sein Arm wird ihm geführt, wenn er schreibt
oder den Kampf in heiliger Sache aufnimmt. Weibliche Kranke
suchen nach ihrem Seelenbräutigam, den sie in allerlei Verkleidungen
immer wiederfinden, und kommen so zu geschlechtlichen Aus-
schweifungen.
Das Benehmen der Kranken kann im Anfange ein ganz ge-
ordnetes sein. Im Verlaufe der Krankheit jedoch pflegen mehr und
mehr Wunderlichkeiten und Verschrobenheiten hervorzutreten, Ge-
sichterschneiden, merkwürdige Geberden und Gewohnheiten, gespreizte
Bewegungen, Manieren beim Handgeben, Essen, Gehen, Sprechen,
Andeutimgen von Negativismus. Die Kranken sprechen hochdeutsch,
in geschraubten Wendungen, mit selbsterfundenen Wörtern, lieben
Wortspielereien und Reimereien; es kann sogar zu völliger Sprach-
verwirrtheit kommen. Aehnlich verhalten sich die bisweilen sehr
zahlreichen und stereotypen Schriftstücke mit ihren absonderlich
verschnörkelten Schriftzügen und ihrer oft kaum verständlichen
ßechtschreibung. Ein Schuhmacher suchte aus der Zeitung alle
möglichen fremdsprachigen Ausdrücke heraus und verflocht sie mit
selbsterfundener Bedeutung in seine Erlasse als „himmlischer Arzt'':
so fügte er seiner Unterschrift immer die Worte bei: „Semperfideiis
Sjrp-hilis", mit dem Sinne: „Also soll es geschehen". Zu selbst-
ständiger, geordneter Thätigkeit pflegt auf der Höhe der Krankheit
weder Neigung noch Fähigkeit vorhanden zu sein.
Der Verlauf der Krankheit nimmt in der Regel einige Jahre
in Anspruch. Wenn man will, kann man dabei verschiedene Ab-
schnitte auseinanderhalten, denjenigen der einleitenden Verstimmung,
die Ausgestaltung der Verfolgungsideen, ferner die sogenannte
„Transformation" des Wahnes, das Auftreten von Grössenvorstellungen,
welches die beginnende psychische Schwäche anzukündigen scheint,
und endlich das Schwinden oder den Zerfall der Wahnbildungeu.
Bisweilen scheinen sich auch hier vorübergehende Nachlässe der
Krankheitserscheinungen einzustellen, die den Remissionen der Kata-
toniker vergleichbar sind.
Magnan*) hat an diesen Entwicklungsgang die Aufstellung
*) Psychiatrische Vorlesungen, deutsch von Möbius, Heft 1, 1891.
Paranoide Formen. 199
einer eigenen psychischen Krankheitsform geknüpft, des „delire
chronique ä Evolution systematique" (Paranoia completa,
Mob ins). Unter dieser Bezeichnung fasst er alle diejenigen Fälle
chronischer "Wahnbildung zusammen, bei welchen auf die Vorbe-
reitung unter dem Eintritte von Sinnestäuschungen verschiedener
Art eine Zeit der Yerfolgung, dann eine solche der Grössen-
vorstellungen und endlich der Schwachsinn folgt. Die Dauer der
einzelnen Abschnitte und die Schnelligkeit, mit der sie einander
ablösen, kann dabei eine sehr verschiedene sein. Gerade die hier
beschriebenen Formen würden etwa der Schilderung Magnan's
entsprechen. Die später zu beschreibende Paranoia wäre voll-
ständig davon abzutrennen; sie gehört nach seiner Ansicht zu
einer wesentlich anderen Gruppe von Psychosen, zum „Irresein
der Entarteten". Wenn ich auch selbst diese Abgrenzung hier
versucht habe, möchte ich doch darauf hinweisen, dass sich die
Eintheilung in bestimmte Abschnitte bei unseren Kranken viel-
fach nur sehr künstlich durchführen lässt, dass es ferner hier
Fälle ohne Grössenwahn giebt, und dass bei der Paranoia die-
selbe Verbindung von Kleinheitsideen mit Grössenvorstellungen
stattzufinden pflegt wie hier. Endlich aber muss mit Entschieden-
heit darauf hingewiesen werden, dass sich unter denjenigen
Kranken, auf welche Magnan's Beschreibung passt, namentlich
unter denen mit physikalischem Verfolgungswahn, zum mindesten
ebenso viele deutlich „Degenerirte'' finden, wie unter den Queru-
lanten und Verrückten, deren Psychose er dem Irresein der Ent-
arteten zurechnet.
Den Ausgang des Leidens bildet regelmässig die psychische
Schwäche. In einer kleineren Anzahl von Fällen treten nach einer
Reihe von Jahren die Wahnvorstellungen allmählich vollständig
zurück; es kann sogar zu einer gewissen Einsicht in die Krank-
haftigkeit derselben kommen. Dagegen bleibt immer eine erhebliche
Einbusse an geistiger Leistungsfähigkeit zurück, Schwäche des Ge-
dächtnisses und des Urtheils, gemüthliche Stumpfheit, Verlust der
Thatkraft und der Regsamkeit. Oder aber die Kranken halten noch
an ihren Wahnvorstellungen fest, werden aber gleichgültig dagegen
und erzeugen keine neuen mehr. Hier pflegen die krankhaften
Vorstellungen mehr und mehr zu verblassen und nur vereinzelt
und gelegentlich noch emporzutauchen. Die Kranken sprechen von
200
V. Die Dementia praecox.
ihnen wie von anderen, fernliegenden Dingen und ziehen keine
Folgerungen mehr daraus. Der „rex totius mundi" beschäftigt sich
mit Gartenarbeit, der „Herrgott" mit Holztragen, die „Braut Christi"
mit Nähen und Flicken. Am häufigsten jedoch scheint die Krank-
heit zu wahnhafter Verworrenheit zu führen. Die krankhaften Yor-
stellungen werden zusammenhangsloser und unverständlicher, zer-
fahrener; Absonderlichkeiten im Handeln und Benehmen treten
immer zahlreicher hervor, so dass schliesslich die Ordnung der Ge-
danken wie die äussere Haltung vollständig verloren geht. Er-
regungszustände und Neigung zu Gewaltthätigkeit sind hier nicht
selten. Späterhin kann mit dem Fortschreiten der Verblödung ein
ruhiger, faseliger Schwachsinn zu Stande kommen, bei dem von den
ursprünglichen Wahnbildungen höchstens noch kümmerliche Reste
aufzufinden sind. —
Die Dementia praecox ist im allgemeinen eine Erkrankung der
jugendliclieren Lebensalter. Die obenstehende Zeichnung stellt die
procentische Vertheilung von 296 Fällen auf die einzelnen Lebens^
Ursachen. 201
jahrlünfte dar. Mehr als 60% der Fälle beginnen demnach vor dem
25. Lebensjahre. Dazu ist indessen zu bemerken, dass sich die
einzelnen Gruppen des ganzen Gebietes etwas verschieden verhalten.
Von den einfach hebephrenischen Formen fallen 72, von den kata-
tonischen 68 und von den paranoiden nicht ganz •AC/o vor das
25. Lebensjahr. Der Krankheitsvorgang scheint sich demnach in
jugendlichem Alter am häufigsten in Form einer einfachen, meist
allmählich auftretenden Verblödung abzuspielen, während etwas
später mehr die acuten und subacuten Formen mit katatonischen
Erscheinungen und noch später die ausgeprägteren "Wahnbildungen
in den Vordergrund treten. Irgend eine brauchbare Erklärung für
diese Unterschiede aufzufinden, ist mir bisher trotz aller Bemühungen
nicht gelungen.
Auf die nahen Beziehungen der Hebephrenie zu den Entwick-
lungsjahren, wie sie durch den Namen des „Jugendirreseins" ange-
deutet wird, hat schon Hecker seinerzeit hingewiesen. Er war
sogar geneigt, die Ausgänge seiner Hebephrenie geradezu als ein
Stehenbleiben desgesammten psychischen Lebens auf der Entwicklungs-
stufe der Pubertätsjahre zu betrachten. Wenn gegen diese Auffassung
auch die Häufigkeit tiefer Verblödung spricht, welche eben einen
Rückschritt, nicht einen einfachen Stillstand der geistigen Aus-
bildung darthut, so finden wir doch in dem vorzeitigen Schwach-
sinn viele Züge wieder, die uns aus den gesunden Entwicklungs-
jahren wohlbekannt sind. Dahin gehört die Neigung zu unpassender
Leetüre, die naive Beschäftigung mit den „höchsten Problemen", die
unreife „Schnellfertigkeit" des Urtheils, die Freude an Schlagwörtern
und klingenden Redensarten. Schon bei einer früheren Gelegenheit
wurde ferner darauf hingewiesen, dass sich im Entwicklungsalter gewisse
psychische Wandlungen vollziehen, die wir vielleicht als das gesunde
Vorbild leichter manischer Erregungen betrachten dürfen. Der unver-
mittelte Stimmungswechsel, die Niedergeschlagenheit und Ausgelassen-
heit, die gelegentliche Reizbarkeit und Triebartigkeit der Entwick-
lungsjahre begegnen uns beim vorzeitigen Schwachsinn in schärferer
Ausprägung, die vielfach geradezu an manische Zustände erinnert.
Auch die Abgerissenheit der Gedankengänge, das bald gespreizte,
grosssprecherische, bald verlegene, scheue Wesen, das alberne
Lachen, die läppischen Scherze, die gezierte Sprechweise, die gesuchte
Derbheit und die gewaltsamen Witze sind Erscheinungen, welche
202 ^- I^ie Dementia praecox.
beim Gesunden wie beim Kranken auf jene leichte innere Erregung
hindeuten, mit welcher die Umwälzungen der Geschlechtsentwicklung
einherzugehen pflegen.
Die beiden Geschlechter sind an der Dementia praecox in
gleichem Maasse betheiligt. Dagegen überwiegen bei den hebe-
phrenischen Formen die Männer mit 64 "/o, bei den katatonischen
und paranoiden Formen dagegen die Frauen mit 58 und 59*^/0.
Diese Erfahrung wird durch den Umstand noch näher beleuchtet,
dass anscheinend gewisse ursächliche Beziehungen zwischen dem
Fortpflanzungsgeschäfte beim Weibe und namentlich der Katatonie
bestehen. Nicht nur fanden sich bei etwa 18"/(, der erkrankten
Frauen Menstruationsstörungen, sondern in 247o der Fälle ent-
wickelte sich die Katatonie geradezu während der Schwangerschaft
oder, häufiger, im Anschlüsse an das Wochenbett. Einmal knüpften
sich die vier Schübe, in denen die Krankheit verlief, je an eine
Geburt an, bis der letzte die endgültige Verblödung brachte. In
einem anderen Falle begann die Krankheit ebenfalls im Wochen-
bette, um nach einer längeren Remission mit dem Eintritte neuer
Schwangerschaft in schwerem Rückfalle zu enden. Bei den hebe-
phrenischen Erkrankungen waren derartige Erfahrungen ungleich
seltener; ich konnte sie nur in etwa 9**/o verzeichnen.
Von sonstigen Ursachen der Dementia praecox ist wenig zu
berichten. Bei etwa 10 — ll^lo meiner Kranken waren dem Leiden
schwere acute Krankheiten voraufgegangen, am häufigsten Typhus
oder Scharlach. In der Regel waren allerdings bis zum Auftreten
der psychischen Störung viele Jahre vergangen, so dass von einem
unmittelbaren Zusammenhange keine Rede sein konnte. Hie und
da jedoch wurde angegeben, dass seit der körperlichen Erkrankung
schon eine gewisse Veränderung an dem Kranken bemerkt worden
sei, grössere Reizbarkeit, Herabsetzung der geistigen Leistungsfähig-
keit, auffallende Ermüdbarkeit. In einzelnen Fällen wurde über
Hirnentzündungen in der Jugend berichtet, nicht ganz selten auch
über Kopfverletzungen; dieselben sind jedoch überhaupt so häufig,
dass sie für ursächliche Feststellungen nur ganz ausnahmsweise zu
verwerthen sind. Der Alkoholmissbrauch scheint für die Entstehung
der Dementia praecox keine Bedeutung zu haben, wol aber viel-
leicht die Gefangenschaft. Mehr als 3o/o meiner Kranken oder 60/0
der Männer erkrankten im Gefängnisse, nicht immer in Einzelhaft.
Ursachen. 203
Hier und im Woclienbette handelte es sich vorzugsweise um acute
und subacute Formen; die Gefangenschaft begünstigte das Aufti-eten
paranoider, das Wochenbett dasjenige katatonischer Krankheitsbilder.
Erbliche Veranlagung zu Geistesstörungen fand sich in etwa
IO^Iq derjenigen Fälle, in denen über diesen Punkt verwerthbare
Angaben vorlagen. Von den einzelnen Gruppen schienen die hebe-
phrenischen Formen etwas weniger, die paranoiden dagegen noch
stärker durch erbliche Veranlagung beeinflusst zu werden. Einmal
sah ich zwei Geschwister unabhängig von einander mit ganz den-
selben unsinnigen Wahnbildungen erkranken. In etwa 20% der
Fälle waren von Jugend auf allerlei Eigenthümlichkeiten des Wesens
bemerkt worden, Verschlossenheit, Aengstlichkeit, SchruUenhaftigkeit
Reizbarkeit, JS'eigung zu übertriebener Frömmelei oder zum Ver-
brechen. Auch körperliche Entartungszeichen fanden sich öfters,
Kleinheit oder Verbildungen des Schädels, kindlicher Habitus,
mangelhafte Zähne, verbildete Ohren, Strabismus, überzählige Brust-
warzen, allgemeine Schwächlichkeit, ferner die Andeutungen eines
leicht erregiichen Gehirns, Delirien bei geringem Fieber, Zahn-
krärapfe in der Jugend, geringe Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol,
sehr früh sich regender, mangelnder oder widernatürlicher Geschlechts-
trieb. Die ursprüngliche geistige Begabung w^ar in 60% der Fälle
eine gute; 17"/o der Kranken wurden sogar als vorzüglich veranlagt
geschildert. Ein Drittel der Kranken war leidlich oder massig be-
gabt, nur 7<^/o geradezu schlecht oder von Jugend auf schwachsinnig.
Das eigentliche Wesen der Dementia praecox ist gänzlich dunkel.
Am verbreitetsten ist wol zur Zeit die Ansicht, dass wir es hier
mit dem allmählichen Versagen einer unzulänglichen Anlage zu thun
haben. Wie ein Baum, dessen Wurzeln im vorhandenen Erdreiche
keine Nahrung mehr finden, so sollen die geistigen Kräfte schwinden,
sobald die ungenügende Mitgift eine weitere Entfaltung nicht mehr
gestattet. Allein gegen diese Auffassung erheben sich sehr gewichtige
Bedenken. Es ist nicht zu verstehen, warum ein Organismus, der
sich bis dahin meist in gesunder, öfters sogar in kräftiger Weise
entwickelt hat, ohne besondere Ursache mit einem Male nicht nur
in seiner Fortbildung Halt machen, sondern vielfach geradezu dem
Siechthume verfallen soll. Selbst die schwerste krankhafte Veran-
lagung durch Geisteskrankheit bei Vater oder Mutter, wie sie bei
der Dementia praecox in 18 — lO'^/o vorkommt, würde einen der-
204 V. Die Dementia praecox.
artigen Vorgang nicht zu erklären vermögen. Im Gegentheil sehen
wir bei den anerkannt auf dem Boden der erblichen Entartung
erwachsenden Geistesstörungen regelmässig nicht den raschen
geistigen Verfall wie hier, sondern vielmehr dauernde krank-
hafte Zustände von sehr langsamer Entwicklung oder periodische
Erkrankungen.
Wir werden durch diese üeberlegungen unmittelbar zu der
Annahme gedrängt, dass es sich hier um einen greifbaren Krank-
heitsvorgang im Gehirn handeln muss. Thatsächlich haben sich
auch in den verhältnissmässig wenigen Fällen, die mit zuverlässigen
Hülfsmitteln genauer untersucht wurden, Veränderungen nachweisen
lassen, die kaum eine andere Erklärung zulassen. Erst dadurch
Avird der oft so ungemein rasche geistige Verfall überhaupt ver-
ständlich. Wir kommen somit zu dem Schlüsse, dass in der Dementia
praecox höchst wahrscheinlich eine theilweise Schädigung oder Ver-
nichtung von Hirnrindenzellen stattfindet, die sich in einzelnen
Fällen wieder ausgleichen kann, meist aber eine eigenartige, dauernde
Beeinträchtigung des Seelenlebens nach sich zieht. Durch welchen
Krankheitsvorgang diese Störungen herbeigeführt werden, wissen wir
zur Zeit ebenso wenig wie bei der Idiotie oder Epilepsie. Immer-
hin sprechen die bisherigen Rindenbefunde wol am meisten für die
Annahme einer chemischen Schädlichkeit. Bei der nahen Beziehung
der Krankheit zum Entwicklungsalter, zu Mensü-uationsstörungen,
zum Fortpflanzungsgeschäfte, bei dem Fehlen jeder erkennbaren
äusseren Ursache liegt es wol am nächsten, an eine Selbstver-
giftung zu denken, die möglicherweise in irgend einem näheren
oder entfernteren Zusammenhange mit Vorgängen in den Geschlechts-
organen stehen könnte. Gerade in dieser Beziehung ist die Er-
fahrung lehrreich, dass auch manche Idioten und Epileptiker zur
Zeit der Geschlechtsentwicklung einen entschiedenen Rückgang ihrer
geistigen Kräfte darbieten. Manche Fälle von hebephrenischen Er-
krankungen bei Imbecillen entsprechen ganz derartigen Erfahrungen.
Unter dieser Voraussetzung würde die Häufigkeit der erblichen
Veranlagung zu Geistesstörungen und deren körperlicher und psy-
chischer Anzeichen nur eine verminderte Widerstandsfähigkeit gegen
die eigentliche Krankheitsursache bedeuten. Aehnlich wäre etwa die
vorbereitende Wirkung acuter Krankheiten und der Gefangenschaft
aufzufassen.
Abgrenzung und Erkennung. 205
Ob die Dementia praecox in dem hier umschriebenen Umfange
eine einheitliche Krankheit darstellt, muss vor der Hand zweifelhaft
bleiben. Sie würde etwa 14 — 15®/o aller Aufnahmen in die Irren-
anstalt umfassen, wenn wir je 5 — ß'^/o auf die hebephrenischen und
katatonischen, den Rest auf die paranoiden Formen rechnen. Es
ist sehr möglich, dass wir es hier mit einer Reihe von ähnlichen
Krankheitsvorgängen zu thun haben, deren gemeinsame Wirkung in
der Schädigung oder Zerstörung bestimmter Rindengebiete liegt.
Heute sind wir indessen ausser Stande, in dieser Fülle verschieden-
artiger Krankheitsbilder irgend welche scharfen Grenzen zu ziehen;
überall finden sich Uebergangsformen zwischen den einzelnen
klinischen Gruppen. Wir wollen daher an dieser Stelle ganz darauf
verzichten, genauer auf die Abtrennung der hebephrenischen, kata-
tonischen und paranoiden Formen untereinander einzugehen. Da-
gegen wird es von hervorragender wissenschaftlicher wie praktischer
Wichtigkeit sein, im einzelnen Falle die Dementia praecox von
anderen Erkrankungen mit wesentlich abweichender Prognose unter-
scheiden zu können.
Bei den hebephrenischen Formen mit langsamer Entwicklung
kann zunächst die Abgrenzung von neurasthenischen Zuständen
in Betracht kommen. Massgebend sind hier vor allem die Zeichen
der psychischen Schwäche, die Unsinnigkeit der hypochondrischen A-
Klagen , die Urtheilslosigkeit, die Unzugänglichkeit gegenüber den ^
beruhigenden Versicherungen des Arztes, die gemüthliche Stumpf- V
heit, das Ausbleiben der Besserung beim Ausspannen, ferner die . ^A
mehr oder weniger deutlichen Erscheinungen der Befehlsautomatie
oder des Negativismus. Auch Sinnestäuschungen und Triebhandlungen "(
sprechen durchaus für Dementia praecox.
Ungemein schwierig kann in den mittleren Lebensjahren öfters die
Abgrenzung der Dementia praecox von der Paralyse werden, wenn keine
entscheidenden körperlichen Zeichen vorhanden sind. Die psychischen
Bilder können einander in hohem Grade gleichen, um so mehr, da auch
in der Paralyse bisweilen allerlei katatonische Zeichen auftreten, Kata-
lepsie, Jidutacismus, Vefbigeration, StereÖlypSn. Allerdings pflegen diese
Erscheinungen hier nicht so mannigfaltig und so eigenartig ausgeprägt
zu sein wie in der Katatonie; auch tritt die einfache Unfähigkeit
und Willensschwäche bei der Paralyse mehr in den Vordergrund
gegenüber der Schrullenhaftigkeit und Unlenksamkeit des Katatonikers ;
\
206 V. Die Dementia praecox.
der geistige Yerfall nimmt beim Paralytiker meist rascher schwere
Formen an. Endlich aber ergeift die Störung hier am stärksten
das Gebiet der Auffassung und Orientirung, namentlich aber des
Gedächtnisses und der Merkfähigkeit, während bei den Kranken mit
Dementia praecox gerade diese geistigen Leistungen im Yerhältnisse
zu der ausgeprägten gemüthlichen Stumpfheit und der Urtheils-
schwäche lange Zeit überraschend gut erhalten bleiben. Die Aus-
bildung von stehenden Manieren macht die Dementia praecox recht
wahrscheinlich, während das Auftreten von Sprachstörung, Pupillen-
starre, Coordinationsstörungen natürlich die Paralyse sichert.
Die Zustände von Benommenheit und Verwirrtheit im Beginne
der Erkrankung pflegen allgemein als Amentia aufgefasst zu werden.
Will man jedoch, wie es hier geschehen ist, die nach Ursache, Er-
scheinungsform und Yerlauf durchaus eigenartigen Erschöpfungs-
psychosen von der wesentlich verschiedenen Dementia praecox ab-
trennen, so ist besonders auf den Negativismus und die Stereotypie
Gewicht zu legen. Auch die Befehlsautomatie in ihren verschiedenen
Gestaltungen pflegt bei der eigentlichen Amentia, wenn auch nicht
ganz zu fehlen, so doch weit schwächer ausgebildet zu sein. Die
Kranken benehmen sich natürlicher, ungezwungener, nicht läppisch
und schrullenhaft. Die Verarbeitung der Wahrnehmungen und
namentlich die Orientirung und Merkfähigkeit sind in der Amentia
weit stärker gestört, als in der Dementia praecox. Jene Kranken
sind trotz besten Willens unfähig, längere zusammenhängende geistige
Aufgaben zu lösen, sich auf einfache Bruchstücke ihres Wissens
schnell zu besinnen, verlieren fortwährend den Faden, ergehen sich
in beziehungslosen Erinnerungen, geben aber auf die einzelne Frage
rasche und zutreffende Antwort. Dagegen liefern die Kranken mit
Dementia praecox zwar oftmals ganz unsinnige oder überhaupt
keine Antworten, können aber plötzlich durch eine geordnete Er-
zählung, eine treffende, von Nachdenken zeugende Bemerkung über-
raschen, bringen vielleicht selbst schwierigere geistige Leistungen zu
Stande, beherrschen geschichtliche und geographische Thatsachen.
Zudem besteht in der Amentia eine ausgeprägte, wenn auch häufig
unvermittelt wechselnde Färbung der Stimmung; die Kranken weinen
und jammern plötzlich lebhaft, sind im nächsten Augenblicke gereizt
und heftig, um dann wieder freundlich zu lachen oder zu singen.
In der Dementia praecox dagegen fällt uns auch während lebhafter
Erkennung. 207
Erregungen meist sehr deutlich der Mangel an tieferer gemüthlicher
Ergrifienheit ins Auge, die Stumpfheit und innere Gleichgültigkeit.
Daher sehen wir auch die Kranken mit Amentia zwar ohne genaues
Verständniss, aber mit lebhafter Aufmerksamkeit den Vorgängen in
der Umgebung folgen, während in der Dementia praecox die Kranken
merkwürdig wenig Theilnahme für dasjenige zeigen, was sie recht
gut aufgefasst und begriffen haben. Dass der Amentia immer, der
Dementia praecox nur hie und da einmal eine erschöpfende Ursache
vorausgeht, soll nur noch kurz erwähnt werden.
Wiederholt ist es mir begegnet, dass ich beginnende Katatonien
für epileptische Dämmerzustände gehalten habe. Die Verwechselung
liegt besonders nahe, wenn etwa ein Krampfanfall voraufgegangen
ist. Einen Anhalt für die Unterscheidung wird der Negativismus
des Katatonikers gegenüber dem ängstlichen Widerstreben des Epi-
leptikers geben können. Auffassung und Orientirung dürften im
epileptischen Dämmerzustande meist schwerer gestört sein, als beim
Katatoniker. Sinnlose Antworten auf einfache Fragen, rasche,
richtige Ausführung von Aufforderungen sprechen mehr für Kata-
tonie. Bei der Epilepsie pflegt sich deutlich die ängstliche oder
verzückte Stimmung kund zu geben; das Handeln ist nicht sowol
triebartig wie durch bestimmte wahnhafte Vorstellungen und Ge-
fühle beherrscht, die auch in den Reden zu Tage treten. Daher
sehen wir den Epileptiker häufiger Angriffe, Fluchtversuche machen,
Gewaltthaten begehen, während die Handlungen des Katatonikers
die Kennzeichen des Sinnlosen, Absonderlichen, häufig auch des
Stereotypen tragen. Natürlich wird dieVorgeschichte meist, der weitere
Verlauf immer die Sachlage rasch klären.
Erhebliche Schwierigkeiten pflegt die Unterscheidung zwischen
einer beginnenden Dementia praecox und dem ersten, depressiven
Anfalle eines manisch-depressiven Irreseins zu bieten. Frühzeitiges
Auftreten zahlreicher Sinnestäuschungen und unsinniger Wahnvor-
stellungen muss immer den Verdacht auf Katatonie erwecken. Die
Stimmung des Katatonikers ist im Zusammenhalt mit dem Inhalte
seiner Wahnvorstellungen auffallend gleichgültig; er nimmt an den
Vorgängen in der Umgebung keinerlei Antheil, begrüsst seine An-
gehörigen nicht, wenn sie ihn besuchen, spricht dabei kein Wort,
verzehrt aber vielleicht mit Gier alles, was sie ihm mitgebracht
haben. In der circulären Depression wird man dagegen niemals
208 ^- Diß Dementia praecox.
innere Angst oder tiefe Traurigkeit vermissen. Besuche können
hier zu plötzlichen Leidenschaftsausbrüchen von ausserordentlicher
Heftigkeit führen und pflegen fast immer einen erheblichen Einfluss
auf den Zustand auszuüben, meist in ungünstigem Sinne.
Yon grosser Wichtigkeit ist es endlich, den Negativismus des
Katatonikers nicht mit dem ängstlichen Widerstreben und der
Hemmung im manisch-depressiven Irresein zu verwechseln. Dort
begegnen wir dem starren Widerstände bei jedem Versuche der
Lageänderung, aber erst bei wirklichem Eingreifen; dagegen werden
einfache oder auch schmerzhafte Berührungen und selbst gefährliche
Bedrohungen (Nadel am Auge) meist ohne stärkere Abwehr ertragen,
und endlich kann der Widerstand von selbst oder unter dem Ein-
flüsse vorsichtigen Zwanges ohne weiteres in Befehlsautomatie über-
gehen. Hier dagegen beginnt das Widerstreben mit der drohenden
Gefahr, gleichviel, ob eine Lageänderung stattfindet oder nicht;
auch nehmen die aus ihrer Stellung gebrachten Glieder nicht mit
unverbrüchlicher Zähigkeit wieder genau die frühere Haltung an.
Zugleich führt jede drohende Annäherung zu lebhaften Gefühls-
äusserungen, zu Aufschreien, Ausweichen, ängstlicher Abwehr. Der
stuporöse Katatoniker bewegt sich meist wenig oder gar nicht, be-
sonders nicht auf Aufforderung. Wenn er aber doch handelt, so
geschieht das ohne erkennbare Verlangsam ung, oft sogar ungemein
schnell, während beim Gehemmten jede einzelne Bewegung langsam
und zögernd zu Stande kommt, wie sich nicht selten schon beim
einfachen Erheben der Arme oder beim Zählen darthun lässt. Auch
hier bleibt freilich manche geforderte Bewegung ganz aus, weil
Angst oder zu starke Hemmung sie unterdrückt ; im letzteren Falle
sieht man häufig wenigstens die Ansätze zu der verlangten Hand-
lung (leise Lippenbewegungen, Zucken in den Fingern), namentlich
wenn die Hemmung allmählich durch kräftiges Zureden überwunden
wird. Umgekehrt kann man beim Katatoniker beobachten, wie der
etwa anfangs auftretende Antrieb unmittelbar darauf unterbrochen,
rückgängig gemacht, vielleicht bei weiterem Zureden sogar in sein
Gegentheil verkehrt wird. In den manisch-depressiven Mischzuständen
kann zwar, wie es scheint, das wichtige Kennzeichen der psycho-
motorischen Hemmung fehlen, so dass die äusserliche Aehnlichkeit
mit dem katatonischen Stupor noch grösser wird. Immerhin dürfte
hier die eigenthümlich lustige Stimmung, die lebhafte Aufmerksamkeit
Erkennung. 209
bei verhältnissmässig starker Denkstörimg, endlich das gelegentliche
zweckvolle, übermüthige Handeln der Manischen gegenüber der
läppischen Heiterkeit, der Gleichgültigkeit, den sinnlosen Bewegungs-
an trieben der Eatatoniker meist die Unterscheidung nicht allzu
schwer machen.
Die Stuporzustände der Paralytiker lassen sich in erster Linie
durch den Nachweis körperlicher Störungen abgrenzen. Ausserdem
aber pflegt die Bewusstseinstr Übung und die Auffassungsstörung
tiefer zu sein; Gedächtniss und Merkfähigkeit sind regelmässig
weit schwerer geschädigt. Die kennzeichnenden katatonischen Er-
scheinungen sind meist nur schwach ausgeprägt. Der Negativismus
zeigt geringe Hartnäckigkeit und beschränkt sich gewöhnlich auf
Mutacismus, Nichtbefolgung von Aufforderungen oder Nahrungs-
verweigerung; Triebhandlungen kommen wesentlich als einzelne Be-
wegungsstereotypen vor, und die schrullenhaften Manieren, die be-
ziehungslosen Antworten, die Sprachverwirrtheit dürften höchstens
andeutungsweise bei der Paralyse beobachtet werden.
Von grosser Wichtigkeit ist es, die Erregungszustände der
Dementia praecox, insbesondere der Katatonie, von manischen An-
fällen zu unterscheiden. Die Besonnenheit ist in der Manie stärker
gestört, als in der Katatonie. Während hier die Kranken auch in der
wildesten Tobsucht meist über ihre Umgebung noch ganz klar sind,
werden ^yiT in den schwersten manischen Erregungen stets einer
erheblichen Störung der Auffassung, des Denkens und der Orien-
tirung begegnen. Andererseits sind die Reden Katatonischer häufig
völlig unsinnig trotz sehr geringer Erregung, während wir das
wenigstens ungefähre Verständniss für die manischen Gedanken-
gänge auch bei heftigster Tobsucht selten ganz verlieren. Da-
zu kommt in der Katatonie das Kleben an einzelnen Ausdrücken
bis zur ausgeprägten Verbigeration, während der manische Gedanken-
gang trotz aller Zusammenhangslosigkeit doch fast immer das Fort-
schreiten von einem Yorstellungskreise zum anderen erkennen lässt.
Auch sinnloses, einförmiges Silbengeklingel spricht entschieden für
Katatonie. Die Aufmerksamkeit des Katatonikers beschäftigt sich
kaum mit der Umgebung, obgleich dieselbe recht gut aufgefasst
wird; der Manische nimmt ungenau und flüchtig wahr, wendet sich
aber jeder neuen Erscheinung zu, die in seinen Gesichtskreis ein-
tritt. Von ihm wird der Arzt sofort angeredet, mit einem Schwall
Eraepelin. Psychiatrie. 6. Anfl. II. Band. 14
210 V- Die Dementia praecox.
von "Worten überschüttet, während der katatonisch Erregte sich gar
nicht um ihn kümmert, in seinem Bewegungsdrange einfach fort-
fährt und nur durch besondere Bemühungen zu einer sinngemässen
Antwort gebracht werden kann. Die Stimmung ist in der Manie
meist lustig gehoben oder gereizt, in der Katatonie läppisch, kindisch
ausgelassen oder gleichgültig.
Zu beachten ist ferner namentlich die Zwecklosigkeit der katatoni-
schen Bewegungen gegenüber dem Beschäftigungsdrange des Manischen,
der regelmässig Beziehungen zur Umgebung sucht. Dort sind die
Bewegungen einförmig, wiederholen sich ungezählte Male in gleicher
"Weise, während sie hier, von wechselnden Eindrücken, Vorstellungen
und Gefühlen abhängig, immer neue Formen anzunehmen pflegen.
Daher spielt sich der Bewegungsdrang des Katatonischen oft auf
kleinstem Räume, etwa in einem Theile des Bettes ab; der Manische
sucht dagegen überall nach Gelegenheit zur Bethätigung, läuft herum,
beschäftigt sich mit anderen Kranken, folgt dem Arzte, treibt den
verschiedenartigsten Unfug. Dazu kommen die Zwangsmässigkeit und
Gespreiztheit der Bewegungen, die Manieren und unsinnigen An-
triebe bei der Katatonie, im Gegensatze zu dem natürlichen und
dem Gesunden viel verständlicheren Benehmen des Manischen. Mit
anderen Worten: In der Manie sind Auffassung, Denken, Orien-
tirung verhältnissmässig stärker gestört, als in der Katatonie, während
hier durch die Krankheit namentlich die gemtithlichen Beziehungen,
das Handeln und der sprachliche Ausdruck in eigenartiger "Weise
geschädigt werden.
Schwere paralytische Erregungen können den katatonischen ausser-
ordentlich ähnlich sein. Abgesehen von der Vorgeschichte, dem Lebens-
alter und den körperlichen Zeichen der Paralyse wird hier nament-
lich auf die tiefe Benommenheit der Paralytiker in solchen Zuständen
Gewicht zu legen sein. Auffassung, Merkfähigkeit, Denken und
Orientirung sind dabei, im Gegensatze zu dem Verhalten der Kata-
toniker, immer erheblich gestört.
Manche Erregungsanfälle der Katatoniker ähneln in hohem
Grade hysterischen Zuständen, namentlich, wenn sie mit allerlei
Krampferscheinungen verbunden sind. Für die Unterscheidung ist
in erster Linie die psychische Schwäche der Katatoniker zu ver-
werthen, die Zerfahrenheit des Gedankenganges, die ürtheilslosigkeit,
die unsinnigen Einfälle und Ideenverbindungen, ihre gemüthliche
Erkennung. 211
Stumpfheit, die Einförmigkeit und Ziellosigkeit ihres Handelns.
Allen diesen Zügen steht die Findigkeit und Ueberlegtheit, die
Launenhaftigkeit und Empfindlichkeit, die berechnende Schlauheit
und planmässige Hartnäckigkeit der Hysterischen gegenüber. Auch
die ungeheuerlichen Wahnbildungen und Sinnestäuschungen der
Katatonischen werden die Entscheidung erleichtern, ebenso natürlich
der weitere Verlauf.
Die vielfachen Wahnbildungon im Yerlaufe der Dementia
praecox geben überaus häufig zu der Diagnose der Paranoia
Yeranlassung. Die grosse Mehrzahl der von anderen Irrenärzten
mit diesem Namen belegten Fälle gehört nach meiner Ueber-
zeugung dem hier gezeichneten Krankheitsbilde an, vor allem
natürlich den paranoiden Formen. Ich stütze diese Auffassung auf
die Erfahrung, dass diese Zustände entweder nach verhältnissmässig
kurzer Zeit regelmässig in einfachen Schwachsinn ohne nennens-
werthe "Wahnvorstellungen oder in Yerworrenheit übergehen, bei
der von irgend einem „System" meist ebenso wenig die Rede sein
kann wie von dauerndem Festhalten der gleichen Ideen. In diesen
Sätzen liegen schon die wesentlichsten Anhaltspunkte für eine Ab-
trennung der Paranoia von der Dementia praecox. Bei der eigent-
lichen Paranoia entwickeln sich die Wahnvorstellungen immer ganz
alimählich, im Laufe von Jahren, hier sehr häufig innerhalb einiger
Monate, unter ausgesprochener trauriger oder ängstlicher Verstimmung,
öfters auch ganz plötzlich mit dem Auftreten zahlreicher Sinnes-
täuschungen, üeberhaupt spielen diese letzteren bei der Dementia
praecox eine sehr grosse Rolle, während sie bei der Paranoia gegen-
über der wahnhaften Yermuthung und Deutung meist ganz im
Hintergrunde stehen. Die rasch hereinbrechende geistige Schwäche
macht sich hier in der Unsinnigkeit der Wahnbüdungen bemerkbar,
die bald über jede Möglichkeit hinausgehen. Die Kranken empfinden
keine Widersprüche mehr, haben gar nicht das Bedürfniss, den Wahn
mit ihrer bisherigen Weltanschauung in Einklang zu bringen; ihre
Gedankengänge werden verworren, zusammenhangslos. In der
Paranoia dagegen ist der Wahn w^esentlich eine krankhafte Deutung
und Auslegung wirklicher Ereignisse. Die Widersprüche mit der
sonstigen Erfahrung werden empfunden und ebenso wie nahe liegende
Einwände durch besondere Gedankenarbeit ausgeglichen. Der innere
Zusammenhang des gesunden wie des wahnhaften Denkens bleibt
14*
212 ^- Diö Dementia praecox.
bis an das Ende des Kranken erhalten. In der Dementia praecox
verschwinden die Wahnbildungen vielfach oder werden durch andere
abgelöst. Beim Paranoiker bleibt der Kern des "Wahnes immer
derselbe; nur können sich an denselben im Laufe der Zeit all-
mählich weitere, in derselben Richtung liegende Vorstellungen an-
schliessen, jedoch ohne Widerspruch und ohne Verlust früherer
wahnhafter Erkenntnisse.
Die äussere Haltung und die geistige Leistungsfähigkeit
pflegt in der Dementia praecox schon nach kurzer Zeit em-
pfindlich zu leiden; vielfach stellen sich Stereotypen und
Manieren ein, schliesslich bisweilen selbst völlige Sprachverwirrtheit
mit Wortneubüdungen. Dem gegenüber bewahrt der Paranoiker
äusserlich stets die Haltung des Gesunden, bleibt nicht selten auf
einzelnen Gebieten noch recht leistungsfähig, wenn auch ein all-
mählicher Rückgang der geistigen Fähigkeiten nicht zu verkennen
ist; er bietet niemals katatonische Zeichen dar und bleibt in Reden
und Handeln andauernd vollkommen geordnet. In der Dementia
praecox endlich begegnen wir unvermitteltem Wechsel des Zustandes,
ängstlichen oder heiteren Erregungen, Stuporzuständen, Remissionen
aller Krankheitszeichen. Dagegen verläuft die Paranoia ganz gleich-
massig oder doch mit nur sehr geringfügigen Schwankungen, die
nach Inhalt und Dauer in engster Beziehung zu den Wahnvor-
stellungen stehen; Nachlässe kommen wol durch allmähliches
Verblassen der leidenschaftlichen Gefühlsbetonungen, nicht aber durch
Schwinden der Wahnvorstellungen zu Stande.
Die Endzustände der Dementia praecox können unter Um-
ständen als Imbecillität aufgefasst werden. Wo die deutlichen
Zeichen früherer Krankheitsvorgänge noch erkennbar sind, Sinnes-
täuschungen, Wahnbildungen, katatonische Erscheinungen, wird
freilich die Entscheidung leicht sein. Schwierig dagegen kann sie
ohne Kenntniss der Vorgeschichte werden, wenn entweder ein ganz
einfacher Schwachsinn zurückgeblieben ist, oder wenn schon von
Jugend auf ein gewisser Grad geistiger Schwäche bestanden hat,
der durch die hebephrenische Erkrankung nur eine Steigerung er-
fuhr. Im allgemeinen wird uns das Verhältniss der vorhandenen
Kenntnisse zu der augenblicklichen geistigen Leistungsfähigkeit zum
richtigen Verständnisse des einzelnen Falles führen. Wo sich heraus-
stellt, dass der Kranke sich früher Wissen und Fertigkeiten erworben
Behandlung. 213
hat, zu deren Aneignung er zur Zeit gänzlich unfähig erscheint,
muss eben ein Krankheitsvorgang zerstörend in das geistige Leben
eingegriifen haben. Oft gelingt es dann auch nachträglich, durch
Schulzeugnisse, Aufsätze, Briefe aus früherer Zeit den bestimmten
Nachweis eines mehr oder weniger deutlichen Rückganges der
geistigen Leistungsfähigkeit zu führen. —
Da wir die eigentlichen Ursachen der Dementia praecox nicht
kennen, wird die Behandlung derselben nur die Bekämpfung der
einzelnen Krankheitserscheinungen zur Aufgabe haben. Im Beginne
ist bei den acut und subacut entstehenden Fällen zur Verhütung
von Unglücksfällen und Selbstmorden meist die Yerbriugung in die
Anstalt geboten. Bettruhe, Ueberwachung, Sorge für Schlaf und
Nahrungsaufnahme sind hier die wichtigsten Erfordernisse. Bei den
Erregungszuständen sind Dauerbäder am Platze, während bei aus-
geprägter katatonischer Tobsucht unter Umständen durch die plan-
mässige Anwendung feuchter "Wicklungen raschere und nachhaltigere
Beruhigung erzielt wird. Schlafmittel und Narkotica nützen hier in
der Regel wenig; höchstens kann man Hyoscin oder Sulfonal wurf-
weise versuchen. In einzelnen Fällen wird übrigens schon durch
einfaches Zureden wenigstens vorübergehend Beruhigung herbei-
geführt. Während der Stuporzustände tritt die Sorge für Rein-
haltung und Ernährung der Kranken in den Vordergrund. Gar
nicht selten zwingt die anhaltende Nahrungsverweigerung zur Sonden-
fütterung; regelmässige, häufige "Wägungen sind dabei unerlässlich.
Der Gefahr vielfacher absichtlicher und unabsichtlicher Selbstver-
letzungen lässt sich durch die Anwendung von Polsterbett oder
Polsterzimmer einigermassen begegnen; trotzdem aber entstehen
immer noch oft genug Hautabschürfungen, Quetschungen, Furunkel
u. s. f., die dann eine sehr sorgfältige und meist ungemein schwierige
Behandlung erfordern, da die Kranken widerstreben, die Verbände
abreissen, sich immer aufs neue misshandeln.
Sobald die acuten Störungen zurücktreten, gilt es, nach Möglich-
keit zu erhalten, was die Krankheit nicht zerstört hat. Vielfach wird
nun die Rückkehr in die Familie möglich und sogar zweckmässig
sein, wenn die Verhältnisse einigermassen günstig und wenn nicht
Erregungszustände, Unreinlichkeit, Nahrungsverweigerung und ähn-
liche schwerere Erscheinungen zurückgeblieben sind. Selbst manche
der schwierigeren Kranken halten sich übrigens zu Hause über-
214 ^^- Die Dementia praecox.
raschend gut, so dass man mit Entlassungsversuchen nicht allzu
ängstlich zu sein braucht; bei weiblichen Kranken ist allerdings
immer die Gefahr einer Schwängerung bei mangelhafter Aufsicht
zu beachten. Die grosse Mehrzahl der geistigen Krüppel und Halb-
krüppel nach Dementia praecox sammelt sich allmählich in den
grossen Irren- und Pflegeanstalten an, ja diese Kranken bilden, da
sie nicht rasch absterben und oft ihr ganzes Leben in der Anstalt
zubringen, geradezu die Hauptmasse der versorgungsbe-
dürftigen Irren. Was ihnen noth thut, ist die Beschäftigung,
die allein im Stande ist, sie vor völligem Versinken in Stumpfsinn
zu bewahren. Für sie sind daher vielleicht noch mehr, als für andere
Krankheitsformen, die Irrencolonien mit ihrer mannigfaltigen Be-
schäftigung und der freien, die Selbständigkeit möglichst erhalten-
den Behandlungsart ein kaum genug zu schätzender Segen. Yiel-
fach sieht man hier selbst recht verblödete Kranke doch auf
beschränktem Gebiete, in Feld und Garten, in Yiehstall oder Werk-
statt, beim Abschreiben, Zeichnen, Lesen, beim Kochen, Waschen oder
im Bügelzimmer, bei der Hausarbeit oder in der Nähstube noch
freudig und nützlich den Rest von Fähigkeiten verwerthen, den
ihnen die Krankheit gelassen hat. Bei den ungemein häufig auf-
tretenden Erregungszuständen genügt meist die vorübergehende Ver-
setzung in die Wachabtheilung und Bettruhe.
YI. Die Dementia paralytica.
Aus der Reihe von Geisteskrankheiten, die mit gröberen ner-
vösen Störungen einhergehen und auf eine tiefer greifende, anatomisch
erkennbare Veränderung des G-ehirnes hindeuten, hat sich seit den
Schilderungen Bayles (1822) und Ca'lmeils (1826), namentlich
aber im Laufe der letzten Jahrzehnte ein bestimmtes Krankheitsbild
herausgehoben, dessen Studium wegen der hervorragenden Be-
theiligung des Seelenlebens nicht der Hirnpathologie, sondern vor-
zugsweise der Psychiatrie anheimgefallen ist. In der That hat jene
ausgebreitete und fortschreitende Zerstörung der verschiedensten
Theile des Nervensystems, welche der Dementia paralytica zu Grunde
liegt, so erhebliche und mannigfaltige Veränderungen der psychischen
Leistungen zur Eolge^ dass sie vielfach die wichtigsten Erscheinungen
im Krankheitsbilde darstellen, während man die begleitenden ner-
vösen Störungen sogar lange Zeit hindurch als blosse „Complicationen"
aufzufassen geneigt war.
Das allgemeine klinische Bild der Dementia paralytica*) oder
progressiven Paralyse der Irren („Gehirnerweichung") ist dasjenige
eines fortschreitenden Blödsinns mit sehr mannigfaltigen nervösen
Reizungs- und Lähmimgserscheinungen. Die psychischen wie die
körperlichen Störungen erreichen regelmässig die denkbar höchsten
Grade, wenn nicht vorher ein Zwischenfall dem Leben ein Ende
macht; sie führen zur vollständigen Vernichtung der geistigen und
physischen Persönlichkeit. Vielfach wird dieser Vorgang auch auf
*) Voisiu, traite de la paralysie generale des alienes. 1879; Mendel, Die
progressive Paralyse der Irren. 1880, Mickle, general paralysis of the insane,
2. ed. 1886; v. Krafft-Ebing, Nothnagels specielle Pathologie u. Therapie,
Bd. rS, 2. 1894; Ilberg, Volkmanns klinisch- Vorträge, 161.
216 VI. Die Dementia paralytica.
seelischem Gebiete von mehr oder weniger ausgeprägten Reiz-
erscheinungen begleitet, von Aufregungen, Verstimmungen, Wahn-
bildungen verschiedensten Inhaltes. Was aber allen diesen Störungen den
gemeinsamen Stempel aufdrückt, das ist eine ei gen artige psychische
Schwäche, welche dem Kundigen sofort die verhängnissvolle Grund-
lage des ganzen Krankheitsvorganges verräth.
Auf dem Gebiete der Yerstandestbätigkeit zeigt sich vom
Herannahen der Krankheit an vielfach eine auffallende Erschwerung
der Auffassung und des Verständnisses äusserer Eindrücke, die sich
durch Messungen schon in ihren ersten Anfängen nachweisen lässt.
Der Kranke wird zerstreut, unaufmerksam, nimmt die Vorgänge in
seiner Umgebung nicht mit der früheren Klarheit und Schärfe
wahr, achtet nicht mehr auf Einzelheiten, verwechselt und verkennt
Personen und Gegenstände, übersieht wichtige Umstände oder Ver-
änderungen, die ihm früher nicht entgangen wären, verirrt sich in
ihm sonst bekannten Gegenden. Ich entsinne mich eines Zimmer-
manns, der eines Tages plötzlich den Arbeitsplatz nicht mehr auffand,
auf dem er bis dahin regelmässig beschäftigt gewesen war.
Auch wenn die Störung auf den ersten Blick noch nicht
stärker hervortritt, pflegt sie sich doch in der Unfähigkeit zu
dauernder Anspannung der Aufmerksamkeit geltend zu machen.
Das Verständniss für längere, verwickeitere Gedankengänge, für
feinere Anspielungen und Witze geht dem Kranken verloren; er
vermag Erzählungen nicht mehr in ihrem Zusammenhange zu
begreifen, überhört Theile derselben, bleibt nicht bei der Sache,
verliert den Ueberblick und vermag sich schliesslich selbst im Kreise
seiner gewohnten Verhältnisse und Obliegenheiten nur mit grosser
Mühe oder gar nicht mehr zurecht zu finden.
Auf diese Weise entwickelt sich eine mehr oder weniger aus-
gesprochene Bewusstseinstrübung, und der Kranke lebt nun wie
im Traume oder wie in einem leichten Rausche. Einer meiner Kranken
wurde daher vom Untersuchungsrichter geradezu für betrunken ge-
halten. Oft liefert schon im Beginne des Leidens diese eigenthüm-
liche Benommenheit, welche den Kranken bis zu einem gewissen
Grade der Wirklichkeit entrückt, ein bedeutsames diagnostisches Merk-
mal. Späterhin kann die Desorientirtheit trotz anscheinender Besonnen-
heit in einzelnen Fällen bei oberflächlicher Betrachtung sogar den
Eindruck eines epileptischen Dämmerzustandes machen. Der Kranke
Allgemeine Krankt eitszeichen. 217
versteht wol die an ihn gerichteten Fragen, erzählt ziemlich geordnet,
hat aber keine Ahnung, wo er ist, mit wem er spricht, in welcher
Lage er sich befindet, beachtet die Vorgänge in seiner Umgebung
nicht, sondern lebt in einer ganz anderen Welt. In den letzten
Stadien der Krankheit sinkt dann die Helligkeit des Bewusstseins
dauernd und endgültig auf jene niedrigst möglichen Grade herab,
welche eine Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke völlig
ausschliessen.
Mit zu den ersten Zeichen der Krankheit gehört häufig eine Steige-
rungder Ermüdbarkeit. Dem Kranken fällt die langgewohnte Arbeit
auffallend schwer; er muss häufige, neue Anläufe nehmen, sich aus-
ruhen, fühlt sich nach kurzer Thätigkeit bereits abgespannt und unfähig.
Bei jeder kleinen Schwierigkeit stockt er, verliert leicht den Faden, muss
öfters von vorn anfangen. Nicht selten begegnet es ihm, dass er mitten
in der Arbeit von der Müdigkeit übermannt wird und einschläft.
Eine verhältnissmässig geringe Rolle pflegen in der Paralyse
Sinnestäuschungen zu spielen, so gering, dass man früher bis-
weilen ihr Vorkommen hier überhaupt geleugnet hat. Ohne Zweifel
verläuft wol die Mehrzahl der Fälle ohne solche Störungen; ebenso
unzweifelhaft ist es aber, dass ausgeprägte Trugwahrnehmungen
aller Sinne gelegentlich beobachtet werden. In vereinzelten Fällen
treten Gehörstäuschungen so sehr in den Vordergrund, dass die Er-
krankung zunächst in hohem Grade dem Wahnsinn der Trinker
oder Cocainisten gleichen kann. Bisweilen hört man die Kranken
mit verstellter Stimme auf ihre eigenen Aeusserungen antworten,
so dass eine Art Zwiegespräch mit einer eingebildeten Person zu
Stande kommt, ohne dass es sich jedoch um wirkliche Gehörs-
täuschungen handelt. Vielmehr werden hier Rede wie Gegenrede
von den Kranken laut vorgebracht, während es bei den Unter-
haltungen mit ,,Stimmen" entweder ganz stumm hergeht oder doch
nur die Erwiderungen der Kranken auf ihre hallucinatorischen
Wahrnehmungen dem Hörer zugänglich sind. Gefühlstäuschungen
mit dem Wahne geheimnissvoller Beeinflussung kommen gar nicht
selten zur Beobachtung. Ueberaus lebhafte Gesichtstäuschungen
pflegen bei den Kranken mit Sehnervenatropbie vorzukommen, so
lebhaft, dass die Kranken ihre Blindheit gar nicht bemerken,
sondern sich in einer Welt von bunten, farbenreichen Gesichtsein-
drücken zu bewegen glauben. „Ich kann im Dunkeln sehen,"
218 ^I. Die Dementia paralytica.
antwortete mir ein solcher Kranker entrüstet auf meine Frage,
ob er etwas wahrnehme; dabei war längst jede Spur von Seh-
vermögen erloschen.
Sehr tiefgreifend ist ausnahmslos die Beeinträchtigung, welche
Merkfähigkeit und Gedächtniss erleiden, so dass die Störungen
auf diesem Gebiete als ganz besonders kennzeichnend für die Para-
lyse angesehen werden dürfen. Im Anfange ist es vielleicht die
unsichere und traumhaft verschwommene Auffassung äusserer Ein-
drücke, welche dieselben nur kurze Zeit in der Erinnerung haften
lässt. Der Kranke vergisst daher, im Gegensatze zu dem gewöhn-
lichen Yerhalten des Gedächtnisses, namentlich die Ereignisse der
jüngsten Vergangenheit. Er weiss nicht mehr, was ihm vor
8 Tagen begegnet ist, mit wem er vorgestern spazieren ging, welche
Briefe, welche Arbeiten er zu erledigen hatte, ja er kann sich
schliesslich nicht mehr entsinnen, was er vor einer Yiertelstunde
gethan, ob er den ihn täglich begrüssenden Arzt schon einmal ge-
sehen hat. Das Gefühl dieser Unsicherheit und Yergesslichkeit
führt die Kranken bisweilen dazu, sich über jedes kleine Erlebniss,
jeden Einfall, den sie haben, sofort Aufzeichnungen zu machen, in
denen sie sich freilich später selbst nicht mehr zurechtfinden. Dem
gegenüber können weiter zurück liegende Erinnerungen noch längere
Zeit hindurch fest und lückenlos haften, während der frische Er-
werb sich rasch und spurlos wieder verwischt. Es ist das dieselbe
Erscheinung, der wir auch beim Altersschwachsinn begegnen. Oefters
fiel es mir auf, dass paralytische Frauen auf Befragen ohne weiteres
ihren Mädchennamen nannten und nur mühsam oder gar nicht auf
ihren Ehenamen zu bringen waren.
Besonders rasch geht dem Paralytiker regelmässig die Möglich-
keit einer zeitlichen Ordnung ihrer Erinnerungen verloren.
Da sich dem Kranken die Wahrnehmungen nicht zu jener fest-
gegliederten Kette von Erinnerungsbildern zusammenschliessen, welche
uns rückschauend den Abstand der einzelnen Ereignisse von der
Gegenwart abzuschätzen gestattet, so vermag er namentlich die seit
der Erkrankung gemachten Erfahrungen nicht mehr in einen be-
stimmten Zeitabschnitt der Yergangenheit einzuordnen. Es gelingt
ihm nicht, sich die Aufeinanderfolge seiner Erlebnisse und deren
Zusammenhang untereinander ins Gedächtniss zurückzurufen. Die
Zeitgrenzen verschwimmen in einander und verwischen sich; es
Allgemeine Krankheitszeichen. 219
wird ihm unklar, ob seit einem bestimmten Ereignisse, seit seinem
Eintritte in die Anstalt Monate, Wochen oder Tage verflossen sind.
Schliesslich weiss er weder Wochentag noch Datum, ja oft nicht
einmal die Jahreszahl, „weil er keinen Kalender hat", oder er lässt
sich doch in seinen Angaben ausserordentlich leicht irre machen.
Nicht selten schreibt er z. B. als heutiges Datum Jahr und Tag
seiner Geburt, kann ohne weiteres zu ganz unmöglichen Zusammen-
stellungen („30. Eebruar") verleitet werden. Auch die gewöhnlichen
Hülfsmittel des gesunden Menschen, ein Blick auf die Landschaft,
den Stand der Sonne, die Helligkeit, die Temperatur u. s. f., nützen
ihm nichts, da er sie nicht zu verwerthen versteht. Trotz des ge-
heizten Ofens glaubt er der Yersicherung, dass es Sommer sei, und
die frischen Kirschen auf dem Tische erregen ihm keinen Zweifel
darüber, ob wir uns wirklich im December befinden. Einer meiner
Kranken fragte mich nach mehrmonatlichem Anstaltsaufenthalte
wochenlang tagtäglich von neuem, wo er sich denn eigentlich befinde;
er müsse geschlafen haben, sei vor kurzem aufgewacht und sehe
sich nun in einer ganz fremden Umgebung. Schon nach einer
halben Stunde hatte er die ihm gegebene Auskunft vergessen und
war immer wieder höchlichst erstaunt über die Veränderung, die
sich mit ihm „während des Schlafes" vollzogen haben müsse. Andere
leben so sehr im Augenblicke, dass sie nicht einmal die Tageszeit
mehr auffassen, nicht wissen, ob seit dem Aufstehen kürzere oder
längere Zeit verflossen ist, ob sie schon zu Mittag gegessen haben;
sie kleiden sich Yormittags aus, weil es Zeit zum Zubettgehen sei,
sind gegen Abend entrüstet, dass man ihnen den Kaffee noch nicht
gebracht habe. So hochgradig sind die Störungen freilich nur bei
sehr weit vorgeschrittener Krankheit, aber sie sind doch oft auch
schon im ersten Beginn auffallend genug, um mit grosser Wahr-
scheinlichkeit die Erkennung der Paraljse zu ermöglichen.
Ausser den jüngsten Eindrücken wird nach und nach aber aus-
nahmslos auch der Erwerb der ferneren Yergangenheit mit in
die Gedächtnissstörung hineingezogen. Am leichtesten gehen dem
Kranken Eigennamen verloren, besonders aber Zahlen und Daten.
Während er frühere Erlebnisse inhaltlich noch leidlich gut vorbringen
kann, verwirrt er sich in der zeitlichen Ordnung, verwechselt die
Namen seiner Kinder und wird unsicher im Rechnen, eine Störung,
die namentlich bei Kaufleuten und Beamten oft sehr auffallend
220 ^I- Die Dementia paralytica.
und natürlich auch folgenschwer hervortritt. Bisweilen enthüllen
schon die beiden einfachen Fragen nach Alter und Geburtsjahr diese
Schwäche, indem die Kranken zwei widersprechende Angaben
machen, ohne deren Unvereinbarkeit zu bemerken; der Geburtstag
pflegt fester zu haften, als das Jahr, und wird daher oft zunächst allein
vorgebracht. Auch der hülfesuchende Blick, mit welchem sie sich bei
solcher Gelegenheit nach ihrer Umgebung umsehen, das zögernde Nach-
denken oder die ausweichende Antwort, das sei aufgeschrieben, stehe
im Taufschein, der Herr Doctor wisse es, genügen, um dem kundigen
Arzte sofort die Sachlage klar zu legen.
Unaufhaltsam vollzieht sich nunmehr eine fortschreitende Ver-
armung desVorstellungs Schatzes, welche schliesslich zur völligen
Vernichtung des gesammten geistigen Besitzstandes führt. Natürlich
ist die Schnelligkeit, mit welcher sich dieser Vorgang abspielt, eine
sehr verschiedene. Sie wird wol in erster Linie durch die Art und
Stärke des Krankheitsprocesses bestimmt, dann aber auch durch den
Umfang der persönlichen Leistungs- und "Widerstandsfähigkeit. Die
Reihenfolge, in welcher allmählich der geistige Erwerb verloren geht,
dürfte wesentlich von der Festigkeit abhängen, mit welcher die ein-
zelnen Bestandtheile haften. Stark eingeübte Gedankenverbindungen
widerstehen am längsten; der Kaufmann pflegt später die Herrschaft
über das Einmaleins zu verlieren, als der Bauer; ein junger Hausirer
rechnete kleine Geldsummen noch geläufig zusammen, als er sonst schon
tief verblödet war. Bisweilen haften einzelne ganz nebensächliche Vor-
stellungen, die durch ein zufälliges Ereigniss in den Vordergrund
gedrängt wurden, auffallend fest. Ein bereits sehr blödsinniger
Kranker wiederholte Jahre lang bei jeder Unterredung die Zimmer-
nummer der Wasserheilanstalt, in der er sich bis zur Aufnahme in
die Klinik befunden hatte. Schliesslich weiss der Kranke nicht
mehr, ob er verheirathet ist, ob er Kinder hat, womit er sich früher
beschäftigte, ja er hat vielleicht sogar sein Alter, seinen Wohnort
und selbst seinen Namen vergessen, obgleich er sich noch halbwegs
geordnet in seiner Umgebung zu bewegen vermag. Auch dann aber
kann man bisweilen vorübergehend noch überraschend richtige Aus-
kunft erhalten, ein Zeichen dafüi-, dass zunächst die Vorstellungen
nicht selbst untergegangen waren, sondern der Kranke nur unfähig
geworden ist, sie wachzurufen. Eine äussere Anregung kann ihm
dabei zu Hülfe kommen. Späterhin schwinden sie freilich voll-
Allgemeine Krankheitszeichen. 221
ständig; der Krante vermag dann nicht mehr seine nächsten An-
gehörigen zu erkennen.
In einzelnen Fällen lassen sich neben der allgemeinen Ah-
schwächung des Gedächtnisses auch Lücken desselben feststellen,
bald von grösserem, bald von geringerem Umfange. Dieselben
scheinen sich besonders gern im Anschlüsse an die sogenannten para-
lytischen Anfälle zu zeigen. Eine meiner Kranken hatte, als sie
nach einem kurz dauernden verwirrten Aufregimgszustande wieder
zur Besinnung kam, die Erinnerung an die letzten 5 Monate vor
dem Eintritte vollständig verloren, obgleich sie sich in jener Zeit
verlobt und verheirathet hatte. Während sie im übrigen vollkommen
klar geworden war, zeigte sie sich höchst erstaunt, als nun ihr
Mann sich ihr vorstellte. Nach einem späteren ähnlichen Anfalle
vermochte sie sich auch ihres nur kurze Zeit zurückliegenden ersten,
sechswöchentlichen Anstaltsaufenthaltes nicht zu entsinnen und er-
kannte trotz ihrer sonstigen Besonnenheit die Aerzte und "Wärterinnen
durchaus nicht wieder.
Sehr häufig wird der Ausfall der Erinnerung ausgefüllt durch
die Einbildungskraft. Gerade weil die wirklichen Reminiscenzen
verblassen und verschwinden, hat die freie Erfindung einen weiten
Spielraum. Nicht nur Träume, Gehörtes und Gelesenes werden nun
als Erlebnisse in die eigene Vergangenheit zurückverlegt, sondern
auch eine Reihe rein erfundener Yorstellungen , wie sie gerade der
Augenblick hervorbringt. Der Kranke hat fabelhafte Abenteuer er-
lebt, grosse Schlachten geschlagen, mit zahlreichen Berühmtheiten auf
vertrautem Fusse gestanden, seit unvordenklichen Zeiten alle histo-
rischen Ereignisse gelenkt und mitgemacht. Er hat England zer-
stört, die Perser vernichtet. Tausende der schönsten Frauen geraubt,
das Zahlensystem, die elektrische Umwandlung von Holz in Gold
erfunden, die Gedichte des Hafis verfasst, mit den Wikingern Amerika
entdeckt. Auf diese Weise geräth der Kranke bisweilen in ein
ganz eigenthümliches, bunt wechselndes Spiel der abenteuerlichsten
"Vorstellungen hinein, welches in hohem Grade an unser Traumleben
erinnert und in merkwürdigem Gegensatze zu seinem sonstigen,
eidlich geordneten Benehmen steht. Am ausgeprägtesten scheinen
sich solche traumhafte Dämmerzustände mit reichlichem Fabuliren
bei den Kranken mit Opticusatroph ie einzustellen; sie können
Monate und Jahre dauern. Andererseits beobachten wir nicht
222 VI. Die Dementia paralytica.
selten gelegentlich, dass gerade die Erinnerung an die jüngste
Zeit durch einzelne frei erfundene Reminiscenzen verfälscht wird.
Der Kranke erzählt in gutem Grlauben, dass er vor einer halben
Stunde eine Mittheilung, einen Brief empfangen. Besuch gehabt,
gestern beim Kaiser gespeist, sich am Morgen mit einer Prinzessin
verlobt, eine Eeise gemacht habe. In der Regel kann man solche
Erzählungen durch Suggestivfragen hervorrufen und beeinflussen.
Dabei merkt man dann meist, dass die Kranken sich bei den aus
ihnen herausgelockten Aeusserungen anfangs unsicher fühlen, sich
aber allmählich in die Ueberzeugung hineinreden, dass alles wirklich
so gewesen ist.
Eine weitere _, folgenschwere und schon früh deutlich hervor-
tretende Störung auf dem Gebiete des Verstandes ist die Urtheils-
losigkeit der Paralytiker. Durch dieses Krankheitszeichen ofi'enbart
sich dem Kundigen oft schon dann die ganze Grösse und Schwere des
Leidens, wenn sonst noch gar kein Grund zur Besorgniss vorzu-
liegen scheint. Die Gemüthsruhe, mit welcher der Kranke irgend
einen unsinnigen Plan vorbringt, die Yernachlässigung der nächst-
liegenden Einwände, der geringe Widerstand gegen auftauchende
Wahnbildungen, die Unfähigkeit zu folgerichtigem Denken, die Un-
überlegtheit der EntSchliessungen fallen meist schon früh in die
Augen, obgleich die feststehenden, eingelernten Denkgewohnheiten
den ganzen Umfang der Unfähigkeit in den höchsten geistigen
Leistungen lange Zeit bis zu einem gewissen Grade verdecken
können. Allmählich gehen dem Kranken die durch Erfahrung er-
worbenen, feststehenden Grundbegriffe, nach welchen wir die Welt
beurtheilen, die Fähigkeit, durch Beobachtung des Thatsächlichen die
Gebilde unserer Einbildungskraft zu berichtigen, mehr und mehr
verloren, und er geräth dadurch in eine Traumwelt, in welcher
alles der eigenen Vorstellung, dem eigenen Wunsche, der eigenen
Befürchtung entspricht. Auf diese Weise kommt es zur Entwicklung
von Wahnvorstellungen; seine ganze Umgebung, seine gesammten Yer-
hältnisse werden in seinem Sinne verändert, weil er sie mit besonderen
Augen ansieht und nicht fähig ist, den schneidenden Widerspruch
seiner gefärbten Auffassung mit der Wirklichkeit wahrzunehmen.
Was diesem Vorgänge bei der Paralyse von Anfang an ein
ganz eigenartiges Gepräge verleiht, das ist die zu Grunde liegende
geistige Schwäche. Verhältnissmässig selten beobachten wir für
Allgemeine Ki-ankheitszeichen. 223
kürzere oder längere Zeit geschlossene, einheitliche Wahnbildungen,
ähnlich denjenigen der Verrückten, die sich zudem durch eine gewisse
Verschwommenheit und Bestimmbarkeit auszuzeichnen pflegen. Meist
schiessen dafür bunt durcheinander die verschiedenartigsten Ideen
empor, um ohne die mindeste Rücksicht auf die handgreiflichsten
Widersprüche hingenommen, aber ebenso schnell wieder vergessen
zu werden. Daher die ausserordentliche Unsinnigkeit und Aben-
teuerlichkeit der paralytischen Wahnvorstellungen, die sofort
über das Wahrscheinliche oder auch nur Mögliche mit verblüffender
Unbefangenheit weit hinauszuschweifen pflegen. Wo die Regsamkeit
der Einbildungskraft die Vernichtung der Kritik überdauert, kann
die Massenhaftigkeit und Ueppigkeit der Wahnbildungen zeitweise
eine sehr grosse sein, ähnlich wie bei den paranoiden Formen
der Dementia praecox.
Mit der geistigen Schwäche des Paralytikers hängt auch der
Umstand zusammen, dass der Wahn hier nichts weniger als fest-
stehend zu sein pflegt, sondern sich häufig durch innere Anstösse
wie durch äussere Einflüsse fortwährend verändert. Während der
Verrückte sein System wol bereichert, aber dasselbe in allen wesent-
lichen Punkten dauernd gleichlautend wieder vorbringt, pflegt jede
Darstellung des paralytischen Wahnes so zahlreiche und bedeutende
Abweichungen von den früheren Lesarten darzubieten, wie sie selbst
bei der Dementia praecox ungewöhnlich sind. Der Graf von gestern
ist heute vielleicht Kaiser und morgen der jüngste Lieutenant, ja
es gelingt sehr häufig durch verfängliche Fragen, Einreden und
lebhafte Anregung des Kranken, ihn binnen wenigen Minuten zu
einer raschen Selbststeigerung seiner Ideen bis ins Ungeheuerlichste
hinein zu treiben. Andererseits sehen wir die ausgedehntesten
Wahnbildungen hier nicht selten ganz unvermittelt wieder schwinden.
Sie gerathen bei dem Kranken^ auch ohne dass sie durch neue
Vorstellungen ersetzt werden, einfach in Vergessenheit; seltener
kommt es zu wirklicher Berichtigung mit klarer Anerkennung ihrer
Wahnhaftigkeit.
Im allgemeinen freilich machen es die Zerfahrenheit und Zu-
sammenhangslosigkeit des Gedankenganges, die Unfähigkeit zu ver-
ständiger Selbstprüfung erklärlich, dass eine wirkliche Krankheits-
einsicht in der Paralyse zumeist nicht zu Stande kommen kann.
Im Gegentheil fühlen sich die Kranken häufig gesünder als jemals,
224 VI. Die Dementia paralytica.
oder sie bemerken doch wenigstens nicht, dass ihre ganze geistige
Kraft gebrochen ist, eben weil ihnen die Fähigkeit verloren gegangen
ist, ihren jetzigen Zustand mit demjenigen in längst vergessenen
gesunden Tagen zu vergleichen. Nur im Beginne der Krankheit
ist bisweilen ein richtiges Verständniss für die Natur des Leidens
und das bevorstehende Schicksal vorhanden. Ich besitze den Brief
eines Obersten, in welchem derselbe den Entschluss ankündigt, sich
das Leben zu nehmen, weil er an Gehirnerweichung leide und ein
blöder Tölpel werden müsse. Der weitere Verlauf der Krankheit
rechtfertigte seine Ahnung nur zu vollkommen. Dass die Kranken
wenigstens das Herannahen eines schweren, unheilbaren Leidens
deutlich empfinden, ist nicht gerade selten. Yielfach lassen allerlei
nervöse oder auch rein hypochondrische Beschwerden wol den
Patienten sich selbst für krank halten, ohne dass er doch die
wahren Zeichen seines Leidens als solche auffasst und anerkennt.
Von einer wirklichen Krankheitseinsicht ist dabei natürlich nicht
die Rede.
Kaum geringere Störungen, als die Verstandesthätigkeit, bietet
die Stimmung der Kranken dar. In der ersten Zeit der Paralyse
ist es namentlich die erhöhte Reizbarkeit, welche der Umgebung
aufzufallen pflegt. Der Kranke ist launenhaft, leicht verstimmt und
verdriesslich, geräth bei geringfügigen Anlässen in rasch vorüber-
gehende, grundlos heftige Aufregung, in der er die Herrschaft
über sich selbst vollständig verliert und sich wol gar gelegentlich
zu Thätlichkeiten hinreissen lässt. Auf der andern Seite ist schon
jetzt nicht selten eine gewisse Stumpfheit gegenüber weiterreichen-
den gemüthlichen Anforderungen bemerkbar, die auf ein Zurücktreten
der höheren und feineren Gefühle hindeutet. Die Freude an geistiger
Arbeit, an künstlerischen Genüssen, an den gemüthlichen Beziehungen
zur Umgebung, zur eigenen Familie weicht einer trägen Gleichgültig-
keit, die zu der sonstigen Reizbarkeit des Kranken in auffallendem
Widerspruche steht.
Die gleichen Eigenthümlichkeiten , leichte Erregbarkeit auf der
einen, Mangel an tieferen, nachhaltigeren Gefühlen auf der anderen
Seite, erhalten sich meist auch während des weiteren Verlaufes der
Krankheit. Dabei zeigt die Färbung der Stimmung meist Ueber-
einstimmung mit dem Inhalte der Wahnideen, vielleicht weil dieser
letztere wesentlich durch jene beeinflusst wird. Grössenideen
Allgemeine Krankheitszeichen. 225
werden von befriedigter, oft überaus glückseliger Stimmung begleitet,
während wir auf der anderen Seite tiefe Niedergeschlagenheit oder
heftige Angstzustände in Verbindung mit quälenden Wahnvor-
stellungen beobachten. Bisweilen allerdings werden auch trübe
Vorstellungen mit strahlender Miene vorgebracht. Regelmässig aber
ist es nicht eine und dieselbe Färbung des Stimmungshintergrundes,
welche den ganzen Krankheitsverlauf begleitet. Vielmehr ist ein
unvermittelter Wechsel der Gefühlsregungen in so hohem Maasse
der Paralyse eigenthümlich, dass sich auf ihn bisweilen geradezu die
Erkennung der Krankheit stützt. Mitten hinein in das üebermaass
der Fröhlichkeit bricht plötzlich ein Thränenstrom, oder das hypo-
chondrische Elend wird durch die kindische Freude über irgend einen
ausserordentlichen Vorzug abgelöst. Ganz besonders bemerkenswerth
ist es, dass es häufig gelingt, diese raschen Wandlungen durch die
Anregung geeigneter Vorstellungen, ja schon durch den Tonfall der
Stimme, den Gesichtsausdruck gewissermassen künstlich herbeizuführen
und ebenso wieder zu beseitigen. Auch ohne Zusammenhang mit
Wahnbildungen kann übrigens eine Art blöder Zufriedenheit oder
reizbarer ]\Iissvergnügtheit das Fortschreiten der gemüthlichen
Stumpfheit bis zu ihren höchsten Graden noch längere Zeit begleiten.
Natürlich wird durch diese Störungen der Charakter des
Kranken vollkommen umgewandelt. An Stelle der früheren Festig-
keit und Selbständigkeit tritt eine fortschreitende Willensschwäche
und Haltlosigkeit, die sich in auffallender Weichheit und Em-
pfindsamkeit, zuweilen auch in einer Art blödsinnigen, triebartigen
Eigensinns kundgiebt. Während die eigene innere Regsamkeit, die
„Initiative", mehr und mehr schwindet, lässt sich der Kranke bei
geschicktem Angreifen fast immer leicht nach jeder beliebigen
Richtung hin lenken. Namentlich die von den Angehörigen meist
sehr gefürchtete Verbringung in die Anstalt geht zu deren grösster
üeberraschnng oft ohne jede Schwierigkeit von Statten. Die sorg-
lose Selbstverständlichkeit, mit Avelcher Paralytiker sich trotz völligem
Mangel des Krankheitsgefühls ohne weiteres in der Anstalt einzu-
leben pflegen, das schöne Zimmer, die gute Verpflegung, die Be-
handlung rühmen und gern „noch eine Zeitlang dableiben", zeigt
ihre Willensschwäche vielleicht am deutlichsten. Ein paar freund-
liche Worte, ein Scherz, eine ausweichende iVntwort genügen dann,
den Kranken immer wieder zu beruhigen, auch wenn er täglich
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. 11. Band. 15
226 ^I- Die Dementia paralytica.
seine Abreise auf „morgen" anberaumt, seine Unentbehrlichkeit zu
Hause betont und seine dringenden Zukunftspläne auseinandersetzt.
Auf diese Weise wird er alsbald unfähig zu irgendwelcher geord-
neten Arbeitsleistung, da er seine Obliegenheiten zum Theil einfach
vergisst oder vernachlässigt, zum Theil aber lückenhaft, unordentlich
und fehlerhaft erledigt. Ein sehr fein gebildeter, vollständig be-
sonnener Herr bat sich am Tage seines Eintritts in die Klinik ein
Conversationslexikon zur Leetüre aus und wünschte am nächsten
Tage einen neuen Band, da er den ersten ausgelesen habe.
Andererseits pflegt der Kranke auch widerstandslos den in ihm
auftauchenden Antrieben und Einfällen zu folgen. Seine Handlungen
tragen daher den Stempel des Unüberlegten und Planlosen. Einer
meiner Kranken sprang aus dem Fenster des zweiten Stockwerks,
um einen unten bemerkten Cigarrenstumpf aufzusuchen, und zog
sich dabei einen Fibulabruch zu; ein anderer wollte sich an einem
ganz dünnen Faden von oben herunterlassen und stürzte dabei in
die Tiefe. Selbst Verbrechen können auf diese Weise begangen
werden, ohne dass der Kranke im Stande wäre, die Tragweite und
Bedeutung derselben irgendwie zu übersehen. Häufig gesellt sich
dazu eine überstürzte Yielgeschäftigkeit, In rascher Folge und ohne
Besinnen sucht der Kranke seine wahnhaften Pläne auszuführen,
nicht in der zähen, folgerichtigen, von langer Hand vorbereitenden
Art des Verrückten, sondern er thut bereits die einleitenden Schritte,
sobald ihm nur der Gedanke aufgestiegen ist, um ihn im nächsten
Augenblicke wieder über etwas Anderem, Grösserem zu vergessen
und fallen zu lassen.
Im Benehmen des Kranken macht sich die Paralyse als eine
Abstumpfung gegen die Anforderungen des Anstandes und der
Sitte geltend, die ihn, wie den Angetrunkenen, leicht Tactlosig-
keiten, Ungenirtheiten und selbst grobe Verstösse begehen lässt,
ohne dass er das mindeste Verständniss dafür besässe. Jene an-
erzogenen feinen Hemmungen und Antriebe, welche auch die äussere
Form unseres Thuns und Lassens jederzeit nach der Rücksicht
auf unsere Umgebung regeln, gehen dem Paralytiker sogar schon
sehr früh verloren, am leichtesten und vollständigsten natürlich
dort, wo nicht eine lange Gewohnheit oder natürliche Anlage
dieselben sehr tief dem Wesen des Menschen eingeprägt hat.
Im letzteren Falle kann man auch recht blödsinnige Kranke
Allgemeine Krankheitszeichen. 227
noch die Schablone der Yerkehrsformen leidlich gut sich bewahren
sehen.
Bei grösserer Benommenheit oder fortgeschrittener geistiger
Schwäche stellen sich endlich in der Paralyse nicht selten ein-
zelne jener Krankheitserscheinungen ein, die wir früher als
katatonische näher kennen gelernt haben. Nicht nur Katalepsie ist
wenigstens vorübergehend häufig genug, sondern auch Echolalie,
Echopraxie und Yerbigeration. Andeutungen von Negativismus
werden vielfach beobachtet. Stummheit, Nahrungsverweigerung,
"Widerstreben gegen Aufforderungen und Eingriffe, Zurückhalten
von Koth und Urin, eigensinniges Festhalten derselben Stellung.
Zumeist indessen ist der Widerstand der Kranken viel wechseln-
der und unbeständiger, als in der Katatonie, lässt sich auch öfters
durch Zureden überwinden, so dass es zweifelhaft bleiben muss, ob
die äusserlich ähnlichen Krankheitserscheinungen auch wirklich den-
selben Ursprung haben. Seltener sind ausgeprägtere Bewegungs-
stereotypen, unablässiges Wischen und Zupfen, Abwehrbewegungen,
Pendeln, eintöniges, lange fortgesetztes thierisches Brüllen oder
Schreien. Zudem scheinen sie nicht, wie bei der Katatonie, rein
triebartig zu sein, sondern meist erstarrte Reste ursprünglich
sinnvoller Handlungen darzustellen. Von der Berechtigung, solche
vereinzelten Fälle zu einer besonderen, katatonischen Form der
Paralyse zusammenzufassen, habe ich mich bisher nicht überzeugen
können.
Was der Paralyse vor allem ihr eigenartiges klinisches Gepräge
verleiht, sind die nervösen Störungen, welche den ganzen Ver-
lauf derselben begleiten. Als sehr regelmässige Erscheinung im
Beginne der Erkrankung beobachtet man starke Kopfschmerzen,
die meist als ein dumpfer, aber äusserst heftiger Druck geschildert
werden, als ob das Gehirn mit grosser Gewalt zusammengepresst
würde. Am stärksten pflegt derselbe in der Stirngegend zu sein.
Dazu gesellen sich oft die Anzeichen von Blutwallungen (Ohren-
sausen, Funkensehen, Schwindelgefühl). Von Seiten der Sinnes-
organe lässt sich anfangs oft gesteigerte Erregbarkeit, später nicht
selten eine leichtere oder schwerere Abstumpfung der Empfindlich-
keit feststellen, die aber zweifellos in der Regel vorzugsweise auf den
psychischen Zustand, insbesondere die mangelnde Aufmerksamkeit
zurückzuführen ist. Eine eigenthümliche Sehstörung, die häufig nach
15*
228 VI. Die Dementia paralytica.
paralytischen Anfällen hervortritt und sich bei negativem Augen-
spiegelbefunde durch Erschwerung des Erkennens und der Locali-
sation von Gegenständen auszeichnet, ist von Eürstner beschrieben
und auf Herderkrankungen in der Hinterhauptsrinde zurückgeführt
worden. Auch hier dürften verwickeitere psychische Störungen,
namentlich Asymbolie, eine wichtige, wenn nicht die Hauptrolle
spielen. Hemianopische Störungen lassen sich hie und da nach-
weisen, besonders nach paralytischen Anfällen. Auf der anderen
Seite jedoch sind auch greifbare krankhafte Befunde am peripheren
Sinnesorgane, am Auge, zu verzeichnen. Atrophie der Sehnerven
verschiedenen Grades wird in 4—5, nach Möli's Angaben sogar in
12<*/o der Fälle beobachtet; bisweilen bildet sie das erste Anzeichen
des herannahenden Leidens. Ausserdem hat man bisweilen über
eine keineswegs eigenartige „Retinitis paralytica" und eine ganze
Eeihe anderer, mehr gelegentlicher, recht verschiedener Veränderungen
am Auge berichtet.
Sehr auffallend sind die Störungen auf dem Gebiete des Haut-
sinnes. Im Beginne des Leidens stellen sich öfters allerlei unbestimmte,
„rheumatoide" Schmerzen oder unangenehme Empfindungen ein, die
bisweilen längere Zeit das einzige hervorti*etende Zeichen der Krank-
heit bilden. Ich sah einen derartigen Kranken, der über reissende
Schmerzen unter dem linken Schulterblatte klagte und schon seit
Monaten vergeblich deswegen behandelt worden war, ohne dass
man die Paralyse erkannt hätte; ein anderer litt zunächst an einer
Neuralgie des Penis und eines Testikels. Viele gelten lange Zeit
als Neurastheniker oder Unfallsnervenkranke. Im weiteren Ver-
laufe entwickelt sich ausnahmlos früher oder später eine bedeutende
Herabsetzung aller Qualitäten der Hautempfindlichkeit, vor allem
aber eine sehr hochgradige Analgesie. Namentlich wenn man
die Aufmerksamkeit des Kranken durch Fragen ablenkt, gehngt es
zur grössten nachträglichen Verwunderung desselben sehr häufig
schon in verhältnissmässig frühen Stadien, eine Nadel quer durch
eine Hautfalte hindurch zu stechen, ohne dass er dessen recht
gewahr wird. Gerade diese Unempfindlichkeit gegen Schmerz be-
günstigt das Zustandekommen von allerlei Verletzungen, besonders
ausgedehnten Verbrennungen, weil der Kranke die Gefahr nicht be-
merkt und sich ihr daher auch nicht entzieht. Die Kranken zupfen
sich die Finger wund, kauen die Fingernägel bis auf das frei-
Allgemeine Krankheitszeichen. 229
liegende Nagelbett ab, stochern im Munde herum, ja ich kannte
einen Hauptmann, der sich in einer Nacht die Hand mit den Zähnen
zerfleischte, weil ihm dieselbe als etwas Fremdes, gar nicht zu ihm
Gehöriges erschien.
Ganz besonders in den Vordergrund treten bei der Paralyse
die motorischen Störungen, als deren wichtigste wir wol die
„paralytischen Anfälle" zu bezeichnen haben. Die leichtesten Formen
derselben bestehen in rasch vorübergehenden Schwindelanwandlungen,
häufig von kurz dauernder Unfähigkeit, zu sprechen, oder Anstossen
der Zunge, seltener von leichten Hemiparesen begleitet. Hie und
da beobachtet mau mehrtägige, sich ziemlich plötzlich zurückbildende
völlige Aphasie ohne Lähmung. Erheblich ernster sind die epilepti-
formen Anfälle, die entweder den gewöhnlichen epileptischen Krämpfen
gleichen oder* häufiger, die Kennzeichen der Rindenepilepsie tragen.
Ihnen gehen meist allerlei einleitende Störungen^ Unbesinnlichkeit,
grössere Stumpfheit, Schwerfälligkeit der Bewegungen, Herüber-
hängen nach einer Seite voraus, bis dann der Kranke plötzlich zu
Boden sinkt und die Krämpfe beginnen. Häufig kann man nun das
schrittweise Uebergreifen der Reizung auf die einzelnen Abschnitte
des motorischen Rindengebietes verfolgen. So stellt sich zuerst
etwa ein leises Zucken in den Gesichtsmuskeln mit Yerdrehen der
Augen und nystaktischen Bewegungen derselben ein; dann schreitet
die Erregung auf den Hals, den Arm, die Athmungsmuskeln, den
Bauch, das Bein derselben Seite fort, um endlich auch auf die
entgegengesetzte Seite hinüberzugreifen, während sie vielleicht auf
der zuerst befallenen schon wieder nachlässt. Kemmler hat darauf
hingewiesen, dass die krampfhaften Zuckungen öfters eine deutliche
Gleichzeitigkeit mit dem Pulsschlage darbieten und somit durch
Reizwirkung der Blutwelle ausgelöst zu werden scheinen. Dieser
Zusammenhang, der bis zur Dikrotie und Arhythmie ein peinlich
getreuer sein kann, verwischt sich erst mit dem Eintreten von
Herzschwäche oder durch das Ueberwiegen anderer, stärkerer Muskel-
bewegungen.
Die Ausbreitung der Krämpfe ist eine sehr verschiedene. Bis-
weilen sind nur einzelne umschriebene Gebiete dauernd oder mit ge-
ringer Abwechslung befallen; in anderen Fällen wandern die Ki-ämpfe
wiederholt über eine ganze Reihe von Muskelgruppen hin. Solche
Anfälle können sich mit kürzeren oder längeren Zwischenpausen, in
230 VI- Die Dementia paralytica.
denen der Kranke schwer benommen oder imbesinnlich Arme und
Beine bewegend daliegt, sehr häufig hintereinander, bisweilen 20-,
30-, ja 80- und 100 mal innerhalb 24 Stunden wiederholen. In der
Regel allerdings pflegt der Anfall schon nach einer oder einigen
Stunden vorüber zu sein, doch wird nicht zu selten eine Dauer von
mehreren, selbst bis zu 14 Tagen beobachtet. Ich sah bei einem
Kranken unter wachsender Benommenheit Zuckungen im rechten
Facialis, dann der ganzen rechten Seite mit spastischer Parese,
Hemianopsie und Hemianaesthesie auftreten; allmählich griffen die
Störungen auf die linke Seite über; es kam zu wechselnden Krämpfen
in den verschiedensten Muskelgebieten, zu völliger Aphasie und Wort-
taubheit, und erst am 15. Tage erfolgte der Tod. Die Körperwärme
ist meist erhöht, bisweilen beträchtlich; der Harn enthält öfters
Ei weiss. Blase und Mastdarm sind häufig gelähmt, so dass es
zu Harnverhaltung und Kothstauung mit deren Folgezuständen,
Pyelitis, Nephritis, Periproktitis, kommen kann, wenn nicht für
rechtzeitige Entleerung beider Organe gesorgt wird. Die selbständige
Nahrungsaufnahme ist wegen Lähmung der Schlingmuskulatur un-
möglich. Da ausserdem die Kehlkopfreflexe oft gänzlich aufgehoben
sind, so entspringt eine ernste Gefahr für den Kranken aus der
Aspiration von Speichel von der mit reichlichen Zersetzungsstoffen
erfüllten Mundhöhle her (gelegentliche Parotitis); in der That finden wir
bei der Meln-zahl der im Anfalle zu Grunde gehenden Paralytiker
Schluckpneumonien (sog. „hypostatische Pneumonien") als Todes-
ursache. Endlich fordert bei ungenügender Pflege auch der hier
überaus leicht entstehende Decubitus immer noch zahlreiche Opfer.
Das Erwachen aus dem Anfall geschieht immer allmählich, oft
durch ein Stadium grosser Verwirrtheit und Benommenheit hindurch.
Aber auch weiterhin bemerkt man fast regelmässig eine erhebhche
Zunahme der psychischen Schwäche, in einzelnen Fällen plötzlichen
tiefen Blödsinn nach einem bis dahin nahezu normalen Verhalten.
Gleichzeitig bleiben gern allerlei Herderscheinungen zurück, um-
schriebene oder halbseitige Lähmung, Zwangsbewegungen, Spasmen,
Sprachstörungen, Aphasie, Hemianopsie, Empfindungslähmungen, die
sich meist bald wieder verlieren, zuweilen aber auch dauernd be-
stehen bleiben.
Eine weitere, im ganzen seltene Gestaltung der paralytischen
Anfälle sind die apoplektiformen Anfälle, welche ganz in der Art
Allgemeine Krankheitszeichen. 231
des gewöhnlichen Schlaganfalls mit plötzlicher Bewusstlosigkeit, Zu-
sammenbrechen, stertorösem Athmen, tonischer Spannung oder
schlaffer Lähmung eintreten und bald mit nachfolgender Hemiplegie,
Contracturen, aphasischen Störungen, bald ohne jede Folgeerscheinung
verlaufen, häufig genug aber auch ganz unvermuthet dem Leben ein
Ende machen. So manche der in mittleren Lebensjahren plötzlich tödt-
lich verlaufenden „Schlaganfälle" sind wahrscheinlich auf beginnende
paralytische Erkrankung zurückzuführen, wie sich in einzelnen Fällen
aus dem Hirnbefunde darthun lässt. Ausser diesen mit schweren
Bewusstseinstrübungen einhergehenden Anfällen kennt man bei
Paralytikern noch eine Eeihe anderer, mehr oder weniger plötzlich
einsetzender Störungen, die man vielleicht unter dem gleichen Ge-
sichtspunkte zu betrachten berechtigt ist. Am einleuchtendsten ist
diese Auffassung für die bisweilen bei völlig klarem Bewusstsein
sich einstellenden und ebenso rasch wieder verschwindenden Läh-
mungen. Einer meiner Kranken erlitt im Beginne seines Leidens
auf diese "Weise eine Lähmung der rechten Seite mit articulatorischer
Sprachstörung, Behinderung des Schluckens und Facialisparese; die
Störungen verschwanden wieder, doch blieb ein deutlicher Schwach-
sinn zurück. Anfallsweises Zucken einzelner Muskeln, Muskel gruppen
oder Glieder, Schüttelkrämpfe der Beine u. dergl. sind nicht gerade
selten. Auch auf sensorischem Gebiete giebt es derartige Anfälle,
vorübergehende Parästhesien, Empfindungslähmungen, Gesichtsfeld-
defecte. Neisser denkt an die Möglichkeit einer verschiedenen
Localisation der Störung nach der Art des Anfalles und spricht
geradezu von bulbären, spinalen, cerebellaren Anfällen. An diese
schliessen sich ferner an die plötzlich auftretenden Zustände von
deliriöser Verwirrtheit mit Unbesinnlichkeit, Erregung, Röthung des
Kopfes, erschwerter Sprache, Erbrechen, Temperatursteigerung, die
man zuweilen bei Kranken beobachtet, welche sonst typische paraly-
tische Anfälle darbieten.
Die klinische üebereinstimmung solcher Erfahrungen mit den
früher beschriebenen Anfällen ist namentlich auch im Hinblicke auf
unsere Erfahrungen bei der Epilepsie eine so grosse, dass wir hier
wol ein Recht haben, von unausgebildeten, rudimentären Anfällen
zu sprechen. Alle diese verschiedenen Formen können in jedem Ab-
schnitte der Krankheit auftreten, doch beobachtet man im allgemeinen
die leichteren Anfälle mehr im Beginne, die schwereren häufiger in
232 ^"1- Die Dementia paraJytica.
der späteren Zeit. Nicht so selten bildet ein paralytischer Anfall
das erste greifbare Zeichen der herannahenden Krankheit.
Die Häufigkeit der Anfälle hat Heilbronner*) nach den Er-
fahrungen in München auf etwa 60^/o bei seineu Kranken an-
gegeben; bei den von mir in den letzten 7 Jahren beobachteten
Kranken fanden sich Anfälle nur in etwa 36 "/o- B^i ^^^ Ver-
storbenen allein steigt diese Zahl allerdings auf 46%, weil sich
gerade in der letzten Krankheitszeit vielfach noch Anfälle einstellen.
Der Grund für diese immerhin niedrigeren Zahlen liegt wahrschein-
lich in dem Umstände, dass in der Klinik die Bettbehandlung in
weit grösserem Umfange durchgeführt werden konnte, als in der
grossen Anstalt. Auch Kemmler hat darauf hingewiesen, dass in
Breslau die Zahl der beobachteten Anfälle mit Ausdehnung der Bett-
behandlung wesentlich abgenommen hat. Von den verschiedenen
khnischen Gestaltungen der Paralyse zeichnen sich nach meinen Er-
fahrungen besonders die einfach verblödenden Formen durch zahl-
reichere Anfälle aus; sie erreichen nach meiner Zusammenstellung
hier eine Häufigkeit von 45,4, bei den schon Yerstorbenen von
55,3 •'/o, während sie bei der expansiven Form auf ^S^Jq sinken.
Als Gelegenheitsursachen der Anfälle werden Gemüthsbewegungen,
Excesse, Magenüberfüllung, Kothstauung (Darminfectionen) nam-
haft gemacht; meist ist jedoch ein bestimmter Anlass gar nicht er-
kennbar.
Regelmässige Störungen bietet der motorische Apparat des
Auges dar. Paresen einzelner Augenmuskeln, namentlich vorüber-
gehende, sind nicht gerade selten, während vollständige Ophthalmo-
plegie nur ganz ausnahmsweise beobachtet wird. Dagegen findet
sich nach den ausgedehnten Erfahrungen in Berlin Differenz der
Pupillen in 57,50/0, Starre derselben in 34 "/o, sehr träge Reaction
in 35,5 <^/o der Fälle; hier sind die Pupillen oft gleichzeitig eng.
Siemerling giebt neuerdings die Häufigkeit der reflectorischen
Pupillenstarre auf QS^Jq an. Ferner beobachtet man häufig einseitige
oder doppelseitige Ptosis, Bulbusuuruhe, seltener Mydriasis oder raschen
Wechsel der Pupillenweite. Die Gesichtszüge sind schlaff (Ver-
streichen der Nasolabialfalten), ausdruckslos; bisweilen bemerkt man
auch Ungleichheit der Gesichtshälften. Ungemein häufig sind fibrilläre
*) Allgem. Zeitsdir. f. Psychiatrie, LI, 22.
Co
Q.
Allgemeine Krankheitszeichen. 233
Zuckungen und ausgiebige Mitbewegungen, wenn man den sehr
leicht in Verwirrung gerathenden Kranken auffordert, abwechselnd
verschiedene coordinirte Bewegungen auszuführen, die Augen zu
schliessen, den Muud zu öffnen, die Zunge vorzustrecken u. s. f.
Man sieht es wie eine Art „Wetterleuchten" dui'ch die ganze Ge-
sichtsmuskulatur hindurchzittern, Avährend der Kranke angestrengt
die einzelnen, ihm gestellten Aufgaben zu lösen sucht. Die ganze
Körperhaltung ist schlaff, ohne Spannkraft. Man erkennt diese
Störung wie die Stumpfheit und Verblödung im Gesichtsausdrucke
deutlich auf dem beigegebenen Gruppenbilde. Der Kranke in der
Mitte zeigt seine gehobene Stimmung durch den angesteckten Strauss;
sein Nachbar zur Linken hat eine linksseitige Facialissch wache.
Die Stimme wird eintönig, verliert ihre Ausdrucksfähigkeit und
öfters auch ihren gewohnten Klang (Stimmbandparese), hie und da
das erste auffallende Zeichen der Paralyse, namentlich bei Sängern.
Die Zunge weicht nicht selten ab, zeigt starke fibrilläre Zuckungen,
wird ungeschickt, stossweise und unter zahlreichen Mitbewegungen,
Aufreissen der Augen, Stirnrunzeln, ja selbst unter Zuhülfenahme
der Finger hervorgestreckt. Um die Muskelstösse zu verhindern,
klemmt der Kranke die Zunge beim Vorzeigen bisweilen unwillkür-
lich zwischen den Zähnen fest. Das Schlucken ist namentlich in
den letzten Stadien der Krankheit sehr erschwert; der Kranke ver-
schluckt sich leicht, ohne aber wegen der ünempfindlichkeit des
Kehlkopf ein ganges immer in genügend kräftiger Weise darauf zu
reagiren. Ein weiteres Zeichen bulbärer Erkrankung bildet das
bisweilen beobachtete zwangsmässige Lachen. „Mir ist's gar nicht
um's Lachen," sagte mir eine solche Kranke. Bei einer anderen
fand sich in der That neben den allgemeinen paralytischen Ver-
änderungen ein grosses Gumma im Pons. Häufig beobachtet man
ferner bei vorgeschrittenem Blödsinn lange fortgesetztes, rhyth-
misches Zähneknirschen, welches fast als kennzeichnend für die
Paralyse angesehen werden darf. In einem Falle sah ich die
Krankheit mit äusserst heftigen und hartnäckigen Accessoriuskrämpfen
beginnen.
Zu den allerwichtigsten Zeichen der Paralyse gehören die Ver-
änderungen, welche die Sprache*) erleidet. Wir haben dabei zu
') Trömuer, Archiv f. Psychiatrie, XXVIU, 190.
234 ^I- Die Dementia paralytica.
unterscheiden zwischen aphasischen und articulatorischen Störungen.
Zustände vorübergehender, selten länger dauernder Aphasie schliessen
sich ungemein häufig an paralytische Anfälle an. Einer meiner
Kranken konnte wochenlang den Namen keines einzigen Gegenstandes
finden, den man ihm zeigte, obgleich er die Dinge selbst erkannte.
Weit hartnäckiger pflegt die Paraphasie zu sein, die viele Monate
unverändert fortbestehen kann. Hier werden entweder einzelne
Dinge mit unrichtigen Namen belegt, oder es kehren gewisse
stereotype Bezeichnungen fälschlicherweise bei den verschiedensten
Gelegenheiten wieder. Viel seltener ist Worttaubheit, die sich zudem
wegen des Schwachsinns der Kranken meist schwierig erkennen lässt.
Namentlich nach paralytischen Anfällen indessen sieht man öfters,
dass die Kranken selbst die einfachsten Anreden durchaus nicht ver-
stehen, mimischen Aufforderungen aber sofort nachkommen. Diesen
Störungen nahe verwandt ist der bei Paralytikern öfters beobachtete
Verlust ihrer musikalischen Begabung, der Fähigkeit, Melodien auf-
zufassen, besonders aber richtig und rein zu singen und nach-
zusingen.
Ebenfalls den centralen Sprachstörungen gehört der hie und da
beobachtete Agrammatismus an, die Unfähigkeit, richtige Sätze zu
formen. Die Kranken sprechen nach Art der Kinder ohne Ver-
bindungswort oder in Infinitiven. Weit häufiger ist die Zusammen-
setzung der Wörter aus Silben gestört. Nach Trömne'rs Aus-
führungen können wir hier die Auslassung („Elektrität") , die Zu-
sammenziehung („Exität") und die Verdoppelung der Silben („Elek-
tricicität") auseinanderhalten. Diese letztere Störung, der sich die un-
willkürliche Anhängung tonloser Silben anreiht, findet sich namentlich
am Ende der Wörter. Die Endsilbe wird hier bisweilen trotz sicht-
lichen Widerstrebens vom Kranken drei-, viermal und öfter rasch
wiederholt, bis seine Sprachwerkzeuge zur Ruhe kommen („Anton-
ton— ton — ton"). Ich möchte für diese sehr auffallende Störung^
welcher ähnliche Erscheinungen auf anderen Muskel gebieten ent-
sprechen, den Namen „Logoklonie" vorschlagen. In Folge aller
dieser Störungen, die sich vielfach mit der Aphasie verbinden, kann
die Sprache vollständig in einem Gemisch unsinniger, häufig wieder-
holter Silbenverbindungen untergehen. Ich kannte einen sehr ge-
bildeten Kranken, bei dem das erste auffallende Anzeichen der Para-
lyse ein leichter Schlaganfall war, nach welchem er einige Stunden
Allgemeine Krankheitszeichen. 235
hindurch die 5 oder 6 Sprachen, die er beherrschte, in ganz unver-
ständlicher Weise durcheinander warf.
Noch häufiger, als die centralen Sprachstörungen, sind Articu-
lationsbehinderungen, die sich zunächst vielleicht nur im Gefolge der
paralytischen Anfälle oder in der Erregung, später aber dauernd
geltend machen. Dieselben lassen sich in zwei verschiedene Gruppen
zerlegen, weiche sich im einzelnen Falle freilich meist mit einander
verbinden, in paretische und ataktische, coordinatorische Störungen.
Die Schwerfälligkeit in den Bewegungen der Lippen- und Zungen-
muskulatur hindert den Kranken, einzelne Buchstaben klar hervor-
zubringen, und noch mehr, verwickeitere Buchstabenverbindungen
rasch im Zusammenhange auszusprechen, also von einer Sprach-
stellung glatt in die andere überzugehen. Es kommt auf diese
Weise zu einer Yerlangsamung der Sprache, zu gelegentlichem
Stocken (Haesitiren), bisweilen auch zu merklichen Pausen zwischen
den einzelnen Silben, meist mit Yerlust des Tonfalles und des
richtigen Zeitmaasses (Scandiren). Zugleich wird die Sprache, na-
mentlich im Zusammenhange, durch das schleifende Hinübergleiten
über die mangelhaft articuhrten Lautverbindungen undeutlich und
verschwommen (schmierende, lallende Sprache). Das Wort „Flanell-
lappen" eignet sich gut zur Darstellung dieser Störung. Da dieselbe
ganz der bulbären Sprachlähmung entspricht, so dürfte sie auf Er-
krankungen in der Medulla, insbesondere auf solche des Facialis
und Hypoglossus zurückzuführen sein. Weiterhin aber ist ganz ge-
wöhnlich die Zusammenordnung der Laute zu Silben geschädigt,
eine Erscheinung, die man mit den oben besprochenen Störungen
in der Gruppirung den Silben zu Wörtern als „Silbenstolpern" zu-
sammenzufassen pflegt. Unbequeme Lautübergänge werden durch
bequemere ersetzt („schwissen" statt „zwischen") oder einfach aus-
gelassen und vereinfacht („Damschiff"', .,Schleffschiö'''). Dabei zeigt
sich vielfach eine Beeinflussung der Silbenbildung durch andere,
voraufgegangene oder folgende Silben und Buchstaben oder nahe-
liegende Wörter, genau wie beim gewöhnlichen Versprechen
(„schwitzernder Schwan", „drittende reifere Artrilleriebrade"). Yon
den Kranken selbst werden diese Erschwerungen meist gar nicht
empfunden oder doch auf Nebenumstände zurückgeführt', weil sie
dursten mussten und der Mund trocken wurde, weil die Kost nicht
kräftig genug sei, weil man sie immer so aufrege.
236 ^I- Die Dementia paralytica.
Am deutlichsten pflegen die centralen und ataktischen Sprach-
störungen, wie Rieger festgestellt hat, beim lauten Lesen hervor-
zutreten. Der Kranke bringt hier bei mehrmaliger "Wiederholung
oft immer wieder neue Silben- und Wortzusammenstellungen vor,
die nur eine bruchstückweise und entfernte Aehnlichkeit mit der
Yorlage darbieten. Dabei glaubt er vollständig richtig abgelesen zu
haben, ohne doch den Inhalt des Gelesenen zu verstehen. "Wieweit
hier die sinnliche Auffassang der Yorlage, die Verknüpfung der
Wortzeichen mit den Begriffen einerseits, den sprachlichen Be-
wegungsvorstellungen andererseits, wie weit endlich das Zusammen-
spiel der Antriebe an dem Zustandekommen der verwickelten
Störung betheiligt ist, lässt sich heute noch nicht entscheiden.
Ganz ähnliche Störungen wie die Sprache lässt die Schrift
erkennen. Die einzelnen Züge sind unregelmässig und unsicher,
ohne doch die gieichmässigen Zitterlinien des Tremor senilis dar-
zubieten; die Striche fahren häufig über die Grenzen hinaus. Von
den beigefügten Schriftproben zeigt die IV. diese Störung in ge-
ringerem Grade bei einer ausgeschriebenen Kaufmannshandschrift,
die V. dagegen in so starker Ausbildung, dass die Schrift kaum
noch leserlich ist. Es soU heissen: „Anton Kutterer Maurer von
Karlsruhe (wiederholt) Baden." Bei der Probe VI, die von einem
sehr gebildeten Herrn herrührt, ist die Flüchtigkeit und Nachlässig-
keit der Schrift bemerkenswerth. Der Satz lautet: „mit dem BMtz-
zug nach Berlin wo um 1 Uhr anlange dort werde ich das neue
Service bestellen." In der siebenten Probe ist die Unsicherheit
einigermassen durch sehr kräftigen Federdruck verdeckt worden. Hier
wie in den früheren Beispielen begegnet uns ferner das Gegenstück
des Sübenstolperns in Versetzung der Buchstaben und Silben, Aus-
lassungen und Wiederholungen derselben. Noch stärker ist diese
Störung bei geringer Veränderung der einzelnen Schriftzüge in der
Probe VIII ausgesprochen. Fast überall finden sich hier Verdoppelungen
und Auslassungen. Besonders sei das Wort „Kauss" statt Kuss er-
wähnt, bei dem offenbar eine Beeinflussung durch das folgende
„aus" stattgefunden hat.
Geringe Rücksicht wird auf die räumliche Anordnung der Schrift-
stücke genommen. Der Kranke kümmert sich nicht darum, ob
er mit der Linie oder der Seite auskommt, schreibt quer und
schräg durch- und übereinander, oft auch noch auf beide Seiten
Allgemeine Krankheitszeichen. 237
des Umschlags, an verschiedene Personen auf demselben Blatte.
Dabei laufen Klexe, Fettflecken, Unsauberkeiten in Menge mit
Schriftprobe IV. Leichte Ataxie.
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Schriftprobe V. Hochgradige Ataiie
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Schriftprobe VI. Flüchtige Schrift mit Aus- Schriftprobe VII. Schrift mit starkem
lassungen und Zusätzen. Druck und Buchstabenverdoppelung.
238 VI- Die Dementia paralytica.
unter, so dass die Entzifferung nicht selten völlig unmöglich
wird. In roanchen Fällen wird auch längere Zeit hindurch
wahre Paragraphie beobachtet; ich sah eine Kranke, die sich
mündlich durchaus geläufig und fast ohne Andeutung einer
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Schriftprobe VIII. Schrift mit Auslassungen und Wiederholungen.
Schriftprobe IX. Paragraphische Schrift.
Sprachstörung ausdrücken konnte, auf dem Papier aber nur ganz
unsinnige Buchstabenverbindungen zu Stande brachte. Die Probe IX
rührt von derselben her. Bei weit vorgeschrittener Krankheit besteht
meist völlige Agraphie. Die Kranken sitzen rathlos vor ihrem Brief-
bogen da, ohne etwas anderes, als einige unsichere Linien mühsam
hinzumalen, um nach manchen vergeblichen Yersuchen ihre Be-
Allgemeine Krankheitszeichen. 239
mühungen aufzugeben, weil sie „Rheumatismus in der Hand" oder
,,keine Brille da hätten'^
"Weniger, als die Störungen bei den so überaus feinen und ver-
wickelten Leistungen des Schreibens und Sprechens, fallen zunächst
die krankhaften Abweichungen bei gröberen Bewegungen ins Auge.
Freilich wird der Paralytiker sehr bald zu allen Beschäftigungen
untauglich, welche eine besondere Handfertigkeit erfordern, zum
Ciavierspielen, zum Einfädeln von Nähnadeln, zum Ausführen feiner
mechanischer Arbeiten, Späterhin treten diese ataktischen Störungen
deutlicher hervor und können in einzelnen Fällen sehr auffallend
werden. Die täppische Langsamkeit und Ungeschicklichkeit beim
Zugreifen, Knöpfen, das stossweise, in Absätzen erfolgende Drücken
der Hand lässt erkennen, dass die Fähigkeit zu einer feineren
Regelung der Bewegungen verloren gegangen ist, wenn auch
die grobe Kraft, abgesehen von den bisweilen an die Anfälle sich
anschliessenden Hemiparesen, noch ziemlich normal erscheint. Hie
und da beobachtet man ausgeprägtes Intentionszittern, in einzelnen
Fällen choreatische Muskelunruhe, wechselnde, zuckende Bewegungen
in den verschiedensten Muskelgebieten, Gesichterschneiden (Huu-
tington'sche Chorea). Der Gang wird allmählich unsicher, breit-
spurig, schlürfend; zu Zeiten, namentlich vor einem Anfalle, hängt
der Kranke ganz nach einer Seite hinüber. Dazu gesellen sich ge-
wöhnlich noch die Zeichen einer Affection der Seitenstränge (Steifig-
keit, spastischer Gang) oder Hinterstränge (Romberg'sches Symptom,
Ataxie, Schleudern). Die Zeichen einer tabischen Erkrankung gehen
dem Ausbruche der eigentlichen Paralyse nicht selten längere Zeit
voraus, selbst eine Reihe von Jahren (ascendirende Paralyse).
Schhesslich werden die Kranken immer dauernd bettlägerig, gewöhn-
lich mit mehr oder weniger ausgesprochenen Contracturen und all-
gemeinem Muskelschwund. Besonders auffallend pflegt dabei die
vorgebeugte Haltung des Kopfes zu sein, der gewöhnlich nicht auf
der Unterlage auf ruht, sondern unter starrer Spannung der Hals-
muskeln dauernd frei getragen wird. Nicht selten kann man in
diesen letzten Abschnitten der Krankheit leichtere und stärkere
Zuckungen in einzelnen krampfhaft gespannten .Muskelgruppen be-
obachten, namentlich bei Bewegungsversuchen und passiven Lage-
veränderungen, aber auch in voller Ruhe. Einmal sah ich gekreuzte
Radialis- und Peronaeuslähmung, ohne Zweifel neuritischen Ursprungs.
240 ^'^I- Diö Dementia paralytica.
Aehnlich sind wol auch die seltenen örtlichen Muskelatrophien auf-
zufassen, doch werden einzelne Fälle berichtet, in denen Syringo-
myelie vorhanden war.
Die allgemeine Reflexerregbarkeit ist in der Regel erhöht,
bisweilen so stark, dass eine heftige Bewegung gegen das Gesicht
des Kranken ein Zusammenfahren des ganzen Körpers zur Folge
hat. Die Untersuchung der Sehnenreflexe erweist sich häufig als
sehr schwierig, da die Kranken ihre Muskeln durchaus nicht ent-
spannen. Gelingt es endlich, durch Zuhülfenahme der bekannten
Kunstgriffe (psychische Ablenkung, Jendrassik'sches Verfahren)
zum Ziele zu kommen, so findet man die Sehnenreflexe je nach dem
Sitze der Rücken markserkrankung bald hochgradig gesteigert, so
dass Fussklonus und saltatorischer Reflexkrampf (beim Aufsetzen
der Zehen auf den Boden) auftritt, bald aber auch abgeschwächt
oder vollständig erloschen (in 20 — 30 "/p der vorgeschrittenen Fälle) ;
hie und da finden sich Unterschiede auf beiden Seiten. Fehlen des
Patellarreflexes scheint sich auch hier besonders häufig mit völliger
Pupillenstarre und Myosis zu verbinden. Die elektrische Erregbar-
keit der Muskulatur soll anfangs erhöht sein; später ist sie herab-
gesetzt.
Yon Seiten der Blase sind auch ausserhalb der Anfälle häufig
Störungen vorhanden, sowol Schliessmuskellähmung wie Harnver-
haltung, erstere meist als Folge der letzteren (Harnträufeln). Die
Trägheit des Mastdarms kann zu massigen Kothstauungen führen;
andererseits besteht in allen vorgeschrittenen Fällen völlige Unfähig-
keit, den Koth zurückzuhalten, zum Theil vielleicht wegen Lähmung
der Schliessmuskeln , namentlich aber deswegen, weil der Kranke
die herannahende Entleerung ebensowenig bemerkt wie die Füllung
der Blase bis zum Nabel. Die sexuelle Potenz erlischt, nach-
dem anfangs nicht selten die geschlechtliche Erregbarkeit stark ge-
steigert war.
Unter den vasomotorischen Störungen sind vor allem die
häufigen Blutwallungen zum Kopfe, Erytheme, lange dauernde Nach-
röthung der Haut und selbst Quaddelbildung bei leichten Reizen,
Cyanose zu nennen. Die Sphygmographencurve zeigt öfters all-
mähliches Ansteigen und Erniedrigung der Gipfelwelle („tarde"
Pulsformen), Erscheinungen, die sich auf eine langsamere und wenig
kräftige Ausdehnung der Gefässwand beziehen lassen. An den zu-
Allgemeine Krankheitszeicbeii. 241
gänglichen Arterien, besonders den Temporales, wird nicht selten
starke Schlängelung, auffallendes Hervortreten und Starre als An-
zeichen atheromatöser Erkrankung beobachtet. Mit diesen Gefäss-
veränderungen stehen ohne Zweifel auch die sog. „trophischen"
Störungen in allernächster Beziehung. Es giebt eine ganze Anzahl
von Begleiterscheinungen der Paralyse, deren Auftreten mau vielfach
als eine nnmittelbare Folge der Entartung gewisser trophischer, die
Ernährung der Organe regelnder Nervenbahnen ansieht, den Decu-
bitus, die Rippeubrüche, die Ohrblutgeschwulst, ja auch die so
häufigen Pneumonien, die man wol auf einen Nachlass der Vagus-
innervation zurückgeführt hat. Ein unbestreitbares wissenschaftliches
und fast noch mehr praktisches Yerdienst Gudden's ist es, den
Nachweis geführt zu haben, dass alle jene Störungen nicht aus
inneren Ursachen, sondern ganz ausnahmslos unter der Einwirkung
äusserer Schädlichkeiten sich entwickeln.
Freilich wird man kaum umhin können, eine Herabsetzung der
allgemeinen Widerstandsfähigkeit der Gewebe bei Paralytikern als
Hülfsursache anzunehmen, da hier sehr schwere Störungen schon
bei verhältnissmässig geringen Reizen zu Stande kommen. Die Ent-
stehung des Druckbrandes erklärt sich in erster Linie dadurch,
dass die Kranken wegen ihrer Unempfindlichkeit nicht, wie jeder
Gesunde, durch unangenehme Druckgefühle zu häufigem Lagewechsel
angetrieben werden, oder doch wegen ihrer Unbehülflichkeit denselben
nicht auszuführen vermögen, sondern wie ein Klotz im Bette liegen.
Unter diesen Umständen kann man schon nach 1 — 2 Stunden, be-
sonders bei Uebereinanderliegen der abgemagerten Beine oder beim
Sitzen auf einer harten Nachtstuhlkante starke Röthung, Quaddel-
und selbst Blasenbildung entstehen sehen, während eine einzige un-
bewachte Nacht vollauf genügt, um eine mehrere Centimeter in die
Tiefe greifende Gangrän zu erzeugen. Ausserdem aber beobachtet
man bei sehr heruntergekommenen Paralytikern bisweilen das Auf-
treten eigenthümlich kreisrunder, oberflächlicher Hautnekrosen an
Stellen, welche durchaus keinem Drucke ausgesetzt gewesen sind.
Endhch ist bei den unreinlichen, wenig widerstandsfähigen Kranken
natürlich ein günstiger Boden für die Entwicklung von infectiösen
Hauterki'ankungen, insbesondere von Furunkeln. Rippenbrüche
und Othämatome kommen bei Paralytikern verhältnissmässig häufig
und bisweilen in schreckenerregender Ausdehnung zu Stande, weil
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. IG
242 ^^I- I^ie Dementia paralytica.
die Kranken sehr ungeschickt, dabei unruhig und vor allem ausser
Stande sind, sich zu vertheidigen und zu beklagen, so dass sie hülf-
los den Misshandlungen ihrer Umgebung preisgegeben erscheinen.
Ganz gewiss aber spielen auch hier besondere begünstigende Ur-
sachen eine wesentliche Rolle, Ernährungsstörungen im Ohrknorpel
und ungewöhnliche Brüchigkeit der Rippen, von der man sich an
der Leiche häufig genug überzeugen kann. Sie scheint auf einem
einfachen Schwund der Knochenmasse mit Ersatz durch Fett zu be-
ruhen und ist wol eine Theilerscheinung der allgemeinen Ernährungs-
störung in der Paralyse. Auch der geringen Inanspruchnahme der
Rippen in Folge von Herabsetzung der Athembewegungen hat man
dabei eine gewisse Bedeutung zugeschrieben. Dennoch steht die
Thatsache unzweifelhaft fest, dass mit der besseren Ausbildung und
Ueberwachung des Wartpersonals die Zahl der Rippenbrüche wie
der Ohrblutgeschwülste regelmässig abnimmt.
Störungen der Eigenwärme sind in der Paralyse überaus
häufig. Flüchtige, aber oft recht bedeutende Temperatursteigerungen
werden vielfach beobachtet, ohne dass sich immer ein greifbarer
Anlass dafür erkennen liesse. Bisweilen fördert dann eine Eingiessung
gewaltige Kothmassen zu Tage ; die Blase ist überfüllt, oder es wird
irgendwo ein Rippenbruch entdeckt. In anderen Fällen mögen
leichte bronchitische oder pneumonische Störungen zu Grunde liegen.
Seltener dürften diese Fieberbewegungen unmittelbar mit der Hirn-
erkrankung im Zusammenhange stehen. Dagegen ist eine solche
Beziehung wahrscheinlich bei den Wärmesteigerungen, welche die
daraly tischen Anfälle zu begleiten pflegen. Bei längerer Dauer dieser
letzteren treten allerdings gewöhnlich noch andere fiebererregende
Ursachen hinzu, namentlich Schluckpneumonien. In den letzten
Stadien der Paralyse kommt es nicht selten zu anhaltender, beträcht-
licher Temperatursenkung, die von den Kranken auffallend gut er-
tragen wird. Ich sah einen Paralytiker unter massenhafter Nahrungs-
aufnahme mit Temperaturen bis zu 30,8 herunter wochenlang munter
und lebhaft erregt bleiben.
Yon den übrigen Leistungen des Organismus sind es nament-
lich der Schlaf, der Appetit und das Körpergewicht, welche
durch die Paralyse durchgehends in Mitleidenschaft gezogen werden.
Der Schlaf ist in den ersten Stadien der Krankheit vielfach sehr
gestört, später in den Erregungszuständen oft zeitweise ganz auf-
Allgemeine Krankheitszeichen. 243
gehoben, während er gegen das Ende hin wieder besser wird,
obgleich hier bei dem blödsinnigen Hindämmern der Kranken ein
sicheres Urtheil über diesen Punkt kaum möglich ist. Bei manchen
Kranken entwickelt sich eine förmliche Schlafsucht, so dass sie
eigentlich nur dann wach sind, wenn sie essen oder wenn man sich
gerade mit ihnen beschäftigt, während sie unmittelbar nachher sofort
wieder einschlafen. Der Appetit pflegt anfangs und in der Auf-
regung herabgesetzt zu sein, um späterhin gewöhnlich in wahre Ge-
frässigkeit überzugehen; bisweilen wird "Wiederkäuen beobachtet.
Das Körpergewicht sieht man im Beginne und auf der Höhe der
Krankheit sinken, dann aber bei dauernder Beruhigung unter massiger
Fettansammlung sehr bedeutend, bis weit über die Norm hinaus an-
steigen und endKch gegen das Ende hin wieder unaufhaltsam bis
zum tiefsten Marasmus herabgehen. Einen Theil dieses Verlaufes
zeigen die beiden umstehenden Cui-ven. Die erste derselben beginnt
mit sehr tiefem Stande bei anfänglicher Erregung; dann tritt aber
ein ungemein rasches Ansteigen ein, das nur von Zeit zu Zeit durch
kleine Rückschläge unterbrochen ist, welche, wie durch Sternchen
angedeutet, fast immer von paralytischen Anfällen begleitet werden.
Nach mehr als zwei Jahren beginnt ein langsamer Abfall, der in-
zwischen weiter fortgeschritten ist; die Kranke ist nach 41/2 jährigem
Aufenthalte in der KKnik im Anfalle gestorben. Bei dem zweiten
Kranken lässt die Curve gut die jedesmalige rasche Beruhigung in
der Anstalt erkennen. Mt dem Ansteigen des Gewichtes stellte
sich regelmässig eine Remission ein, welche auch nach der Entlassung
eine längere Reihe von Monaten Stand hielt.
Deuten alle die letztbesprochenen Störungen auf den Ablauf tief-
greifender Stoffwechselveränderungen in der Paralyse hin, so dürften
die leider noch zu wenig verarbeiteten Befunde von Eiweiss und anderen
krankhaften Bestandtheilen im Harn (Glykosurie, Diabetes) in gleichem
Sinne als Theilerscheinungen des allgemeinen Krankheitsvorganges
Beachtung verdienen. Auch die vielfachen Untersuchungen über
das Blut der Paralytiker, die ein helleres Licht auf die all-
gemeine Ernährungsstörung werfen könnten, haben, abgesehen
von den Angaben über die Herabsetzung des Hämoglobingehaltes,
noch nicht zu einwandfreien und übereinstimmenden Er-
gebnissen geführt. Neuerdings fand Idelson Herabsetzung
oder völliges Fehlen der bakterientödtenden Wirkung des Blutes;
16*
244
VI. Die Dementia paralytica.
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245
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Giftigkeit desselben er-
Iiöht gefunden. —
Die Mannigfaltigkeit
der Krankheitsbilder,
welche sich aus den bis
hierher besprochenen
einzelnen Störungen er-
fahrungsgemäss zusam-
mensetzen, ist eine so
grosse, dass es kaum
möglich erscheint, eine
auch nur einigermassen
befriedigende Uebersicht
über die klinischen Ge-
staltungsformen der Pa-
ralyse zu geben. Wenn
wir auch überall dem
gemeinsamen Grundzuge
der eigenartigen psychi-
schen Schwäche, den
Zeichen des organischen
Hirnleidens und endlich
dem unerbittlich bis zur
Vernichtung des geisti-
gen und körperlichen
Lebens fortschreitenden
Verlaufe begegnen , so
können doch die ge-
gebenen Beobachtungen
in ihrer Entwicklung wie
in ihren Zustandsbildern
derartig von einander
abweichen, dass dem
Anfänger die allgemeine
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di freniatria XVIII, 212.
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246 ^I- I^iö Dementia paralytica.
Zusammengeliörigkeit durch den starken Eindruck widersprechen-
der Einzelheiten völlig verdeckt ^vird. Erst eine vorgeschrittenere
Erfahrung lehrt uns, dass alle die anscheinend so verschieden-
artigen Gestaltungsformen unvermittelt und unberechenbar in
einander übergehen können und nur die oben gekennzeichneten
Grundzüge „den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht'^
abgeben. Alle klinische Einzelschilderung, alle Abgrenzung von
bestimmten Krankheitsbildern auf dem grossen Gebiete der Paralyse
hat daher zunächst nur einen sehr bedingten Werth. Immer-
hin wollen wir der Uebersichtlichkeit halber im Folgenden versuchen,
hergebrachter Weise als hauptsächlichste Yerlaufsarten der Paralyse
die depressive, die expansive, die agitirte und die demente
Form derselben auseinanderzuhalten. Vielleicht lehrt uns einmal
eine bessere Kenntniss der ursächlichen oder der pathologisch-anato-
mischen Verhältnisse des Leidens unter neuen Gesichtspunkten auch
für die klinischen Beobachtungen eine zuverlässigere Gruppirung
erreichen.
Die depressive Form der Paralyse ist gekennzeichnet durch
depressive Verstimmung und Wahnideen, welche den ganzen
Krankheitsverlauf bis zur völligen Verblödung des Kranken begleiten.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die traurige Verstimmung liäufig von
dem Krankheitsgefühle des Eingangsstadiums, welches im übrigen
die allgemeinen, schon früher geschilderten Anzeichen einer allmählich
fortschreitenden Schwäche des Gedächtnisses und des Verstandes,
einer erhöhten augenblicklichen Eeizbarkeit neben gemüthlicher
Stumpfheit und Willenlosigkeit darbietet. Es sind daher zumeist
hypochondrische Ideen, in denen sich die Verstimmung der
Kranken ausdrückt. Sie sind unheilbar krank, syphilitisch, innerlich
verfault, haben gefühlt, wie ein Giftbrocken in den Kopf gefahren
ist; es haben sich Gefässveränderungen entwickelt, weil ihnen früher
einmal ein Blutegel angesetzt wurde; der Schädel ist weich ge-
worden, an einer Stelle aufgetrieben, das Gehirn ausgetrocknet „wie
ein Sumpf", die Nerven vom Denken überreizt. Meist bestehen
mannigfache unangenehme Empfindungen in den verschiedensten
Theilen des Körpers, die vielfach wechseln und auch wol durch
Einreden beeinflusst werden können. Die Kranken suchen daher
wegen allerlei wenig greifbarer Beschwerden die Hülfe des
Arztes auf, der sie beim Mangel oder bei Nichtbeachtung eines
Depressive Form. 247
objectiven Befundes für neurasthenisch, hysterisch, hypochondrisch
erklärt.
Allmählich gewinnen die Klagen der Kranken einen ganz un-
sinnigen Inhalt. Sie haben keine Nase, keine Augen, keine Leber
und keine Nieren mehr, haben zwei Leiber; der Magen ist abgedrückt,
der Schlund, der Mastdarm zugewachsen, zugenäht, durch einen Kork
verschlossen, so dass sie weder etwas gemessen noch etwas entleeren
können. Der Scliädel ist leer, der Kopf verbrannt; die Eingeweide
sind verfault, mit Milben vollgestopft. Der Magen, ja auch die
Matratze füllen sich immerfort mit Urin; das Essen steigt in den
Kopf hinein oder fällt nur gerade so hinunter; die Lungen sind
verschwunden; die Beine werden zu Eis; alles läuft als Speichel
zum Munde heraus. Es ist Musik im Leibe; alles ist mit Gestank
erfüllt. Der Kopf ist ganz klein zusammengeschrumpft, ausgewechselt
oder gänzlich verloren gegangen, die Zunge angefroren, der Leib
aufgeblasen. Arme und Beine haben sich ungeheuerlich ausgedehnt;
die Kippen sind riesengTOSs, die Ohren von Holz, die Zunge von
Gold; in der Seite stecken 3000 Mark; 100 Pfund Steine liegen auf
der Brust. Der ganze Mensch ist verdoppelt, viereckig, in ein Pferd
verwandelt, unsichtbar, bereits gestorben, ist „schon längst nichts
mehr gewesen", begraben, eine „lebendige Leiche", hat gar keinen
Namen. Alle diese „mikromanischen" Yorstellungen versetzen den
Kranken in lebhaftes Unbehagen und vermögen, wenn sie auch zu-
meist nicht weiter verarbeitet werden, doch sein Benehmen oft
lange Zeit zu beeinflussen. Er bemüht sich wochenlang auf alle
"Weise, durch seinen zugewachsenen Schlund etwas hindurch zu
bringen, hantirt unablässig an seiner Zunge, am After, an den
Genitalien herum, sitzt mehrere Stunden täglich auf dem Nacht-
stuhl in der verzweiflungsvollen Erwartung dessen, was kommen
soll; er vermeidet ängsthch jede Lage Veränderung, weil er seine
ungeheuren Hände nicht bewegen kann oder die winzigen Beine
unter der Last des mächtigen „Kikerikikopfes" zusammenbrechen
müssten.
Mit diesen hypochondrischen Vorstellungen verbinden sich viel-
fach Versündigungsideen; seltener beherrschen diese letzteren
allein das Krankheitsbild. Zunächst können die Selbstvorwürfe ganz
an diejenigen der Melanchohker erinnern. Die Kranken sind grosse
Sünder und Verbrecher, jammern darüber, dass sie kein Herz und
248 VI- Die Dementia paralytic-a.
keine Liebe mehr haben, ein Gelübde nicht erfüllt, unkeusch ge-
lebt, Yieles gestohlen hätten. Andere glauben, einen Meineid ge-
leistet, den heiligen Geist betrübt, Deutschland verrathen, die ganze
Welt ermordet und zu Grunde gerichtet zu haben; „die ganze Welt
weiss es"; man „macht ihnen Yerbrechen". Eine meiner Kranken
wurde bei völliger Besonnenheit Monate lang von der Idee ver-
folgt, dass sie ihre Kinder ermordet, Nadeln und Glas in das Essen
gethan habe. Ton den ihr begegnenden Menschen meinte sie immer,
einen bei Seite gebracht nnd alle Zeugen zum Schweigen bestochen
zu haben. Ein anderer schrieb einen langen Brief an den Erz-
bischof, in "welchem er mit genauen Zahlenangaben die verschieden-
artigsten Unkeuschheiten aufführte, die er sich habe zu Schulden
kommen lassen. Im Anschlüsse an die Yersündigungsideen fürchtet
der Kranke gewöhnlich, dass die Polizei kommen, ihn aufgreifen, er-
hängen, vergiften, verbrennen, in einen Sack stecken, ihm die Glieder
abhacken, die Haut abziehen werde ; er wünscht, vor Gericht geführt,
in Stücke zerhackt, im Backofen gebraten, von drei Ochsen aus-
einandergerissen zu werden, sieht in den Personen seiner Umgebung
Spione und gedungene Mörder. Ein Kranker ging auf den Kirchhof,
um sich sein Grab auszusuchen.
Solche und ähnliche Verfolgungsideen können auch den
einzigen Inhalt des depressiven Wahnes bilden. Dieselben werden
dann meist von Gehörstäuschungen begleitet. Der Kranke hört
seine Lieben weinen, um Hülfe rufen ; Gott spricht zu ihm. Stimmen
bedrohen, beschimpfen, beschuldigen ihn der scheusslichsten Yer-
brechen. Er soll gestohlen, sich mit Thieren vergangen haben,
ist verhext, in der Hölle, ganz arm geworden. Man will ihn und
seine armen Kinder umbringen, ihm den Leib aufschneiden; er
soll fort, vor ein Kriegsgericht geschleppt werden. Seltener sind
Täuschungen der übrigen Sinne. Der Kranke sieht feurige Schlangen
in der Luft, Löwen, weisse Gestalten; die Lichterscheinungen bei
beginnender Sehnervenatrophie hält er für künstlichen Trug; im
Essen ist Gift, Ungeziefer, Menschenfleisch. Das Bett brennt wie
Feuer, wird von elektrischen Schlägen durchzuckt; alles ist ge-
storben; die ganze Welt geht unter. Yon Knoten werden immerfort
schreckliche Yerbrechen vollführt; es wird eingebrochen, Feuer an-
gelegt. Ein harmloses Geräusch im Nebenzimmer kündigt dem
Kranken die Käuber an, die sich im nächsten Augenblicke auf ihn
Depressive Form. 249
stürzen werden. Ein derartiger Kranker meiner Beobachtung ver-
wüstete in seiner Angst sein ganzes Zimmer und hätte um ein Haar
seine Frau umgebracht, die er für einen Einbrecher hielt, bis man
sie aus seiner Gewalt befreite.
Die Besonnenheit pflegt sich bei diesen letzteren Formen
der depressiven Paralyse vielfach zu trüben. Die Kranken verlieren
meist rasch die Fähigkeit zu ruhiger Auflassung ihrer Lage und
ihrer Umgebung, werden oft ganz verstört, stier benommen, verkennen
die Personen, beziehen jede Aeusserung und jedes Ereigniss in ihrer
Umgebung im Sinne ihrer Angst auf sich, so dass sie dauernd von
verworrenen Schreckbildern erfüllt sind. Sie sind an allem Schuld,
müssen für alles büssen, regen die Andern auf, entziehen Jenen
das Essen. Alles ist verkehrt, wirbelt durcheinander. Die Kranken
beten, bitten, flehen um Gnade, sind äusserst schreckhaft und miss-
trauisch, zerkratzen sich, zupfen an ihren Fingern, zerkauen die
Nägel, verkriechen sich, laufen halbnackt herum. Manche Kranke
gerathen in fassungsloseste Verzweiflung, sehen sich mit dem Aus-
drucke des Entsetzens bei jedem Geräusche um, in der Erwartung,
von irgend etwas Schrecklichem betroffen zu werden; sie schreien
unausgesetzt aus Leibeskräften die gleichen, abgerissenen Worte:
„Gift", „Unglück", „Sterben" u. dergl., oder sie vermögen in starrer
Spannung keinen Laut hervorzubringen. Ganz unfähig zu irgend
einem Entschlüsse, sitzen sie rathlos im Hemde oder vor ihrem Essen
da, ohne sich zum Ankleiden oder Zugreifen aufrafi'en zu können.
Schliesslich wagen sie sich nicht mehr aus ihrem Zimmer, ja aus
ihrem Bette heraus, in welchem sie, am ganzen Leibe zitternd und
schwitzend, mit hochgezogener Decke liegen, um jedem äusseren
Eingriffe einen blinden, rücksichtslosen Widerstand entgegenzusetzen.
Durch keinerlei Beeinflussung sind sie zu den einfachsten Mass-
regeln zu bringen, so dass die Bettlagerung, das Aufstehen, An-
und Auskleiden immer erst nach verzweifeltem Ringen mit dem
vollständig verwirrten Kranken erreicht werden kann.
Nicht selten kommt es zu gewaltthätigen, aber meist sehr unüber-
legten und unsinnigen Selbstmordversuchen oder Selbstverstümme-
lungen. Versuche, Scrotum oder Penis abzureissen, habe ich mehr-
fach erlebt. Ein Kranker hieb sich mit einem Beile glatt die ge-
sammten äusseren Genitalien ab, weil ihm Stimmen vorwarfen,
dass er sich vor Jahren von einem Herrn hatte manustupriren
250 VI- Die Dementia paralytica.
lassen; er wollte sich an dem Gliede strafen, mit dem er ge-
sündigt habe. Noch Andere verschlucken grosse Gegenstände, um
sich zu tödten; so fand ich im Darm eines derartigen Kranken
eine dicke Weichselcigarrenspitze und zwei mehrere Zoll lange
Schrauben.
Die Dauer der heftigen Angstzustände schwankt zwischen
Stunden und Wochen. Nicht selten verschwindet die ängstliche
Spannung ganz plötzlich, um sich ebenso unveruiittelt wieder ein-
zustellen. Im übrigen sind die Kranken niedergeschlagen und ver-
stimmt, aber ruhig, oft auch im Zusammenhalte mit den von ilmen
geäusserten Ideen auffallend affectlos. Ueberhaupt fehlt der gemüth-
lichen Erregung durchaus jene Nachhaltigkeit und Einheitlichkeit,
welche den nicht paralytischen Depressionszuständen eigenthümlich
ist. Zuweilen schieben sich vorübergehend Zeiten gehobener und
selbst humoristischer Stimmung dazwischen. In der Nacht tritt ein
himmlisches Wohlgefühl auf; der Kranke erzählt lächelnd, dass es
nun zu Ende gehe. Im weiteren Yerlaufe mit zunehmendem
Schwachsinn stellt sich oft ein Zustand blöden Wohlbehagens mit
einzelnen kindischen Grössenideen ein. Der Kranke ist schon eine
Ewigkeit alt; in den Wäscheschränken ist lauter Gold.
Nicht ganz selten beobachten wir im Laufe der Paralyse länger
dauernde Stuporzustände, die vielleicht an dieser Stelle Erwähnung
finden dürfen. Die Kranken sprechen weder von selbst noch auf Anreden,
liegen ohne erkennbare Antheilnahme an der Umgebung regungslos
da, nehmen keine Nahrung zu sich, lassen unter sich gehen. Ein-
dringliche Aufforderungen werden sehr langsam und zögernd, mit-
unter gar nicht befolgt. Die Stimmung ist meist ziemlich gleich-
gültig, öfters aber auch etwas ängstlich oder kleinmüthig gefärbt.
Die Auffassung und Orientirung pflegt sehr mangelhaft zu sein,
kehrt aber in der Kegel schon wieder, wenn die Kranken noch gar
nichts oder doch nur einzelne flüsternde Worte vorzubringen ver-
mögen. Wahnbildungen und Sinnestäuschungen können vorhanden
sein oder fehlen. Die Dauer solcher Zustände, die sich an die ein-
leitende Depression, aber auch an Erregungen von verschiedener
Färbung anschliessen können, beträgt bisweilen «viele Monate.
Wir haben hier endlich noch kurz einer kleinen Gruppe von
Fällen zu gedenken, in denen systematisirte Yerfolgungsideen
entwickelt werden. Die Kranken sind ruhig, vollkommen besonnen.
Dein-essive Form. 251
geordnet und erzählen in zLisammenhängonder Weise, dass man seit
einiger Zeit etwas gegen sie im Schilde führe, sie aus dem Wege
räumen wolle, dass sie beobachtet würden, unter polizeilicher Ueber-
wachung stünden, wahrscheinlich fälschlich irgend eines Verbrechens
bezichtigt seien. Auf der Reise begegaen sie verdächtigen Ge-
stalten,^ die überall wieder auftauchen; aus den Reden der Um-
gebung entnehmen sie Anspielungen auf persönliche Yerhältnisse.
Die Angehörigen haben sich nicht nur in ihrem Benehmen, sondern
auch im Aeusseren verändert; ein ganz besonnener Kranker fragte
unmittelbar nach einem mehrstündigen Besuche seiner Frau bei ihr
schrifthch an, ob sie es wirklich gewesen sei. Andere klagen, dass
man ihnen Hirngift, Yitriol und Scheidewasser in das Essen gethan,
sie dadurch aufgeregt und das Gedächtniss geschwächt, die Augen
verdorben hat; man will sie zum Halbsimpel machen. Auch Eifer-
suchtswahn ist nicht selten. Ein Kranker, der vor der Thüre seiner
wegen Misshandlung von ihm geschiedenen Frau lauerte, hörte im
Hausgang ein verdächtiges Geräusch und fand, als er eindrang, dass
der Platz noch warm war, an dem sich die Frau mit dem vermeint-
lichen Nebenbuhler gerade geschlechtlich vergangen hatte. Ein
impotenter Kranker mit tabischen Erscheinungen behauptete, dass
seine Frau ihn durch Spiegel und Elektricität zu verderben suche
und ihm Schmerzen in den Gliedern mache. Durch das Fenster
tönen Stimmen, 3 bis 4; die Gedanken werden laut; es kommen
telephonische Nachrichten; die Nachbarn verschwätzen den Kranken.
Längere Zeit hindurch können die Kranken ganz den Eindruck
von Paranoikern machen. Erst bei genauerer Prüfung entdecken wir
einzelne handgreifliche, von dem Kranken aber gar nicht bemerkte
Widersprüche in seinen Erzählungen, trotzdem er anscheinend ganz
klar und verständig ist; wiederholte Darstellungen desselben Vor-
ganges weichen von einander ab. Ferner fehlt die leidenschaftliche
Hartnäckigkeit in der Vertheidigung des Wahnes; es gelingt ver-
hältnissmässig leicht, den Kranken vorübergehend in seiner Auffassung
wankend zu machen und zum Eingeständnisse zu bringen, dass er
sich geirrt habe. Er zieht aus seinen wahnhaften Vorstellungen
nicht die naheliegenden Schlussfolgerungen für sein Handeln, sondern
zeigt gerade in dieser Beziehung eine auffallende Weichheit und
Unschlüssigkeit. Einer meiner Ki-anken, ein sehr thatkräftiger und
umsichtiger Grosskaufmann, der bei längerer Unterhaltung sonst
252 ^'I- Oie Dementia paralytica.
vollständig normal erschien, behauptete in aller Gemüthsriihe, dass
seine Frau ihn durch geschlechtliche Ueberreizung und durch plan-
mässige, geheimnissvolle Anspielungen mit Hülfe der Spiritisten
geisteskrank zu machen und zum Selbstmorde zu treiben suche, um
in den Besitz seiner Lebensversicherung zu gelangen. Trotzdem
Hess er sie sich von Amerika nachkommen und suchte sie soviel
wie irgend möglich in seiner Nähe zu haben.
Der depressiven Form der Paralyse gehören nach meinen Er-
fahrungen etwa ein viertel der Fälle an. Sie bevorzugt ein wenig
mehr die höheren Lebensalter, als die übrigen Formen; nur 36 "/^
der Kranken hatten im Beginne des Leidens das 40. Lebensjahr noch
nicht überschritten. "Vielleicht dürfen wir hier an die Neigung des
Eückbildungsalters zu Depressionszuständen überhaupt erinnern, um
so mehr, als wir bei unseren Kranken recht häufig die Zeichen eines
vorzeitigen Alterns vorfinden. Dieser Auffassung würde der weitere
Umstand entsprechen, dass hier das weibliche Geschlecht auffallend
stark (33%) betheiligt zu sein scheint, welches ja auch die meisten
Melancholien im Rückbildungsalter liefert. Remissionen sind bei
dieser Form verhältnissmässig selten (in etwa 12°/o der Fälle);
paralytische Anfälle kamen nach meiner Erfahrung bei fast einem
viertel der Kranken zur Beobachtung. Fügen wir hinzu, dass die
Dauer der Krankheit in 70% der Fälle den Zeitraum von zwei
Jahren nicht zu überschreiten pflegt, so kommen wir zu dem Schlüsse^
dass die depressive Paralyse zu den schwereren Formen der Krank-
heit gerechnet werden muss. Der Tod erfolgt bisweilen durch Selbst-
mord oder in Folge von Yerletzungen, häufiger durch Erschöpfung'
oder im Anschlüsse an paralytische Anfälle.
Die expansive Paralyse beginnt meist mit den allgemeinen
Zeichen des herannahenden Leidens, Abnahme der Arbeitsfähigkeit,
Zerstreutheit, Gedächtnissschwäche, Charakterveränderung, Reizbar-
keit; dazu gesellen sich vielleicht einzelne körperliche Andeutungen,
Kopfschmerz, Erschwerung der Sprache, Schwindelanfälle. Bisweilen
entwickelt sich aus diesen Vorboten heraus zunächst das Bild der
depressiven Paralyse mit Versündigungs- oder Verfolgungsideen und
Angstzuständen. Häufiger jedoch tritt von Anfang an sogleich eine
heitere Erregung mit blühendem Grössenwahn hervor, wenn auch
hypochondrische Anwandlungen, vorübergehende weinerliche Ver-
stimmungen keineswegs selten sind.
Expansive Form. 253
Die weitere Entwicklung der Krankheit vollzieht sich in der
Regel allmählich, seltener plötzlich und unvermittelt binnen wenigen
Tagen. Die Anzeichen von Verstimmung und Krankheitsgefühl
verlieren sich; der Kranke wird zugänglich, heiter, gesprächig,
verräth aber dabei durch den Mangel an klarem Verständnisse
für seinen Zustand und seine Lage, durch merkwürdige Urtheils-
losigkeiten und Unbesonnenheiten deutlich, dass es sich nicht um
eine Besserung, sondern nur um eine Aenderung seines Krankheits-
zustandes handelt.
Sehr bald stellt sich nun der eigenthümliche Grössenwahn ein,
die „Megalomanie^'', welche vor allem das klinische Krankheitsbil der
Dementia paralytica bekannt gemacht („classische Paralyse") und auch
die volksth um liehe Bezeichnung des ganzen Leidens bestimmt hat. Der
Inhalt desselben umfasst die gesammten Beziehungen des Kranken,
seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, sein Wissen, seine
äussere Stellung, seinen Besitz, seine Zukunft. Zunächst halten sich die
Grössenideen vielleicht noch im Bereiche des Denkbaren und Mög-
lichen und machen den Eindruck kindisch aufdringlicher Prahlereien.
Der Kranke fühlt sich so kräftig wie noch nie, ist auffallend gut
conservirt, sehr gebildet, versteht viele Sprachen, wenn er sie auch
wegen seiner Zahnlücken im Augenblick nicht sprechen kann, hat
wunderschöne Töchter. Er macht vortreffliche Gedichte, hat eine
ausgezeichnete Stimme, hohe Verbindungen, grossartige Aussichten,
verkehrt nur mit feinen Leuten, ist sehr angesehen, kann jeden Tag
die besten Partien machen, erfreut sich des besonderen allerhöchsten
Vertrauens. Sein Geschäft geht glänzend, wirft ein schönes Geld
ab; er wird es bedeutend vergrössern, überall Filialen anlegen, das
grosse Loos gewinnen, wichtige Erfindungen machen, öffentliche Vor-
träge halten, ein Buch schreiben, welches das grösste Aufsehen
machen und ihm bedeutende Summen einbringen muss; er wird
sich ein Schloss bauen, weite Reisen unternehmen. Reichstagsabge-
ordneter werden, glänzende Reden halten und ohne Zweifel binnen
kurzem ins Ministerium berufen werden, hat eine riesige Erbschaft
in Aussicht. Auf der Schule wie an verschiedenen Universitäten
hat er seine Lehrer durch seine Begabung in Erstaunen gesetzt, eine
Menge Preise gewonnen, ist Meister in allen ritterlichen Künsten,
Liebling der Frauenwelt, hat im Kriege "Wunder der Tapferkeit ver-
richtet, mehrfach durch sein persönliches Eingreifen den Sieg herbei-
254 VI, Die Dementia paralytica.
geführt, auf grossen Reisen äusserst merkwürdige Erlebnisse durch-
gemacht, ist wiederholt in höchster Lebensgefahr gewesen, aus der
er sich immer wieder durch seine unerhörte Kraft und Klugheit be-
freit hat.
Schon jetzt indessen tritt die bedeutende psychische Schwäche
des Kranken in der widerspruchsvollen Zerfahrenheit seines Wahnes,
in der traumhaften Unbefangenheit, mit der er seine Luftschlösser
aufbaut, und in der Urtheilslosigkeit gegenüber den nächstliegenden
Einwänden nur allzu deutlich hervor. Ein armer Gemeindeschreiber
erzählte mir triumphirend, dass er für jeden Tag seines Anstalts-
aufenthaltes 1000 Rubel Entschädigung verlangen und dann mit dem
erhaltenen Gelde herrlich und in Ereuden leben werde. Andere be-
rauschen sich an dem Plane, von nun an einfach alle Waaren mit
50 "/o Nutzen zu verkaufen oder sämmtliche Lotterieloose zu erwerben,
damit ihnen das grosse Loos sicher nicht entgehen könne. Einen
guten Einblick in die erregten Gedankengänge solcher Kranker ge-
währt folgende Nachschrift:
„0 Gott, 0 Gott, ich habe ja so viel Ideen, jede Secunde eine Idee; ich
werde ja noch wahnsinnig — mein armer Kopf! Ich bin das grösste Genie, das je
existirt hat und sitze hier im Narrenhause; ich armer Tropf, ich bin ja zu allem
fähig; lassen Sie mich heim zu meiner armen Frau. Ich bin Offizier; Sie dürfen
mich nicht zurückhalten; ich habe den Krieg mitgemacht; ich müsste eigentlich
im Generalstabswerk stehen, aber ich habe es nicht haben woUcn. Ich schenke
ja meine besten Ideen her; mir liegt die Literatur' und die Philosophie am Herzen;
ich kann ja meine Patente nicht alle verwerthen; ich denke ja jede Viertelstunde
ein neues aas. Wollen Sie sich Equipage anschaffen, Herr Dr.? Ich bin der
beste Pferdekenner; ich schenke Ihnen 2 prächtige Trakehner; ich baue Ihnen das
schönste Bicycle, das in Europa existirt; ich bin Ihnen ja ewig dankbar; Sie sind
mein Eetter, mein Heiland; Sie retten in mir der Welt ein Genie! Machen Sie
mich gesund ; ich küsse Ihnen aus Dankbarkeit die Stiefel ! Herr Gott, stehe mir
bei, errette mich aus diesem Narrenhaus; zerschmettere diese Leute, die mich so
misshandeln! Was ist das für eine scheussliche Anstalt; der Baumeister hat ja
gar nichts verstanden! Sehen Sie, Herr Dr., ich will Ihnen einmal zeigen, wie
Sie das umbauen. Die Anstalt ist viel zu akustisch; da müssen Filztapeten her;
die Geisteskranken dürfen Sie nicht machen lassen, was sie wollen; da muss strenge
Zucht her. Ueberhaupt räumen wir die Baracke aus, machen eine Pionirkaserne
draus; der Neckar ist ja in der Nähe. Die Irrenanstalt verlegen wir ins Schloss;
ich baue es um ; ich bin ja über die historische Bedeutung orientirt. Wir machen
da Ausgrabungen, wie die von Schliemann — ach Gott, heisst er Schliemann?
— ich verliere ja das Gedächtniss; ich bin ja wahnsinnig; ich bin verrückt; geben
Sie mir Blausäure, dass ich verrecke ; ich will gern sterben. Lassen Sie mich fort,
lassen Sie mir Handschellen anlegen und mich durch einen Polizeicommissär in die
Expansive Form. 255
Heimath bringen; ich kann mein Leben nicht im Nanenhaus zubringen; was wird
aus der Deutschen Wissenschaft, aus den Deutschen Universitäten! Ich bin doch
ein Genie, wie Sie doch merken müssen ; ich spreche doch französisch — bin ich
also verrückt? Aber ein Segen war's, dass ich in's Narrenhaus kam; soll ich
Ihnen den Faust declamiren? u. s. w."
In der Eegel nimmt die Unsinnigkeit und Abenteuerlichkeit
des Grössenwahns rasch und unaufhaltsam zu. Der Kranke glaubt
über ungeheure Körperkräfte zu verfügen, kann zehn Elephanten
heben, ist der schönste Adonis der Welt, schläft „wie Tausend in
einer Nacht", wiegt vier Zentner, nimmt jede Woche 25 Pfund zu,
hat eine eiserne Brust, geht in einer Minute tausend Meilen weit,
kann fliegen; sein Urin ist Kheinwein, seine Ausleerungen Gold.
Er hat alle Wissenschaften studirt, ist Professor für alle Fächer,
spielt den Don Carlos wie ein Gott, spricht sämmtliche Sprachen
der Welt, plaudert mit dem lieben Gott, trinkt täglich hundert
Plaschen Champagner, hält jeden Nachmittag Hochzeit, zu der alle
Fürstlichkeiten eingeladen sind, zeugt nur kaiserliche Prinzen, hat
eine goldene Frau. Er kann tausend Weiber befriedigen, alle Krank-
heiten curiren, Todte auferwecken, hat ein comprimirtes Gehirn, wird
niemals sterben. Dabei ist er Graf, Fürst, „Kaiser, Gott und Roth-
schild", „Hercules, Millionär und Wassertaucher", einstimmig zum
deutschen Kaiser gewählt, „der höchsten Natur zugetheilt", Ober-
gott, „seine eigene Grossmutter im Cubus", besitzt sämmtliche hohe
Orden, blauseidene Wäsche, Berge von Gold, ein ungeheures Ver-
mögen, Millionen mal Milliarden, ausgedehnte Jagdgründe, 600 Orlof-
traber, ungezählte Viehheerden in Marmorställen, 100 000 Schiffe,
jedes hundert Fuss lang und hundert Fuss breit, mit 10 000 elek-
trischen Schrauben, Königreiche, Erdtheile, ja die ganze Welt. Er
ist im Himmel geboren, Sohn der Frau Yenus, gestorben und wieder
auf die Welt gekommen, hat grosse Reisen gemacht, war in Amerika,
Jerusalem und Kamerun, überall auf seinem eigenen Kriegsschiffe;
er wird Reitknecht mit 10 000 Mark Gehalt, wird die Kaiserin
heirathen, jedem der Mitkranken eine Million schenken, dem Arzte
eine Million Gehalt zahlen „und die Kost", eine Brücke über den
Ocean nach Indien bauen, einen Thurm errichten in einem Garten,
der tausend Meilen lang ist, mit goldenem Dach, mit eigenem
Theater und Circus; er wird eine Flugmaschine erfinden und im
Weltall herumfliegen, ein Bergwerk bis nach Californien durch die
256 ^"I- I^iö Dementia paralytica.
Erde graben u. s. f. Meist spiegeln sich die persönliclien Lebens-
verhältnisse und Interessen in diesen Ideen wieder, aber immer in
unsinniger Verzerrung. Frauen prahlen mit ihrer Schönheit, ihrem
Schmuck, dem goldenen Taschentuch, mit Diamanten gestickt, mit
ihren zahlreichen und schönen Kindern, deren sie täglich zwei oder
mehrere gebären, erwählen sich die höchsten Würdenträger zu
Männern. Bemerkenswerth ist es, dass sich im allgemeinen die
Grössenideen der weiblichen Paralytiker in bescheideneren G-renzen zu
halten und nicht so ungeheuerlich über das Mögliche hinauszugehen
pflegen wie diejenigen der Männer.
Das Bewusstsein der Kranken ist während der Entwicklung
des Grössenwahnes meist leicht getrübt. Die Umgebung wird nur
unvollkommen und bruchstückweise von ihnen aufgefasst und ver-
standen. Ueber Zeit, Ort und Umstände vermögen sie sich keine
klare Rechenschaft zu geben, wie sich bei eingehender Prüfung
bald herauszustellen pflegt. Sie kümmern sich auch wenig um die
wirklichen Vorgänge, sind vielmehr ganz von ihren traumhaften
Glücksvorstellungen und Plänen in Anspruch genommen. Der Zu-
sammenhang ihres Gedankenganges ist regelmässig ein sehr lockerer
und kann leicht durch äussere Einflüsse gelenkt werden. Wie sie
der Augenblick eingiebt, folgen die verschiedenartigsten Ideen ein-
ander, in buntem Wechsel, unverarbeitet, voll der handgreiflichsten
Widersprüche. Seltener werden einzelne Bestandtheile des Wahnes
längere Zeit hindurch festgehalten; meist wird alles rasch wieder
vergessen oder durch Neues verdrängt. Regelmässig gelingt es,
durch Zureden den Kranken zu neuer Ausdehnung und Aus-
schmückung seiner Grössenideen, fabelhaften Erlebnisse und aben-
teuerlichen Pläne zu veranlassen. Vielfach besteht, wie in dem obigen
Beispiele, deutliche Ideenflucht. Namentlich in den Schriftstücken der
Kranken, bei den Aufzählungen ihrer Wünsche, Aufträge und Pläne
pflegt sie als Theilerscheinung der erhöhten Ablenkbarkeit klar
hervorzutreten. In einzelnen Fällen sind vorübergehend Gesichts-
oder Gehörstäuschungen vorhanden, pflegen aber nur eine geringe
Rolle im Krankheitsbilde zu spielen.
Die Stimmung des Kranken ist, übereinstimmend mit dem
Inhalte seines Wahnes, freudig gehoben, selbstbewusst und hoffnungs-
voll. Sie steigert sich vielfach zu ganz überschwänglicher, un-
beschreiblicher Glückseligkeit. Der Kranke dankt dem Himmel
Expansive Form. 257
unter heissen Freudenthränen, dass ihm eine solche Wonne be-
schieden sei. Die ganze Welt möchte er umarmen und beglücken,
wie er selbst dadurch beglückt ist, dass sich nun sein Schicksal so
wunderschön und herrlich gestaltet hat. Alles, was ihn umgiebt, ist
unübertrefflich und köstlich; seine Mahlzeiten, seine Wohnung, seine
Kleider sind eines Königs werth, seine Freunde und Bekannten aus-
gezeichnete, edle, hochgebildete Männer, seine Kinder vollendete
Muster an Wohlerzogenheit und Verstand. Hie und da schimmern
indessen durch die gehobene Stimmung leise Andeutungen eines
dumpfen Krankheitsbewusstseins hindurch, das Zugeständniss, etwas
nervös, ruhebedürftig zu sein; auch einzelne hypochondrische An-
wandluDgen werden beobachtet, die Klage, dass kein Gehirn mehr
da, das Blut eingetrocknet sei. Auch dieser Stimmungswechsel ist
in der mitgetheilten Nachschrift deutlich erkennbar.
Andererseits jedoch besteht häufig auch eine ausserordentliche
Reizbarkeit. Namentlich Zweifel oder Widerspruch gegenüber den
Grössenideen bringen den Kranken leicht in heftigen, aber rasch ver-
rauchenden Zorn, um so mehr, wenn er gerade nichts auf die Ein-
wände zu erwidern weiss. Auch gegenüber anderen Kranken wird
er bisweilen rücksichtslos gewaltthätig, da er nicht das geringste
Yerständniss für deren Zustand hat, sondern sie ohne weiteres für
freche Schwindler und für vollständig gesund erklärt. Er droht
dann, durch seine Artillerie alles zusammenschiessen, die ganze Ge-
sellschaft in Ketten schliessen, „von 100 Kamerunnegern mit eisernen
Peitschen durchprügeln" zu lassen. Nicht selten beobachtet man ganz
plötzliches Umschlagen der Stimmung in tiefe Depression oder leb-
hafte Angst mit krampfhaftem Weinen und einzelnen hypochondrischen
oder Verfolgungsideen. Freilich pflegen solche Anwandlungen einige
Stunden oder Tage nicht zu überdauern ; seltener bilden sie längere
Abschnitte im Krankheitsverlaufe.
Auf psychomotorischem Gebiete fällt an dem Kranken fast
immer eine gewisse Erregung auf, die sich unter Umständen zu
sehr erheblichen Graden steigern kann. Der Kranke ist unstät,
vielgeschäftig, unternehmungslustig, treibt sich planlos herum, knüpft
überall Bekanntschaften an, benimmt sich auffallend, lärmend, spricht
viel und laut, schreibt zahllose Briefe, geräth leicht in Streit, fängt
an, stark zu trinken, zu rauchen, zu schnupfen, geschlechtlich aus-
zuschweifen. Zugleich beginnt er, an die Verwirklichung der grossen
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. II. Band. 17
258 ^I- Die Dementia paralytica.
Pläne zu gehen, die ihm aus dem Gefühle unbegrenzter Leistungs-
fähigkeit und aus seinem lebhaften Thatendrange hervorwachsen.
Ohne jede Ueberlegung nimmt er die verschiedenartigsten Unter-
nehmungen in Angriff, die nicht nur über sein Yerständniss und
seine Geldmittel, sondern sehr bald auch über das Mögliche überhaupt
hinausgehen. Allerdings bleibt es regelmässig bei einigen unsinnigen
einleitenden Schritten, weil rasch eine neue Idee die frühere ver-
drängt. Er vergrössert plötzlich sein Geschäft, fängt an, zu bauen,
schliesst eine ganz unpassende Ehe oder betreibt seine Scheidung,
um eine vornehme Partie zu machen, zeigt aus dem Stegreif seine
Verlobung mit irgend einer reichen Erbin an, telegraphiert an
Souveräne mit der Bitte um hohe Orden oder Titel, macht gross-
artige Geschenke, kauft auf, was ihm vor das Gesicht kommt, und
bestellt ungemessene Mengen der verschiedensten Gegenstände, die
er zur Ausführung seiner Pläne zu brauchen glaubt. Einer meiner
Kranken, der reich und Liebhaberphotograph war, sandte eine Depesche
ab, mit dem Ersuchen, ihm für seinen Gebrauch Pyrogallussäure
im Werthe von 200 000 Mark zu senden. Andere studiren die An-
zeigentheile der Zeitungen und nehmen kurzer Hand alles in An-
spruch, was dort angeboten wird, Papageien und Köchinnen, Kaleschen,
Landhäuser und Heirathspartien. Auf diese Weise erklärt sich die
ausserordentliche Geschwindigkeit, mit welcher die Kranken grosse
Summen verschwenden, die heilloseste "Verwirrung anrichten und
über sich selbst wie über ihre Angehörigen die schwersten Unan-
nehmlichkeiten heraufbeschwören.
Dazu kommt, dass sich in ihrem ganzen erregten und kopflosen
Handeln deutlich jene Abstumpfung des sittlichen Gefühles geltend
zu machen pflegt, welche durch die Erkrankung regelmässig herbei-
geführt wird. Die Kranken werden nicht nur nachlässig in ihrem
Aeusseren, unsauber und unordentlich in der Kleidung, sondern sie
verhören auch das Yerständniss für die einfachsten Anforderungen
des Anstandes, erzählen schmutzige Geschichten, befriedigen ihre
Bedürfnisse ohne Kücksicht auf die Umgebung, rühmen in scham-
loser Weise die geschlechtlichen Vorzüge ihrer Frauen oder Töchter,
zeigen sich mit öffentlichen Dirnen auf der Strasse oder suchen die-
selben bei Bekannten einzuführen. Ja, wir sehen die Kranken sogar
nicht selten geradezu gefährliche und verbrecherische Handlungen
begehen, kleine Diebstähle, plumpe Betrügereien, Zechprellereien,
Expansive Form. 259
unsittliche Angriffe. Meist verfahren sie dabei so unüberlegt, dass
sie sofort entdeckt werden. Einer meiner Kranken ergriff auf dem
Bahnhofe ohne weiteres den Koffer eines neben ihm sitzenden
Keisenden und wollte damit verschwinden. Da er nachher trotz
des offenkundigsten Augenscheines oft einfach alles ableugnet, wird
der Kranke bisweilen für einen ganz besonders frechen und ge-
riebenen Gauner gehalten. Erst dann, wenn er die verschiedensten
Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, gegen die Schamhaftig-
keit, Widerstand gegen die Staatsgewalt u. s. f. begangen und
seine Familie binnen kurzer Zeit an den Bettelstab gebracht hat,
wird er endlich, gemisshandelt und gemassregelt, heruntergekommen,
von Ausschweifungen erschöpft, als krank in die Anstalt ein-
geliefert.
Vielfach tritt nunmehr eine gewisse Beruhigung ein, in welcher
der Kranke seine Grössenideen und Pläne zum Theil ableugnet, zum
Theil aber auch mehr oder weniger geschickt zu begründen weiss.
Für die Beobachtung in der Anstalt kann er, der bisweilen nach-
drücklich seine Befreiung verlangt, abgesehen von einem gewissen
Grade des Schwachsinns, unter Umständen annähernd gesund er-
scheinen, doch pflegt sich nach einem Entlassungsversuche früher
oder später in dem Handeln des Kranken die tiefe Störung kund-
zugeben, die seine gesammte Persönlichkeit erfahren hat. An-
dererseits kann das unsinnige Grössendelirium auch längere Zeit,
oft viele Monate und selbst Jahr und Tag hindurch, in allmählich
immer ausschweifenderer und zerfahrenerer Form fortdauern. Man
bemerkt sehr bald, dass die ursprüngliche Regsamkeit und Reich-
haltigkeit des Vorstellungslebens mehr und mehr verloren geht. Die
Wahnideen werden dürftiger und zusammenhangsloser, widerspruchs-
voller; die Stimmung wird matter und theilnahmloser , und der
Thatendrang beschränkt sich schliesslich auf das Verfassen von un-
entzifferbaren Briefen und Depeschen, das Entwerfen kindisch un-
geschickter Zeichnungen und Pläne, das Ansammeln allen möglichen
Unraths in den vollgestopften Taschen, das Schreiben endloser
Zahlenreihen, in denen sich das unermessliche Vermögen des Kranken
oder der Gewinn ausdrückt, den er durch seine Unternehmungen
zu erzielen hofft. Nach und nach wird der Kranke immer blöd-
sinniger und stumpfer, wenn auch ein matter Abglanz des Grössen-
wahns bisweilen noch lange Zeit seinen Stimmungshintergrund, er-
17*
260 VI. Die Dementia paralytica.
hellt. Zufrieden, mit freundlichem, glücklichem Gesichte, sitzt er da
und lallt vielleicht noch mit kaum verständlicher Sprache einzelne
aus den Grössenideen herübergenommene Worte: „gutes Essen",
„Millionen", „schöne Pferde", „goldene Kaiserin", bis endlich auch
die letzte derartige Erinnerung mit der vollständigen Yernichtung
der psychischen Persönlichkeit erlischt.
Der expansiven Paralyse dürften etwa Io—IQ^/q der Fälle an-
gehören. Ihre Dauer ist im allgemeinen eine längere, als diejenige
der anderen Formen; von den in den letzten 7 Jahren bei uns ver-
storbenen Kranken ging nur etwa ^s innerhalb der ersten zwei
Jahre zu Grunde. Einzelne Fälle konnte ich bis zu 14 jähriger Dauer
verfolgen. Erklärt wird dieser langsame Yerlauf vor allem durch
die häufigen Remissionen, die ich in einem Drittel meiner Fälle
auftreten sah. Namentlich beobachtet man hier nicht selten Jahre
vor dem Auftreten der eigentlichen Krankheit einzelne Krankheits-
erscheinungen, Doppeltsehen, Schwindelanfälle, Reizbarkeit, Er-
regung, Yersagen der Sprache, welche dann völlig wieder zurück-
treten können, llir ist es unzweifelhaft, dass wir jene Störungen,
sofern sie in das klinische Bild der Paralyse hineinpassen, als erste
leise Anfänge des Krankheitsprocesses aufzufassen haben. So sah
ich noch 1884 einen Fall, in welchem durch derartige Yorboten ein
ursächlicher Zusammenhang mit dem Kriege von 1870 wahrschein-
lich wurde.
Das Schwanken zwischen depressiven und expansiven Zuständen,
wie wir es oben kennen gelernt haben, kann sich in einzelnen
Fällen mehrmals hintereinander wiederholen, so dass kürzere oder
längere Zeiten heitersten Grössenwahns mit dem Yersinken in
ängstliche Yerstimmung, hypochondrische Yerzweiflung oder vöUige
Stumpfheit abwechseln. Diese Yerlaufsart hat man auch wol als
circuläre Form der Paralyse bezeichnet. Die äussere Aehnlich-
keit mit gewissen Fällen von circulärem Irresein ist bisweilen
eine sehr grosse. Trotzdem wird man sie von diesem letzteren
wegen ihrer schleppenden Entstehimgsweise in reiferem Lebensalter,
wegen der Unregelmässigkeit der einzelnen Abschnitte, namentlich
aber wegen der deuthchen Anzeichen zunehmender psychischer
Schwäche, wegen der nervösen Störungen und des fortschreiten-
den Yerlaufes bei längerer Beobachtung immer abzugrenzen im
Stande sein. —
Agitirte Form. 261
Die agitirte Paralyse ist diejenige Yerlaufsart der expansiven
Form, bei welcher ausgeprägtere manisclie und deliriöse Erregungs-
zustände das Krankheitsbild beherrschen. Gerade bei dieser Form
sind die einleitenden Störungen häufig sehr gering, so dass die
Krankheit öfters ganz plötzlich hereinzubrechen scheint. Meist ent-
wickelt sich hier sofort ein fast noch blühenderer und unsinnigerer
Grössenwahn, als wir ihn schon bei der expansiven Form kennen
gelernt haben. Binnen wenigen Tagen wird der Kranke von allen
seinen früheren Leiden und Gebrechen geheilt; er besitzt die Krone
vom Heiland, eine Villa im 8. Himmel, führt eine neue Zeit-
rechnung herbei und rückt auf zimi höchsten Gott, der ewig gelebt
und das Weltall erschaffen hat. Er kann Menschen und Pferde
künstlich machen, Todte auferwecken, ist Naturmensch, Graf Reinach,
König von Spanien. Sonne, Mond und Sterne gehorchen seinen
Befehlen; mit Gedankengeschwindigkeit vermag er sich an jeden
Punkt des Himmels zu versetzen. Er hat alle Kriege geführt, alle
Schlachten gewonnen, die grössten Entdeckungen und Erfindungen
gemacht, alle grossen Männer aller Zeitalter persönlich gekannt
oder selber erzeugt. Er gebietet über fabelhafte Reichthümer,
deren Werth in Zahlen überhaupt nicht ausgedrückt werden kann,
über Decillionen oder Decilliarden, baut im Nu die prachtvollsten
Schlösser und Dome aus violetter Mondkohle, Diamanten und
Edelsteinen, befruchtet Tausende der schönsten "Weiber mit den
herrlichsten Göttersöhnen. Bisweilen verbinden sich Grössen- und
Kleinheitsideen in unentwirrbarer Weise miteinander. Der Kranke
ist verzweifelt darüber, dass er sich in seiner Dummheit in die
Anstalt begeben hat, statt seine Millionen deutscher Reichspatente
auszunutzen und sich als Kaiser krönen zu lassen. Dadurch ist ihm
der Hals zugewachsen, und er hat unermesslichen Schaden. Aber
er wird so viele Milliarden unter die Leute vertheilen, dass Niemand
mehr von seiner Verrücktheit sprechen wird. Sein Bauch ist voll
Eiter, sein Kopf mit Käfern gefüllt, Gedächtniss und Verstand
verloren, aber er wird wiedergeboren, bekommt ein neues Hirn
und stärkere Muskeln, andere Augen. In den plötzlichen Ver-
zweiflungsanwandlungen kann es zu triebartigen Selbstmordversuchen
kommen.
Hier pflegt auch die Aufregung eine sehr viel stärkere zu sein.
Zeitweise kommt es zu ideenflüchtiger Verworrenheit mit grosser
262
YI. Die Dementia paralytica.
Reizbarkeit und Gewaltthätigjjeit. Eine solche Kranke lieferte folgende
abgerissene Sätze:
„Das war eine Qual, in diesem Saal, nur tlas Knicken und das Knacken;
sie haben's getban, sie haben's gethun, sie haben nichts verschuldet. Nicht sie,
nicht ich, nicht sie, nicht ich, nur die eine vereinte menschliche Natur, nein,
nein, nein, nein, nur die Spur, zu dem Hang, der Natur, ja, ein ruhiges Gewissen,
wird mir stets den Schlaf versüssen, lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald.
Wörrishofer Kurgast, als gerathen, die isst Hasenbraten, ein Kurgast, diese Kuh,
die macht Muh. Ach, da ruckt's, ach da spuckt's, mit dem einen, mit dem kleinen,
vereinbarten Ding, in dem Eing, der menschlichen Natur."
Der Kranke ist Tag und Nacht unruhig, ohne Unterbrechung
mit seinen unendlichen Plänen beschäftigt, Befehle in alle Himmels-
richtungen telephonirend, lacht, schwatzt, singt unaufhörlich, hält
Zwiegespräche mit Gott, masturbirt, ist unrein und schmiert mit dem
Essen und seinen Ausleerungen herum. Er schläft fast gar nicht,
nimmt sehr unregelmässig Nahrung zu sich, da er unvergleichlich
viel Besseres zu beanspruchen hat; sein Körpergewicht sinkt sehr
rasch. Nicht selten sind subnormale Tempera-
turen; mehrfach sah ich die Anzeichen eines
Diabetes insipidus.
Die schwersten Fälle der agitirten Paralyse
hat man bisweilen mit dem Namen der
galoppirenden Paralyse belegt. Es handelt
sich dabei um einen überaus raschen, tödt-
lichen Verlauf der Erkrankung unter den
Erscheinungen hochgradigster psychischer
und nervöser Erregung mit plötzlichem
Zusammenbruche. In der Regel bildet dieses
stürmische Krankheitsbild den Abschluss einer
agitirten, seltener depressiven Paralyse; es
giebt aber auch Fälle, die von vorn herein in
(lieser Weise verlaufen. Unter rasch sich
steigernder Erregung wird der Kranke voll-
kommen verwirrt und unbesinnlich, stösst nur
unarticulirte Laute oder stereotype, unsinnige
Silben aus, wälzt sich am Boden, zappelt mit
Armen und Beinen, schläft nicht, nimmt keine
Curve vm Nahrung zu sich, sondern spuckt alles wieder
Gaioppirende Paralyse. aus, lässt Koth uud üriu uuter slch gcheu. Das
tau
\
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1W
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130
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110
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100
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\
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HO
Agitirte Form. 263
Körpergewicht sinkt mit erschreckender Schnelligkeit, wie die
Curve VIII zeigt; der Puls ist klein und frequent, die Temperatur
erhöht (38 — 39 0), wahrscheinlich meist wegen der zahlreichen
Quetschungen und Hautabschürfungen, die sich der Kranke
in seiner sinnlosen Erregung zuzieht. Nach einigen Tagen oder
Wochen, nachdem vielleicht schon wiederholt apoplektiforme oder
epileptiforme Anfälle dagewesen sind, werden die Bewegungen des
zeitweise soporösen Kranken unsicher und zitternd; die Mund-
höhle ist trocken, Lippen und Zunge mit dicken, schwärzlichen
Krusten bedeckt; es stellen sich profuse Diarrhöen, kalte Seh weisse,
Seimenhüpfen, grosse Neigung zu Decubitus ein, und unter zu-
nehmender Herzschwäche erfolgt, bisweilen nach vorübergehender
Besonnenheit, der tödtliche Ausgang. Dieses Krankheitsbild ist
es, welches ohne Zweifel bisweilen mit unter der Bezeichnung
des „Delirium acutum" zusammengefasst worden ist. Es gilt das
namentlich für diejenigen Fälle, in denen die einleitenden Er-
scheinungen wenig oder gar nicht ausgesprochen sind. Was mir
diese Anschauung vor allem wahrscheinlich macht, ist der Um-
stand, dass man hie und da Gelegenheit hat, einen Kranken aus
diesem Zustande sich wieder erholen und nunmehr die vorher viel-
leicht nicht bemerkten Zeichen der Paralyse unzweifelhaft hervor-
treten zu sehen.
Die agitirte Form ist im ganzen die seltenste Erscheinungsart
der Paralyse; nach meinen Erfahrungen möchte ich derselben
höchstens 11 % der Fälle zuzählen. Paralytische Anfälle sind ziem-
lich häufig; Remissionen habe ich in nahezu einem Yiertel der Fälle
beobachtet. Die Dauer betrug in ^/^ der Fälle weniger als zwei
Jahre; bei der galoppirenden Form kann das Ende schon nach
wenigen Monaten, vielleicht sogar noch schneller eintreten.
Zum Schlüsse sei hier noch kurz eines Krankheitsbildes
gedacht, welches zwar nicht selbständig auftritt, aber in allen
Formen der Paralyse sich vorübergehend einschieben kann, nament-
lich in den ersten Zeiten des Leidens. Ich meine gewisse
deliriöse Zustände, welche eine grosse klinische Aehnlichkeit mit
dem Delirium tremens zeigen. Die Kranken verlieren rasch die
Orientirung, gerathen in eine eigenthümliche Unruhe mit Be-
schäftigungsdelirium, lebhaften Sinnestäuschungen, Schlaflosigkeit und
starkem Zittern, mit halb ängstlicher, halb euphorischer Stimmung,
264 ^I- Die Dementia paralytica.
aber ohne den kennzeichnenden Humor der Trinker. Nach einigen
Tagen oder Wochen pflegt Beruhigung und Klärung einzutreten.
Man ist in der Regel versucht, diese Zustände ohne weiteres für
alkoholische zu halten und sie auf übermässiges Trinken in gesunden
oder kranken Tagen zurückzuführen. Für eine Anzahl von Fällen
hat diese Auffassung gewiss Berechtigung. Abgesehen aber davon,
dass oft der vorausgegangene Alkoholmissbrauch ein ganz unver-
hältnissmässig geringer gewesen ist, habe ich zu meiner Ueber-
raschung jenes Krankheitsbild auch in einzelnen Fällen auftreten
sehen, in denen es sich bestimmt um sehr nüchterne und massige
Kranke handelte. Es hat demnach den Anschein, als ob es ein
Delirium der Paralytiker giebt, welches demjenigen der Trinker zwar
sehr ähnlich, aber doch nicht mit ihm wesensgleich ist. —
Als demente Form bezeichnen wir diejenige Gruppe von Fällen,
bei welcher die Erscheinungen des fortschreitenden Blödsinns
von vorn herein das Krankheitsbild beherrschen. Meist finden sich
auch hier einzelne Andeutungen der bisher besprochenen Störungen,
namentlich vorübergehende deliriöse Erregung, triebartige ängstliche
Unruhe, kümmerliche hypochondrische oder Grössenideen, vereinzelte
Sinnestäuschungen, allein diese psychischen Eeizerscheinungen treten
ganz in den Hintergrund gegenüber der Lähmung, der rasch und
stark ausgeprägten Verblödung. Die ersten Anzeichen der heran-
nahenden Krankheit sind Verlust der geistigen Regsamkeit, Unfähig-
keit zur Arbeit, Gedankenarmuth, Vergesslichkeit und Zerstreutheit,
unvermittelte Launenhaftigkeit und Reizbarkeit neben auffallender
Gleichgültigkeit und Schlaffheit in wichtigen Angelegenheiten, Klagen
über Schmerzen oder Druckempfindungen im Kopfe. Der Kranke
ermüdet rasch, schläft gelegentlich in Gesellschaft ein, ist bisweilen
plötzlich wie abwesend; er wird unsicher und leicht bestimmbar in
seinem Urtheile, in seinen Entschlüssen, dabei oft zu Zeiten wieder
in Kleinigkeiten sonderbar eigensinnig. Bei Dingen, die ihm sonst
durchaus geläufig waren, irrt er sich und muss sich lange besinnen,
um sich ganz einfache Daten zu vergegenwärtigen, mit denen er
vielleicht täglich zu arbeiten hatte. Das Bewusstsein trübt sich all-
mählich; der Kranke ist nicht mehr im Stande, die Vorgänge
in seiner Umgebung zu verstehen, verliert die Klarheit über Zeit,
Ort und Lage. Seine Gedanken verwirren sich; er macht zeitweise
den Eindruck eines Betrunkenen, verirrt sich in seiner eigenen
Demente Form. 265
Wohnung und erkennt vielleicht seine nächsten Angehörigen und
Freunde nicht mehr. In etwa 1/3 der Fälle werden vorübergehend
Erregungszustände mit mehr oder weniger starker deliriöser Be-
nommenheit beobachtet.
Nicht selten tauchen auch flüchtige Wahnvorstellungen oder
Sinnestäuschungen auf. Der Kranke sieht schwarze Männer mit
grossen Barten, Engel im Himmel, hört Mückenstimmen, Schimpf-
worte, fühlt sich verdoppelt, verhext. Er wird bestohlen, vergiftet,
gequält, ist von Adel, sehr reich, wird eine schöne Frau heirathen,
rühmt seine 1000 Orden, seine schöne Stimme, seine „stolzen"
Unterhosen, hat eine' seidene Kappe, eine Uniform zu Hause. Ein
Kranker telegraphirte beim Ausbruche des Leidens nach Hause,
dass er eine grosse Entdeckung gemacht habe, sprang kurz darauf
in einem Angstanfalle aus dem Fenster, um von da ab das Bild
eines einfachen, behaglichen Blödsinns darzubieten. Die Wahn-
vorstellungen der Kranken tragen deutlich die Kennzeichen des
Kindischen und Schwachsinnigen ; sie lassen sich in der Kegel durch
Zureden sehr leicht beeinflussen. Oefters beginnen die Kranken
auch in der gleichen schwachsinnigen Weise zu fabuliren, erzählen
von einem Zusammentreffen mit dem Kaiser, von einer Geldsendung,
die eingetroffen sei, von einem Besuche, den sie am Morgen ge-
habt haben.
Die gemüthliche Erregbarkeit pflegt dabei meist mehr
und mehr zu schwinden. Im Beginne freilich tritt nicht selten
eine dumpfe Angst auf, innere Unruhe, Beten, plötzliches Weinen
oder unvermittelter Wechsel der Stimmung. Vielfach besteht auch
Reizbarkeit, wüste geschlechtliche Erregbarkeit und selbst Neigung
zu Gewaltthaten, die sich in Bedrohungen und Angriffen auf die
Umgebung äussern kann. Späterhin aber wird der Kranke stumpf,
theilnahmlos, zeigt nicht das geringste Interesse mehr für die Per-
sonen und Dinge, die ihn am nächsten angehen. Die Yorhaltungen,
die ihm wegen seiner "Verstösse gemacht werden, nimmt er ohne
nachhaltige Reaction hin; er versteht kaum, was man von ihm will,
da er den Ueber blick über seine Beruf sthätigkeit bereits vollkommen
\'erloren hat.
Sehr deutlich tritt gewöhnhch ein stumpfsinniges, rücksichtsloses
Interesse für gröbere Genüsse hervor. Der Kranke isst, trinkt, raucht,
so lange ihm die Genussmittel erreichbar sind, unempfindlich gegen
266 ^^^- Die Dementia paralytica.
alle sich aus seiner Gier ergebenden Folgen. Meist entwickelt sich
im weiteren Verlaufe eine ungemein kennzeichnende schwachsinnige
Zufriedenheit, die sich in vergnügtem Lächeln, in der freundlichen
Miene bei jeder Anrede und in herzlichen Begrüssungen ganz fremder
Personen kundgiebt. Trotz des raschen geistigen Yerfalles fühlt
sich der Kranke doch kerngesund und leistungsfähig, ist überall
„gern da", findet alles ausgezeichnet und vortrefflich. In anderen
Fällen dagegen besteht doch eine gewisse allgemeine Vorstellung
von der tiefgreifenden Veränderung, die sich mit der eigenen Per-
sönlichkeit vollzogen hat. Der Kranke klagt selbst über die Lang-
samkeit und Schwerfälligkeit seines Denkens, über seine Vergesslich-
keit, und sucht deswegen ärztliche Hülfe auf, ja er rafft sich vielleicht
sogar in der mehr oder weniger klaren Furcht vor dem bevorstehen-
den Leiden zu einem Selbstmordversuche auf, wenn derselbe auch
bei seinem Schwachsinn und dem Mangel an Thatkraft häufig er-
gebnisslos bleibt.
Die Arbeitsfähigkeit des Kranken wird durch die rasch fort-
schreitende Verblödung auf das empfindlichste geschädigt. Er fängt
an, in seinen gewohnten Verrichtungen unordentlich und nachlässig
zu werden, versäumt seine Dienststunden, wichtige Aufträge, vergisst
die Aufschrift auf seinen Briefen, verliert oder verlegt werthvolle
Gegenstände, Geld, Papiere, kommt mit seinen Arbeiten gar nicht
oder nicht rechtzeitig zu Stande und lässt sich unbegreifliche Ver-
sehen zu Schulden kommen, Schnitzer in der Rechtschreibung, grobe
Rechenfehler u. dergl., ohne es selbst recht zu bemerken. Ein Be-
amter meinte, die Erlasse seiner vorgesetzten Behörde müssten in
den letzten Jahren immer dunkler und unverständlicher geworden
sein, da er sie sich nicht mehr wie früher sogleich einprägen könne.
Meist hört er überhaupt auf, sich um seine Obliegenheiten zu
kümmern. Dagegen begeht er allerlei unvernünftige und verkehrte
Handlungen, die ihn nicht selten mit der öffentlichen Ordnung und
mit dem Strafgesetze in Widerstreit bringen. Er wird unruhig,
lärmend, treibt sich zwecklos herum, selbst halbnackt, trinkt, bettelt,
wird als Landstreicher aufgegriffen, verübt Zechprellereien und
plumpe Diebstähle, geräth in Streit und Thätlichkeiteu, macht scham-
lose unsittliche Angriffe. Ein ganz gebildetes und besonnenes
Mädchen bat bei jedem Besuche die Aerzte flehentlich, doch mit ihr
den Beischlaf zu vollziehen, damit ihr Kopf Avieder gesund werde,
Demente Form. 267
und versuchte geradezu mit Gewalt ihren Zweck zu erreichen.
Auch in diesen Handlungen ist meist der Schwachsinn deutlich er-
kennbar. Einer meiner Kranken hieb junge Bäume in einem öffent-
lichen Garten um und versuchte, sie in seinem eigenen Gelände
wieder einzupflanzen; ein anderer brachte ohne weiteres die Ernte
seines Nachbarn ein, verpflanzte dessen Kartoffelstauden zwischen
die seinigen, so dass auch diese zu Grunde gingen. Noch ein
anderer nahm vor den Augen des Yerkäufers eine Schinkenwurst
vom Nagel, lief damit fort und versteckte sie in seinem Keller; ein
vierter endlich belud sich mit werthlosen leeren Flaschen.
Das äussere Benehmen der Kranken verräth meist sehr bald
die Vernichtung der geistigen Persönlichkeit. Sie sind ganz willen-
los, gutmüthig, lenksam, dämmern gleichgültig vor sich hin, sind
nicht mehr im Stande, für ihre Bedürfnisse zu sorgen, vergessen die
Nahrungsaufnahme und werden unvermuthet unrein. In anderen
Fällen begegnet man einem eigenthümlich abstossenden, unzugäng-
lichen Wesen. Die Kranken geben auf jede Anrede unwirsche,
zurückweisende Antworten ohne klaren Beweggrund, ohne eigent-
lichen Aifect und ohne sich durch freundliches Zureden beeinflussen
zu lassen; sie sträuben sich gegen die bestgemeinten Massregeln und
lassen auch in diesem sinnlosen Widerstände den bereits weit vor-
geschrittenen Blödsinn erkennen.
Endlich aber finden sich einzelne Kranke, die trotz tiefsten
Blödsinns überraschend gut ihre äussere Haltung bewahren. Wir
sehen dann, wie der Kranke, der uns formgerecht begrüsst, sein
Aeusseres in Ordnung hält, keine Ahnung hat, wo er sich befindet,
seine Angehörigen kaum oder gar nicht erkennt, über seine Yer-
gangenheit keinerlei Auskunft zu geben vermag. Gerade in solchen
Fällen wird das Leiden, da der Kranke ganz aufhört, zu klagen,
viel schläft, einen vorzüglichen Appetit zeigt und an Körpergewicht
stark zunimmt, von der Umgebung öfters erst dann gewürdigt, wenn
der Blödsinn schon sehr weit gediehen ist. Die Angehörigen ge-
wöhnen sich, wie es scheint, so sehr an den allmählich fortschreiten-
den Untergang der psychischen Persönlichkeit, dass sie oft gar nicht
von der Schwere der Störung zu überzeugen sind und die be-
scheidensten geistigen Regungen als Anzeichen nahezu völliger Ge-
sundheit betrachten. „Er weiss doch noch alles," meinen sie, wenn
der Kranke seine Frau erkennt oder sich zufällig zu entsinnen ver-
268 VI. Die Dementia paralytica.
mag, dass er Kinder besitzt. Mir wurde ein derartiger Kranker
zugeführt, der noch den verantwortungsvollen Posten eines Cassiers
bekleidete, als er sich bereits häufig verunreinigte und ganz ein-
fache Additionen nicht mehr auszuführen im Stande war. Ein
anderer, ein Arzt, kam unmittelbar aus seiner umfangreichen
Praxis selber ins Krankenhaus, um sich ein Panaritium operiren
zu lassen. Als er sich hier in der Nacht verirrte und in die
Prauenabtheilung gerieth, wurde entdeckt, dass er bereits hoch-
gradig blödsinnig war und die Dosirung des Morphiums nicht
mehr kannte.
Die demente Form ist wahrscheinlich die häufigste Verlaufsart
der Paralyse überhaupt. Obgleich gerade diese Kranken wegen
ihrer Harmlosigkeit verhältnissmässig seltener in die Irrenanstalt
gelangen, gehörten doch mehr als 40% der während der letzten
Jahre in meiner Klinik beobachteten Fälle dieser Form an. Die
körperlichen Begleiterscheinungen sind dieselben wie bei den übrigen
Formen. Insbesondere habe ich bei genauerer Prüfung nicht finden
können, dass tabische Störungen hier verhältnissmässig häufiger seien.
Dagegen sah ich paralytische Anfälle beträchtlich öfter auftreten, in
mehr als 45 Vo der Fälle. Dem entsprechend wurden ausgiebige
Nachlässe der Krankheitserscheinungen seltener beobachtet, als bei
den anderen Formen, namentlich der expansiven Paralyse. Die
Krankheitsdauer überstieg in fast der Hälfte der Fälle zwei Jahre
nicht; in 18*^/o erfolgte der Tod bereits innerhalb eines Jahres nach
dem Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen, und nur ver-
einzelte Fälle wiesen eine Dauer bis zu 4 und 5 Jahren oder länger
auf. Die demente Form scheint demnach das schwerste paralytische
Krankheitsbild darzustellen. —
Wie sich aus den vorstehenden Einzelschilderungen ergiebt,
setzt sich der Gesammtverlauf der Paralyse im allgemeinen aus
einem bisweilen ganz unbemerkt bleibenden Einleitungsstadium und
aus einer Zeit lebhafterer Krankheitserscheinungen zusammen, an
welche sich dann der später zu besprechende Endzustand tiefen
Blödsinns anschliesst. Es ist jedoch von grösster Wichtigkeit, zu
bemerken, dass in diesen verschiedenen Abschnitten des Krankheits-
verlaufes die Stärke der körperlichen Störungen durchaus nicht
immer der Ausbildung der psychischen Krankheitszeichen entspricht.
Es giebt einerseits Fälle, in denen selbst schwere Sprach- und
Verlauf. 269
Schriftstöriingen lange Zeit bestehen können, bevor eine irgend
auffallendere Beeinträchtigung des Gedächtnisses oder Verstandes
nachweisbar ist. Andererseits aber — und das ist praktisch weit
wichtiger — vermögen wir aus dem psychischen Krankheitsbilde
sehr häufig die beginnende Paralyse bereits mit voller Sicherheit zu
erkennen, während die körperliche Untersuchung durchaus noch
keine verwerthbaren Anzeichen liefert. Aus der ungenügenden Be-
rücksichtigung dieser Erfahrung entspringen zahlreiche diagnostische
Fehlschlüsse.
Der Yerlauf aller Formen der Paralyse kann durch zwei ver-
schiedene Ereignisse fast stets in unberechenbarer Weise beeinflusst
werden, durch paralytische Anfälle und durch Remissionen.
Die ersteren können jederzeit einen unvorhergesehenen, bedeutenden
Fortschritt aller Krankheitserscheinungen oder auch plötzlichen Tod
zur Folge haben; sie sind bei weitem am häufigsten in der
dementen, am seltensten in der expansiven Form. Auf der anderen
Seite sieht man gelegentlich ausgiebige Nachlässe der psychischen
und nervösen Störungen in nahezu allen Abschnitten der Paralyse,
mit Ausnahme des allerletzten, den Ablauf der Krankheit verzögern.
Am häufigsten scheinen derartige Besserungen bei der agitirten und
namentlich bei der expansiven Form vorzukommen; selten und
wenig ausgeprägt beobachtet man sie bei der depressiven und
dementen Form. Der Eintritt der Beruhigung vollzieht sich bis-
weilen ganz rasch, von einem Tage zum andern, wenn auch die
volle Höhe der Remission erst allmählich, vielleicht im Laufe von
Monaten, erreicht wird. Der Kranke erscheint klar, besonnen,
geordnet; die Wahnideen treten zurück und werden von ihm als
Träume und Einbildungen bezeichnet; er kann sich oft selbst nicht
genug wundern, wie ihm nur all das „dumme Zeug" in den Kopf
hat kommen können. Gleich wol geräth er vielleicht in den ersten
Tagen gelegentlich immer wieder in seine früheren Ideen hinein,
um erst auf ernstes Zureden die Wahnhaftigkeit derselben von neuem
einzusehen und zuzugestehen.
Die Erinnerung an die Zeit der Krankheit ist zunächst oft eine
verworrene, doch tauchen nach und nach viele Einzelheiten wieder
deutlicher auf. Allmählich kann sogar eine gewisse Krankheits-
einsicht zu Stande kommen, wenn auch manche der verkehrten
Handlungen noch in krankhafter Weise begründet oder als durch
270 ^I- Die Dementia paralytica.
äussere Umstände und Einwirkungen veranlasst dargestellt werden.
Mit dieser mangelhaften Klarheit über die Yergangenheit verbindet
sich häufig eine siegesgewisse Einsichtslosigkeit hinsichtlich der
Zukunft. Der Kranke fühlt sich nunmehr vollständig gesund und
weiss ganz bestimmt, dass er es auch in Zukunft bleiben wird;
die Mahnungen des Arztes schlägt er daher leichthin in den
Wind. Die Stimmung ist bald eine selbstzufriedene, vergnügte,
bald aber auch gedrückt und theilnahmlos , indem der Kranke
sich müde, abgespannt, erholungsbedürftig fühlt und über allerlei
körperliche Beschwerden klagt, namentlich über Druck und Schmerzen
im Kopfe.
Nach und nach kann sich der Zustand des Kranken immer
mehr bessern, so dass er, besonders in den engen, geschützten Ver-
hältnissen der Anstalt, den Eindruck eines nahezu oder völlig ge-
sunden Menschen macht. Den nächsten Angehörigen und Freunden
pflegt freilich eine leichte Abschwächung des Verstandes und des
Gedächtnisses, eine Abstumpfung seiner geistigen Kegsamkeit und
seiner gemüthlichen Antheilnahme sowie ein gewisser Mangel an
Thatkraft und Nachhaltigkeit kaum jemals verborgen zu bleiben.
Dennoch sind manche derartige Kranke im Stande, selbst den ver-
antwortungsvollen Beruf eines Eisenbahnbeamten, Officiers, Arztes
während der Besserung mit Erfolg wieder aufzunehmen. Einer
meiner Kranken füllte nicht nur seine Stellung als Telegraphen-
beamter zur vollen Zufriedenheit 5 Jahre lang aus, sondern rückte
auch in höhere Stellen vor, bestand Prüfungen und heirathete; ein
anderer, der Grössenideen, Sprachstörung, Pupillenstarre, West-
phal'sches Zeichen und Schwindelanfälle darbot, verlor seine Grössen-
ideen, war 6 Jahre lang wieder in seinem früheren Amte als Schul-
diener thätig, erkrankte von neuem mit den früheren Erscheinungen,
ist aber nach rascher Besserung schon wieder ein Jahr lang in
seinem Dienste. In der Regel allerdings dauern die Nachlässe höchstens
eine Reihe von Monaten; jene Fälle, in denen die Kranken länger
als 2 — 3 Jahre annähernd gesund bleiben, sind immerhin als ver-
einzelte Ausnahmen zu betrachten.
Die letzten Stadien der Krankheit sind allen Formen der-
selben, mit Ausnahme der frühzeitig tödtlich verlaufenden Fälle,
gemeinsam. Der Kranke wird immer stumpfer und blöder; er
kennt die Gegenstände und Personen seiner Umgebung nicht mehr,
Ausgang. 271
versteht weder Aufforderung noch Geberde und ist schliesslich kaum
viel mehr, als ein vegetirender Körper, in dem das psychische Leben
gänzlich oder fast gänzlich erloschen ist. Bisweilen tritt zeitweise
eine gewisse Erregung mit stunden- und tagelangem lallendem, ein-
förmigem Schreien und Brüllen hervor. Zugleich machen auch die
nervösen Störungen unaufhaltsame Fortschritte. Der Kranke wird
nahezu vollkommen unempfindlich; die Schwäche nimmt immer mehr
zu; es stellen sich Steifigkeit, Intentionszuckungen, Beugecontrac-
turen und ausgebreitete Muskelatrophien ein, so dass er die Möglich-
keit der selbständigen Bewegung verliert, weder gehen, noch stehen,
noch am Ende auch sitzen kann. Zugleich magert er immer mehr
ab und ist dauernd hochgradig unrein, so dass er wie ein Kind
nach jeder Richtung hin der sorgfältigsten Jfflege bedarf. Bis zu
diesen tiefsten Stufen des apathischen Blödsinns und der allge-
meinen Lähmung giebt es allerdings zahlreiche üebergangsformen,
die sich durch die verschiedene Erhaltung der geistigen Regsamkeit,
durch Ueberreste depressiver oder expansiver Stimmungen und
Vorstellungen sowie endlich durch die verschiedenartige Ausbreitung
der nervösen Störungen von einander abgrenzen.
Der Ausgang der Paralyse ist regelmässig der Tod. Freilich
sind einzelne Fälle bekannt geworden, in denen die Besserung der
Krankheitserscheinungen andauernd ein Jahrzehnt und darüber
Stand hielt, so dass man hier von einer Heilung der Paralyse zu
sprechen berechtigt ist. Allein derartige Beobachtungen sind so
ungemein selten (lange nicht l^/o der Fälle), dass sie gegenüber
dem gewöhnlichen Verlaufe gar nicht in Betracht kommen. Ueber-
dies erhebt sich hier der Verdacht, dass es sich vielleicht um ganz
andersartige chronische diffuse Hirnerkrankungen handeln kann, die
wir vor der Hand klinisch noch nicht von der dementen Form der
Paralyse unterscheiden können. Jedenfalls thut man gut, allen
Fällen von „geheilter" Paralyse das äusserste Misstrauen entgegen
zu bringen, da Nasse*) festgestellt hat, dass unter 6 von ihm als
geheilt angesehenen Paralytikern nur ein einziger nicht wieder er-
krankt ist, bei dem obendrein die Diagnose nicht über allen Zweifel
erhaben war. Müller**) giebt an, dass etwa 8/4 der lü-anken inner-
*) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLII, 136.
*) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 1027.
272 ^I- Die Dementia paralytica.
halb der ersten drei Jahre zu Grunde gehen; Heilbronne r fand,
dass nui' 10 — 13*^/o der Paralytiker mehr als 5 Jahre den Beginn
des Leidens überleben. Die längste zuverlässig festgestellte Krank-
heitsdauer betrug 18 Jahre.
Herbeigeführt wird der tödtliche Ausgang durch die ver-
schiedensten Ursachen. Abgesehen von den in der ersten Zeit doch
bisweilen glückenden Selbstmordversuchen, können im ganzen Yer-
laufe der Krankheit paralytische Anfälle plötzlich und unerwartet
dem Leben ein Ende machen. Im letzten traurigen Abschnitte des
Leidens sind Schluckpneumonien (Speichel. Speisen), namentlich
während der Anfälle, die bei weitem häufigste Todesursache; ausser-
dem aber kommen noch gelegentlich Blutvergiftungen oder Fett-
embolien in Betracht, wie sie sich bei der Unruhe und Unempfind-
lichkeit der Kranken aus Yerletzungen aller Art, in Folge von
Decubitus oder Blasenkatarrh (Pyelitis) entwickeln können. Yereinzelte
Kranke gehen durch Ersticken zu Grunde, indem sie sich beim
Essen den ganzen Mund mit Speisen, namentlich Brod, vollpfropfen
und dann einen Theil derselben in den Kehlkopf hinunterwürgen.
Endlich aber ist der gewissem! assen natürliche Ausgang der Paralyse,
wie man ihn bei einzelnen Kranken beobachtet, welche allen jenen
Gefahren glücklich entgangen sind, ein schwerer Marasmus, der
Tod in Folge von Herzschwäche. In solchen Fällen magern die
Kranken schliesslich zum Skelett ab; die gesammte Körpermuskulatur
atrophirt bis zum Aeussersten ; die Temperatur sinkt häufig dauernd
sehr tief unter die Norm; der Puls wird langsam und immer
schwächer, schliesslich nicht mehr fühlbar, bis endlich das Leben
vollkommen erlischt. —
Die pathologische Anatomie der Paralyse zeigt uns in den
nervösen Centralorganen eine Reihe von Yeränderungen, welche in
ihrer Gesammtheit bis zu einem gewissen Grade für diese Krankheit
kennzeichnend erscheinen. Als wesentlich sind nicht zu betrachten
die bisweilen beobachteten Hyperostosen und Exostosen des Schädels,
die auch bei Gesunden nicht ganz selten vorkommen, doch ist die
in weit vorgeschrittenen Fällen recht häufige allgemeine Yer-
dickung der knöchernen Hülle wol mit Wahrscheinlichkeit als Aus-
gleichserscheinung gegenüber der Druckabnahme des schrumpfenden
Gehirns aufzufassen. Yielfach sieht man dabei tiefes Einschneiden der
Gefässfurchen in die mit Osteophyten reichlich besetzte Knochentafel,
Pathologische Anatomie. 273
Wichtiger sind schon die Yeränderungeii der Hirnhäute. Die
Dura ist oft theilweise, seltener in ganzer Ausdehnung mit dem
Schädeldache verwachsen; bisweilen lässt sie sich ohne Zerstörung
gar nicht von diesem letzteren trennen. Recht häufig findet man
Pachymeningitis interna und Haematome der Dura, bald
nur zarte, schleierartige Anflüge, bald dicke, mehrfache Schichtung
aufweisende Schwarten oder frische, massige Blutergüsse, meist auf
der Scheitelhöhe. Auch unter der Pia bemerkt man öfters mehr
oder Aveniger ausgedehnte Oberflächenblutungen. Die weichen Hirn-
häute sind in Folge von zelliger Infiltration fast immer getrübt,
verdickt, bisweilen sehr beträchtlich, namentlich längs der Gefässe;
hie und da finden sich eingelagerte Knochenplättchen. Ihre Venen
sind stark erweitert, besonders bei der galoppirenden Paralyse, zeigen
auch häufig verdickte Wandungen; die Pacchioni 'sehen Granu-
lationen sind nicht selten auffallend entwickelt Das Gehirn ist bei
länger bestehenden Fällen stets atrophisch; das Gewicht desselben
sah ich selbst bei Männern von normaler Körpergrösse bis auf 900 gr
herabsinken. Die Windungen sind verschmälert, besonders in den
vorderen Partien; es finden sich stellenweise förmliche Einsenkungen,
über welche die Pia in Gestalt serumgefüllter Blasen hinwegzieht.
Auch die Rinde ist verschmälert und, namentlich am Stirnhirn, öfters
mit der Pia so fest verwachsen, dass sich diese nicht ohne
Substanzverlust von ihr ablösen lässt. Die Ventrikel sind mehr oder
weniger stark erweitert; das Ependym derselben, vorzüglich des
vierten, zeigt oft reichliche, stark entwickelte, knötchenartige Granu-
lationen. Nach Weigert's Befunden handelt es sich dabei um
Verlust der Epitheldecke, Wucherung und hyaline Entartung der
Neuroglia.
Die mikroskopische Untersuchung bietet vor allem in der
Rinde*) ausgesprochene Veränderungen. Einen Ueberblick über
dieselben sollen die beiliegenden Tafeln gewähren, welche nach
Mikrophotogrammen angefertigt sind. Die nach Nissl's Verfahren
gefärbten Bilder von einzelnen Zellen und das Mitosenbild wurden
meist mit dem Zeiss 'sehen Apochromaten 2 mm, Apertur 1,30,
*) Binswanger, Die pathologische Histologie der Grosshirnrinden-Erkrankung
bei der allgemeinen progressiven Paralyse. 1893; Nissl, Archiv f. Psychiatrie,
XXVIII, 989; Heilbronner, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIII, 172.
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Anfl. 11. Band. 18
274 ^^I- Die Dementia paralytiea.
zum Theil mit 3 mm, Apertur 1,40 und dem Projectionsocular 2
aufgenommen; die Vergrösserung ist 1000. Dagegen sind die
Schiehtbilder mit dem achromatischen System AA ohne Ocular und
in einer Vergrösserung von 250 angefertigt. Bei ihrer Wiedergabe
fand eine Verkleinerung auf etwa 1/3 statt. Dabei mussten natür-
lich manche Einzelheiten verloren gehen, doch vertragen die Bilder
sehr gut die Betrachtung durch die Lupe. Die Vergrösserung der
Gliahüllen, die mit Seibert V aufgenommen wurden, betrug 1250; die
Bilder wurden auf 1/3 verkleinert. Die Spinnenzellen auf Tafel V
sind bei 500facher, die einzelne Zelle auf Tafel IX ist bei lOOOfacher
Vergrösserung angefertigt; in beiden Fällen hat eine geringe Ver-
kleinerung stattgefunden.
Bei weitem am wichtigsten sind ohne Zweifel die Erkrankungs-
vorgänge an den Nervenzellen. "Wie ich den Darlegungen Nissl's
entnehme, haben wir hier zunächst acute und langsame Verlaufs-
arten des Krankheitsvorganges zu unterscheiden. Die erste Ver-
änderung ist bei den acuten Processen eine Schwellung des Zell-
leibes, an der regelmässig auch der Zellkern Antheil nimmt. Zugleich
beginnt die nicht färbbare Substanz sich zu färben, so dass die
Protoplasmafortsätze auf weite Strecken sichtbar werden; auch der
sonst unsichtbare Achsencylinderfortsatz tritt deutlich hervor. Diesen
Vorgang an einer grossen Pyramidenzelle zeigt die Figur 4 der
Tafel IV, auf der zum Vergleiche in Figur 1 die entsprechende
gesunde Form wiedergegeben ist. An beiden Zellen sind die Achsen-
cylinderfortsätze sichtbar. Bei höheren Graden und rasch fort-
schreitender Schädigung zerfällt die färbbare Substanz vollständig;
der Kern bläht sich auf, und es kommt zu einer Art Zerbröckelung
der ganzen Zelle, die mehr und mehr ein schattenhaftes Ansehen
gewinnt und schliesslich ganz verschwindet. Die acute Erkrankung
pflegt alle Zellen der Hirnrinde in gleichmässiger Weise zu ergreifen.
Die schwerste Form der paralytischen Veränderung, die man
allerdings auch bei anderen zerstörenden Eingriffen wiederfindet,
besteht in einem sofortigen Zerfall der färbbaren Substanz des
Zellkörpers unter gleichzeitiger Verkleinerung des Kerns, der seine
Membran und seine Structur verliert, sich abrundet (Verflüssigung
des Inhaltes?) und gleichmässig blauviolett färbt. Er bleibt schliess-
lich mit oder ohne spärliche Reste des Zellleibes als kleines, structur-
loses Klümpchen allein übrig. Die Figur 5 stellt diese Umwand-
j(raßpelin, Psychiatric. 6.Aufl
Tafel IV.
»r
^.
s
\i
m
F*
r Gesunde grosse f^ramidenzelle. 2. Acute Schwellung bei Typhus. 3. Körniger Zerfall mit Einwanderung grosser Gliazellen bei Katatonie
an der Zelle links ein gewöhnlicher Trabantkern. 4. Acute Veränderung bei Paralyse. 5. Schwere Veränderung bei Paralyse. 6. Zellschwund bei
Paralyse. 7. Zellsklerose bei Paralyse. S.Sklerose mit acuter Veränderung (Mischform) bei Paralyse. S.Mitose eines Gliakcrns bei Paralyse;
rechts oben ein Centrosoma (Weigert's Mitosenfä'rbung.)
Pathologische Anatiimie. 275
limg dar. Dieser Vorgang scheint eine Rückbildimg nicht mehr
zuzulassen, während die ersterwähnten Veränderungen anscheinend
sich wenigstens einigermassen wieder ausgleichen können.
Eine weitere Veränderung, die wahrscheinlich den chronischeren
angehört, ist der von Nissl so genannte Zell seh wund. Es handelt
sich dabei um ein Abblassen und Schwinden der färbbaren Theile, von
denen jedoch einzelne Abschnitte, Verzweigungskegel, Kernkappen
und Basalkörper, auffallend lange erhalten bleiben. Zugleich wird
der Kern regelmässig mit ergriffen. Seine Membran schwindet
ganz oder theilweise, so dass er für die oberflächliche Betrachtung
vergrössert erscheinen kann. Die ungefärbte Substanz färbt sich
bei dieser Veränderung nicht merklich; gleichwol kann man den
Achsencyhnderfortsatz erkennen und verfolgen, ein Zeichen dafür,
dass dennoch eine Betheiligung der ungefärbten Bahnen an dem
Krankheitsvorgange stattfindet. "Wahrscheinlich ist der Zellschwund
als eine schwere, nicht der Rückbildung zugängliche Erkrankung zu
betrachten. Ein Beispiel für denselben giebt Figur 6, in der aller-
dings der nach unten abgehende Achsencylinderfortsatz nicht mit
eingestellt ist.
Die häufigste Form der chronischen Erkrankung bildet die Zell-
sklerose. Hier färben sich die Zellfortsätze auf weite Strecken; auch
der Zellleib nimmt reichlich Farbe auf. Der geschwollene Zellkörper
schrumpft mehr und mehr zusammen; die Fortsätze schlängeln sich,
und die Umrisse der Zelle nehmen eigenthümlich starre, eckige,
morgensternartige Formen an, namentlich gegen die Basis zu; auch
die ganz kleinen Zellen erinnern an spitze, zackige Sternchen. Zu-
gleich wird der Kern länglich, spitzer; der innere Aufbau der Zelle
geht mehr und mehr verloren, wenn sich auch noch sehr lange
einzelne heller gefärbte Bahnen in dem tief dunklen Zellleibe erkennen
lassen. Bei der Beurtheilung dieser Bilder, von denen Figur 7, ferner
Figur 3 der Tafel V einen Begriff geben mag, ist wegen der Gefahr
einer Verwechselung mit Kunsterzeugnissen einige Vorsicht geboten.
Auch hier handelt es sich um eine Erkrankung, die zwar das Leben
der Zellen anscheinend noch lange Zeit hindurch fortbestehen lässt,
einer Rückbildung jedoch schwerlich fähig ist.
Einige seltenere Zellerkrankungen, die sich gelegentlich in para-
lytischen Rinden finden, sollen hier nicht näher besprochen werden,
ebensowenig die weiteren Veränderungen, welche die abgestorbenen
18*
276 VI. Die Demeutia paralytica.
Zellen durch Imprägninm^- mit Kalk und anderen Stoffen, durch
Anhäufung von Pigment u. s. f. erleiden können. Dagegen sei darauf
hingewiesen, dass auch chronisch erkrankte Zellen späterhin noch
einmal acute Veränderungen erleiden können, so dass Mischungen
zwischen verschiedenen Erkrankungsformen zu Stande kommen.
"Wir geben ein solches Bild in Figur 8. An den schmächtigen
Formen, der dunkleren, diffusen Färbung und namentlich dem läng-
lich gewordenen Kern erkennt man noch die Sklerose, während der
beginnende Schwund der färbbaren Theile den acuten Krankheits-
vorgang anzeigt.
Alle geschilderten Yeiänderungen, mit Ausnahme der ersten,
acuten Erkrankung, ergreifen niemals die ganze Hirnrinde gleich-
zeitig. Vielmehr finden sich mannigfache örtliche Verschiedenheiten
in der Ausbreitung und Stärke des Yernichtungsvorganges.
Auch an derselben Stelle der Rinde kann man regelmässig ver-
schiedene Abstufungen der krankhaften Veränderungen, ja un-
mittelbar daneben zahlreiche Zellen sehen, die noch völlig gesund
erscheinen. Nur bei sehr schwerem oder lange dauerndem Krank-
heitsverlaufe zeigen schliesslich alle Zellen der Rinde in höherem
oder geringerem Grade die Zeichen der paralytischen Erkrankung;
ein sehr grosser Theil derselben geht ausserdem vollständig zu
Grunde. Ob die verschiedene örtliche Vertheilung der Zellverände-
rungen in einer verschiedenen Widerstandsfähigkeit der einzelnen
Rindenabschnitte und Zellengruppen oder in einer verscliiedenen
Localisation des Krankheitsvorganges an sich ihre tiefere Ursache
hat, ist noch unbekannt; mir ist die erstere Annahme weit wahr-
scheinlicher.
Es ist auch bisher nicht gelungen, bestimmte Beziehungen
zwischen dem Sitze der Veränderungen und dem klinischen Krankheits-
bilde aufzufinden. Nur das Eine lässt sich sagen, dass im allgemeinen
die Ausdehnung und Stärke der anatomischen Veränderung um so
grösser ist, je weiter der klinische A^erlauf vorgeschritten war. Immer-
hin dürften für gewisse Symptome, die Sprachstörungen, die Wort-
taubheit, die Krampferscheinungen, die durch die Localisations-
lehie geforderten allgemeinen Beziehungen auch hier bestehen (be-
sondere Betheiligung der Stirn-, Schläfen-, Centralwindungen). So
hat Lissauer nach paralytischen Anfällen mit sensorischen Herd-
symptomen gerade in der Rinde des Hinterhauptes fleckweise und
Pathologische Anatomie. 277
schichtweise besonders starke Veränderungen der Ganglienzellen bis
zum völligen Schwunde derselben beobachtet.
Mit dem Untergange der Nervenzellen steht derjenige der Fasern
in innigstem Zusammenhange. Es ist Tuczek's*) Verdienst, diese
Veränderungen mit feineren Methoden (Exner'sche, "Weigert'sche
Methode) genauer studirt zu haben. Dabei hat sich herausgestellt,
dass bei allen länger dauernden Fällen von Paralyse sowol die aus
der weissen Substanz in die Hirnrinde einstrahlenden „Radiärfasern"
als auch die in der äussersten Rindenschicht der Hirnoberüäche parallel
laufenden „zonalen Rindenfasern" (Tangentialfasern) in höherem oder
geringerem Grade zu Grunde gehen, so dass in den spätesten
Stadien kaum noch Nervenfasern in der Rinde nachzuweisen sind.
Eine gesetzmässige Beziehung zwischen Stärke und Sitz der Ver-
änderung lässt sich nach Zacher's Untersuchungen nicht mit Be-
stimmtheit feststellen, ja es kann nicht zweifelhaft sein, dass auch
der Faserschwund gar nicht ausschliesslich der Paralyse, sondern
unter Umständen auch anderen Psychosen, namentlich der nahe ver-
wandten Dementia senilis, sowie sonstigen, z. B. den epileptischen
Blödsinnsformen, zukommen kann. Allerdings dürfte die Häufigkeit,
die Ausdehnung und die Stärke jener Veränderungen bei der Para-
lyse eine weit grössere sein, als bei irgend einer anderen psychischen
Erkrankung.
Durch den Ausfall massenhaften Nervengewebes kommt in vor-
geschrittenen Fällen eine Schrumpfung der Rinde zu Stande, die
sich schon an der Verschmälerung derselben erkennen lässt und bis-
Aveilen so hochgradig wird, dass die Breite der Rinde auf die Hälfte
zurückgeht. Einzelne Stellen, namentlich um die Gefässe herum,
können dabei ganz an narbige Schrumpfungen erinnern. Aber auch
schon geringere Grade dieses Vorganges deuten sich dadurch an,
dass die regelmässige Anordnung der noch vorhandenen Ganglien-
zellen vielfach gestört wird; sie stehen nicht mehr reihenförmig,
sondern verschoben und verzerrt. An manchen Stellen erscheinen
sie, wie man in Figur 3 der Tafel V erkennt, zusammengerückt,
gedrängt; an anderen sind grosse Lücken entstanden, die nur durch
Stützgewebe und Gefässe ausgefüllt werden.
*) Beiträge zur pathologischen Ancatomie und zur Pathologie der Dementia
paralytica. 1884.
278 VI. Die Dementia paralytica.
Dieses Verhalten ist es, welches als eigentlich kennzeichnend
für den Krankheitsvorgang der Paralyse bezeichnet werden muss.
Die Veränderungen an den einzelnen Zellen finden sich in gleicher
"Weise auch bei anderen Erkrankungen wieder; ja sie können zum
Theil beim Thier künstlich erzeugt werden. Sie sind daher gewisser-
massen nur als Zustandsbilder und nicht als der Ausdruck bestimmter
eigenartiger Vorgänge zu betrachten. Diese Erkenntniss schliesst
natürlich die Möglichkeit nicht aus, dass wir mit vervollkommneten
Hülfsmitteln vielleicht doch im Stande wären, auch an der einzelnen
erkrankten Zelle Besonderheiten aufzufinden, die uns den Rückschluss
auf die Paralyse gestatten könnten. Jedenfalls aber vernichtet die para-
lytische Erkrankung das gesammte Nervengewebe der Rinde in weit
grösserem Umfange, als irgend eine andere. Auch bei der Idiotie,
bei der Dementia praecox, beim Altersblödsinn gehen zahlreiche
Zellen und Fasern zu Grunde. Allein dort bleibt überall, wie ein
Blick auf Tafel IX lehrt, der allgemeine Aufbau der Einde er-
halten; man sieht die durch Glia ausgefüllten Lücken in den Zelleu-
reihen, ohne dass doch ihre Ordnung sonst gestört wäre. Hier da-
gegen pflegt sich auch dann schon eine Verzerrung und Schrumpfung
im Eindenbau zu zeigen, wenn die Vernichtung der erkennbaren
Bestandtheile noch verhältnissmässig geringfügig ist. Am wenigsten
tritt das bei der sehr stürmisch verlaufenden Erkrankung hervor,
die in Figur 2 der Tafel V, wiedergegeben ist. Dagegen erscheint die
Veränderung des Gesammtbildes der Einde bei den chronischen
Formen, bei denen die Zellen zum Theil lange erhalten bleiben,
gegenüber etwa dem Altersblödsinn sehr auffallend, da bei letzterem weit
zahlreichere Zellen ohne Störung des allgemeinen Aufbaues zu Grunde
gegangen sind. Wenn wir daher auch nach Nissl's Auffassung zur Zeit
die Paralyse nicht aus der einzelnen erkrankten Zelle erkennen können,
so pflegt doch das Gesammtbild der paralytischen Hirnrinde so eigen-
artige Züge zu tragen, dass wir es meist von andersartigen Er-
krankungen zu unterscheiden im Stande sind.
Man könnte vielleicht daran denken, die besondere Gestaltung
des Eindenbildes auf Eechuung der Neuro glia Veränderungen
zu setzen, die in der Paralyse ungemein verbreitet zu sein pflegen.
Namentlich durch Weigert's klassische Untersuchungen*) wissen
*) C. Weigert, Beiträge zur Kenntniss der normaleu iiiensclilichen Neu-
rofflia. 1895.
Kpaepelin, Psychiatrie. 6. Aufl.
Tafel V.
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4, Gliakappe in der gesunden Rinde.
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I Gesunde Rinde aus der
vorderen Centralwindung.
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2. Stürmisch verlaufende Paralyse
(Schwere Veränderung
mit Andeutungen uon Sklerose.)
3. Chronisch verlaufende
Paralyse (Ausgesprochene
Sklerose.)
6. Spinnenjellen, z.Th mit der
Gliahülle eines Blutgefässes
in Verbindung tretend.
Pathologische Anatomie. 279
wir, dass jeder Untergang von nervösem Gewebe regelmässig von
einer Wucherung der umgebenden Neuroglia begleitet wird. In der
That sehen wir denn auch in der Paralyse, entsprechend der Yer-
nichtung massenhafter Zellen und Fasern, ein ausserordentlich
üppiges Wachsthum der Stützsubstanz. Nissl konnte als Zeichen
dieser Vorgänge in paralytischen Gehirnen Kerntheilungsfiguren an
den Gliazellen nachweisen. Ein Beispiel giebt Figur 9, Tafel lY;
ausser der Mitose ist ein Centrosoma sichtbar.
Die Kerne erscheinen bedeutend vermehrt, ihr Fasernetz stark
verdichtet. Ganz besonders auffallend und schon seit langer Zeit
bekannt sind jene Gebilde, w^elche man mit dem Namen der Astro-
cyten oder Spinnenzellen zu belegen pflegt. Sie erreichen hier
Tielfach eine geradezu monströse Entwicklung. (Siehe Tafel V,
Fig. 6; Tafel IX, ¥ig. 4.) Wie Weigert nachgewiesen hat, handelt
es sich dabei um Gliazellen, welche gewissermassen die Stützpunkte
für zahlreiche, von ihnen gebildete und an sie sich anlegende Fasern
abgeben. Am schönsten finden sich die Spinnenzellen meist in der
Nähe der Gefässe und in den tieferen Schichten der Rinde ent-
wickelt. Auf Tafel V in den Figuren 4 und 5 ist die normale und
eine paralytische GliahüUe des Rindensaumes nebeneinandergestellt.
Man sieht hier sehr deutlich die mächtige Faserbildung und Kern-
vermehrung in der Paralyse. Häufig stehen die Gliazellen durch
Faserzüge mit der Gliahülle der Gefässe in Verbindung. (Siehe
Tafel V, Fig. 6.)
Die Ausbildung der Gliawucherung steht niu* im allgemeinen,
nicht aber im einzelnen zu dem Untergänge der Nervenzellen in
Beziehung. Auf der einen Seite beobachten wir ausgebreiteten
Zellenschwund ohne nennenswerthe Vermehrung der Glia; anderer-
seits finden wir öfters mitten im stark gewucherten Gliagewebe an-
nähernd oder völlig gesunde Zellen. Daraus geht hervor, dass die
Vernichtung der Zellen jedenfalls unabhängig von der Vermehrung
der Glia erfolgt und nicht etwa durch diese letztere bedingt ist.
Das Nervengewebe wird unmittelbar durch den Krankheitsvorgang
geschädigt und zerstört; die Gliawucherung ist eine gewöhnliche,
wenn auch bisweilen vermisste oder erst später hinzutretende Be-
gleiterscheinung.
Jedenfalls kann sie schwerlich allein die eigenartige Gestaltung
des paralytischen Rindenbildes erklären. Wir wissen, dass massen-
280 VI. Die Dementia paralytica.
hafte Glia Wucherungen auch bei andersartigen Erkrankungen, bei
Idioten, Epileptikern, Altersblödsinnigen vorkommen, ohne zu einer
derartigen Verzerrung des Rindenaufbaus zu führen. "Will man nicht
zu der von vorn herein wenig wahrscheinlichen Annahme greifen,
dass jene eigenartige Veränderung hier auf einer ganz besonderen
Form der Gliaerkrankung beruhe, so wird man zu der Vermuthung
gedrängt, dass die Paralyse noch Gewebstheile zerstört, die bei
anderen Erkrankungen Aveniger in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die oft schon dem blossen Auge so auffällige Schrumpfung der
Rinde vermag uns hier vielleicht den Weg zu zeigen. Da bei den
chronischen Formen die Zellen vielfach dicht an einander rücken,
so dass sie im Gesichtsfelde bisweilen zahlreicher erscheinen, als bei
der gesunden Rinde, wird man kaum zweifeln können, dass zwischen
ihnen Rindenbestandtheile ausgefallen sein müssen. Der Schwund
markhaltiger Fasern, der auch bei anderen Erkrankungen ziemlich
bedeutend sein kann, genügt schwerlich zur Erklärung; vielmehr
dürfte wol an weitreichende Zerstörungen des grauen Netzes zu
denken sein, von dessen Ausdehnung und Wichtigkeit wir vielleicht
noch immer zu unvollkommene Vorstellungen haben. Ist diese An-
schauung richtig, so Avürde möglicherweise gerade die starke Be-
theiligung der fibrillären grauen Substanz zwischen den Zellen die
besondere Eigenthümlichkeit des paralytischen Kraukheitsvorganges
darstellen.
Endlich haben wir unter den krankhaften Befunden in der
Hirnrinde noch der Gef äs s Veränderungen zu gedenken, die wir zwar
nicht ausnahmslos, aber doch sehr häufig antreffen. Einerseits handelt
es sich um eine mehr oder weniger beti'ächtliche Vermehrung der
Blutgefässe, vielfach auch um eine Erweiterung derselben, dann
aber um eine Verdickung ihrer Wandungen mit reichlicher Kern-
vermehrung. (Siehe Tafel V, Fig. 3.) Das dadurch bedingte Klaffen
der Lumina kann man bisweilen beim Durchschneiden schon mit
blossem Auge feststellen. Oefters finden sich in den Wandungen
kleinzellige Infiltrationen, seltener hyaline Ausscheidungen. Hie und
da kommt es zu Verengerungen, auch wol zu kleinen Aneurysmen.
Die Tafel V ist trotz der Verkleinerung, welche die Bilder
haben erfahren müssen, doch vielleicht geeignet, einige der im Vor-
stehenden beschriebenen Veränderungen zu verdeutlichen, nament-
lich wenn man die Uebersichtsbilder mit dem Durchschnitte durch
Pathologische Anatomie. 281
die gesunde Centralrinde Figur 1 vergleicht, der den übrigen
Schnitten Tollkommen eutspricht. Das erste Bild (Figur 2) stellt
eine ungemein rasch verlaufende agitirte Paralyse dar. Die Zellen
befinden sich zumeist im Zustande der schweren Yeränderung, hie
und da auf dem Boden der Sklerose; die Zeichnung der gefärbten
Theile ist verwaschen; die ungefärbten Bahnen und damit die Fort-
sätze sind auf weite Strecken gefärbt, so dass man überall die feinen
Streifen im Gewebe erkennt; die Kerne sind zum Theil verkleinert,
dunkler gefärbt und ohne scharfe Umgrenzung, An zahlreichen
Zellen lassen sich die verschiedensten Stufen des fortschreitenden
Zerfalles wahrnehmen ; häufig ist nur noch das Kernkörperchen mit
geringen Resten des Kernes und der Zellmasse vorhanden. Ueberall
im Gewebe zerstreut finden sich Gruppen von blassen kleinen Glia-
kernen, namentlich in den unteren Schichten.
Das nächste Bild (Figur 3) zeigt uns eine sehr chronisch verlaufene
Paralyse. Hier sind die Zellen zum grössten Theile erhalten, ja sie er-
scheinen in Folge der Schrumpfung verhältnissmässig zahlreich und ge-
drängt, wenn auch ihre regelmässige Anordnung erheblich gestört ist.
Die Zellen selbst sind sämmtlich in höherem oder geringerem Grade
sklerotisch erkrankt. Sie haben sich ungemein stark gefärbt; ihr
feinerer Bau ist gänzlich unkenntlich geworden; meist heben sich
nicht einmal die Kerne ab. Die Körper der Zellen sind geschrumpft,
die Fortsätze dünn, vielfach geschlängelt, die gesammten Umrisse
zackig, stachlig. An verschiedenen Stellen bemerken wir abge-
blasste, zerfallende Klümpchen, die an ihren Kernkörperchen noch
als Reste früherer Zellen kenntlich sind, ein Beweis dafür, dass doch
auch hier ein Untergang von Nervengewebe stattgefunden hat.
Zahlreiche Gliakerne durchsetzen das Gewebe, besonders stark im
zellenarmen Rindensaum, Mehrere durchschnittene Gefässe zeigen
gewaltig verdickte Wandungen,
Ausser den feineren Veränderungen sehen wir in der Rinde ge-
gelegentlich noch kleinere erweichte Stellen, welche sich durch die
leichte Ablösbarkeit der oberflächlichen Rindenschichten oder auch
der ganzen Rindendecke von der weissen Substanz bemerkbar
machen. Ausgedehntere Zerstörungen in der Rinde, wie man sie
insbesondere zur Erklärung der paralytischen Anfälle vermuthen
sollte, sind dagegen recht selten; selbst bei einer viele Monate
andauernden Hemiplegie mit vollständiger Paraphasie konnte ich
282 VI. Die Dementia paralytica.
einen bestimmten Erweichungsherd im Gehirne nicht auffinden.
Dagegen werden hie und da kleinere oder grössere Gummata ange-
troffen.
Aehnliche Yeränderungen, wie in der Grosshirnrinde, finden
sich ganz verbreitet auch in den übrigen Theilen des Gehirns, wie
das schon im Hinblicke auf die sehr bedeutende Gewichtsabnahme
als erwiesen angesehen werden darf. Die Markmassen der Hemi-
sphären zeigen regelmässig einen zerstreuten Faserschwund, der nur
bisAveilen einzelne dichtere Bündel verschont. Seltener sind fleck-
weise Entartungsherde oder, im Anschluss an umschriebenere
Rindenzerstörungen, strangförmige Degeneration bestimmter Leitungs-
bahnen. In den grossen Stammganglien, im centralen Höhlengrau
und ebenso im Kleinhirn ist ausgedehnter Faserschwund nach-
gewiesen worden. Lissauer sah nach stärkerem Befallensein gewisser
Bezirke der Scheitel- und Hinterhauptsrinde bestimmt umgrenzten
Faserschwund in den entsprechenden Abschnitten der Sehhügel.
"Weigert hat in der Körnerschicht des Kleinhirns hochgradige Glia-
wucherungen aufgefunden, aus denen er auf den Untergang der
Fortsätze der Purkinje 'sehen Zellen schliesst. Ausserdem finden
sich in den Nervenkernen der Medulla oblongata, namentlich in den-
jenigen des Hypoglossus, ähnliche Veränderungen der Ganglienzellen
wie in der Hirnrinde.
Im Rückenmarke*) beobachtet man ausser pachymenin-
gitischen und leptomeningitischen Veränderungen bei weitem am
häufigsten eine degenerative Erkrankung der Hinter- und Seiten-
stränge, seltener Veränderungen in den ersteren oder letzteren allein.
Fürstner fand jene gemischte Erkrankung in 50°/o, Betheiligung
der Seitenstränge allein in 12°/o, der Hinterstränge allein in 19<>/o
der Fälle; meist waren beide Seiten in verschiedenem Grade be-
fallen. Bei 11^ lo fanden sich im Rückenmarke keine Veränderungen,
Sehr selten waren Erkrankungen der Vorderstränge. Ausserdem
wurde einige Male diffuse, hie und da auch herdartige Vermehrung
der Stützsubstanz festgestellt. In einzelnen Fällen kommen syringo-
myeUtische Veränderungen vor. Ho che**) Avies Entartungsvor-
*) Westphal, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XX, XXI; Virchow's Archiv,
XXXIX: Archiv f. Psychiatrie, I, XII; Fürstner, ebenda, XXIV, 1.
**) Hoche, Beiträge zur Kenntniss des anatomischen Verhaltens der mensch-
lichen Rückenmarkswurzeln. 1891.
Pathologische Anatomie. 283
gänge in den vorderen und hinteren Wurzeln nach, anscheinend un-
abhängig Ton den Erkrankungen des Rückenmarks. Auch an den
peripheren Nerven, am Saphenus major, am Peronaeus, Thoracicus
longus sind Entartungsvorgänge beschrieben worden, welche mit
den Befunden bei Tabes wie mit den gelegentlich im Leben beob-
achteten Lähmungen gut vereinbar sein würden. Angesichts def
Seltenheit solcher Befunde betont indessen Fürstner, dass wir noch
nicht berechtigt seien, hier diese Veränderungen gerade auf Rech-
nung der Paralyse zu setzen. Er macht vielmehr darauf aufmerksam,
dass noch eine Reihe von anderen Ursachen mitspielen, Alkohoiis-
mus, Tuberculose, Marasmus, Contusiouen, welche erfahrungsgemäss
im Stande seien, neuritische Erkrankungen zu erzeugen.
An den übrigen Organen sind natürlich in erster Linie die-
jenigen Veränderungen zu verzeichnen, welche durch die gewöhn-
lichen Todesursachen der Paralytiker bedingt werden, namentlich
Pneumonien, Tuberculose, septische Erkrankungen, Pyelonephritis
11. dergl. Ausserdem aber haben wir noch eine Reihe von Befunden
zu erwähnen, die einerseits nicht als Folgeerkrankungen aufgefasst
werden können, andererseits doch so häufig sind, dass auch ein zu-
fälliges Zusammentreffen unwahrscheinlich wird. Dahin gehören vor
allem die ausgebreiteten Gefässveränderungen, namentlich das Atherom
der Aorta, welches hier selbst bei recht jugendlichen Personen öfters
in sehr starker Ausbildung angetroffen wird. Angiolella fand auch
in der Leber und den Nieren bei einer Reihe von Kranken peri-
arteriitische Veränderungen, "Weiterhin sind die Herzerkrankungen zu
nennen. Unter 56 Paralytikersectionen der letzten Jahre fand sich
Entartung des Herzmuskels 11 mal, braune Atrophie 4mal, Fettherz
3mal, Endocarditis 4mal, Pericarditis Imal. Granularatrophie der
Niere wurde 6 mal angetroffen. Einige Male waren auch parenchymatöse
Erkrankungen der Leber zu verzeichnen. —
Die Dementia paralytica ist erst seit verhältnissmässig kurzer
Zeit näher bekannt. Wenn man von einzelnen unsicheren An-
deutungen absieht, so scheint erst Haslam vor nunmehr 100 Jahren
die erste genauere Beschreibung der Krankheit geliefert zu haben,
die dann im Anfange unseres Jahrhunderts namentlich von franzö-
sischen Irrenärzten eingehend studirt wurde. Bei der Eigenart und
Schwere des klinischen Bildes liegt unter diesen Umständen die An-
nahme nahe, dass die Krankheit erst in unserem Zeitalter ihre
284 ^'^I- Die Dementia paralytica.
jetzige Häufigkeit erlangt habe. Zur Zeit gehören ihr bei uns im
Durchschnitte etwa 10 — 20*'/o aller Aufnahmen in Irrenanstalten
an; doch ist dieses Yerhältniss ausserordentlichen Schwankungen
unterworfen.*) In einzelnen Ländern, so in Island, ist die Paralyse
fast unbekannt; unter den Negern Nordamerikas hat sie erst im
letzten Jahrzehnt etwas weitere Ausdehnung gewonnen. Wie es
scheint, nimmt die Paralyse im allgemeinen zu, namentlich in den
Grossstädten, Von den beiden Geschlechtern ist das männliche un-
gefähr 2 — 5 mal so stark unter den Erkrankten vertreten, als das
weibliche; in der Charite waren 1891/92 nicht weniger als 45,6ö/(^
der geisteskranken Männer Paralytiker. Bei Frauen höherer Stände
ist die Krankheit recht selten. Die relative Häufigkeit der weib-
lichen Paralyse ist gewachsen, besonders stark in den grossen
Städten. Von den klinischen Formen ist es nach meinen Erfahrungen
besonders die depressive Paralyse, an welcher das weibliche Ge-
schlecht zu erkranken pflegt; agitirte Formen sind verhältnissmässig
selten. Dass die durchschnittliche Dauer des Leidens bei Frauen eine
längere sei, kann ich bisher nicht bestätigen.
lieber die Betheiligung der einzelnen Altersklassen giebt die
nebenstehende prozentische Darstellung Aufschluss, deren Grundlage
249 Fälle bilden. Die grösste Häufigkeit fällt demnach bei uns in
das Jahrfünft zwischen dem 40. und 45. Lebensjahre: vor dem
25. und nach dem 55. Jahre werden nur noch vereinzelte Fälle
beobachtet; zwischen dem 30. und dem 50. Jahre liegen über Sl^/o
aller Erkrankungen. In Bezug auf diese Verhältnisse bestehen in-
dessen zweifellos örtliche Unterschiede; in Berlin und "Wien z. B.
erkrankt die Mehrzahl schon zwischen dem 35. und 40. Lebensjahre.
In den jüngeren Jahren scheinen die expansiven und agitirten Formen,
späterhin die depressive Paralyse ein wenig zu überwiegen. Frauen
erkranken meist in etwas höherem Alter, Von meinen Kranken
hatten 46,6<'/o der Männer und 29% der Frauen beim Beginne des
Leidens das 40. Lebensjahr noch nicht überschritten. Man hat des-
wegen für die weibliche Paralyse auch dem Klimakterium eine ge-
Avisse Bedeutung zugeschrieben. Die Erfahrungen in Berlin deuten
darauf hin, dass die Betheiligimg der jugendlicheren Lebensalter an
*) Wollenberg, Archiv f. Psychiatrie, XXVI, 2; Guddeu, ebenda;
V. Krafft-Ebing, Jahrb. f. Psychiatrie XIII, 2 u. 3; Oebecke, Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie XL; Hirschl, Jahrbücher f. Psychiatrie XIV, 321.
Ursachen.
285
der Paralyse beim weiblichen Gescblechte im Zunehmen begriffen
ist. Andererseits scheinen auch gerade die späteren Jahre gegen-
über den mittleren eine wachsende Neigung zur Erkrankung dar-
zubieten. Eine stärkere Betheiligung der jugendlichen Altersklassen
scheint sich in beschränkterem Maasse bei der Paralyse überhaupt
herauszubilden. Namentlich im Laufe des letzten Jahrzehntes sind
eine grössere Anzahl von Erkrankungen an Paralyse bei ganz
jugendlichen Personen bekannt geworden; einzelne gehen bis in das
9. und 10. Lebensjahr zurück. Hier sind auffallender Weise beide
Geschlechter gleichmässig vertreten. Erbliche Veranlagung scheint
dabei eine ganz besonders grosse Rolle zu spielen; namentlich fand
sich vielfach Paralyse bei den Eltern, ferner Alkoholismus und
syphilitische Erkrankungen. Alzheimer*) meint, dass in etwa
TO^/o der Fälle ein Zusammenhang mit der Lues sicher oder sehr
wahrscheinlich sei. Die klinische Form der Krankheit zeigte meist
eine einfache Demenz, dabei häufige Anfälle und starkes Hervortreten
der Lähmungserscheinungen; der Verlauf war im allgemeinen ein
ziemlich langsamer.
Ledige Personen scheinen mehr gefährdet zu sein, alsYerheirathete;
") Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIT.
286 ^I- Die Dementia paralytica.
jugendliche weibliche Paralysen sind auffallend häufig Prostituirte,
paralytische Frauen vielfach kinderlos. Nicht ganz selten beobachtet
man, dass zwei Ehegatten gleichzeitig oder kurz nach einander
paralytisch werden. Grosse Städte liefern einen sehr bedeutend
höheren Procentsatz von Paralytikern, als die Landbevölkerung, In
Freiburg mit vorwiegend ländlichem Aufnahmebezirk ist nach
mündlicher Mittheilung von Emminghaus die Paralyse ziemlich
selten, während die mehr städtische Bevölkerung im nördlichen
Baden einen recht grossen Bruchtheil von Paralytikern liefert.
Unter den Berufsarten sind Officiere, Kaufleute, Feuerarbeiter,
Eisenbahnbeamte verhältnissmässig zahlreich vertreten, während
katholische Geistliche sehr selten paralytisch werden, v. Krafft-
Ebing sah unter 2000 Paralytikern keinen einzigen katholischen
Geistlichen, umgekehrt aber unter den geisteskranken Officieren bis
zu 90"/o Paralytiker. Der Einfluss der erblichen Anlage tritt hier
gegenüber den sonstigen Geistesstörungen mehr in den Hintergrund,
scheint aber bei jugendlicheren Paralytikern eine etwas grossere
Rolle zu spielen. Meine eigenen Erfahrungen ergaben in öO^/o der-
jenigen Fälle erbliche Veranlagung, in denen sichere Nachrichten
über diese Verhältnisse vorlagen, etwas mehr bei Männern als bei
Frauen. In einem Falle war auch Vater und Grossvater paralytisch
gewesen.
Unter den Ursachen der Paralyse haben wir in allererster
Linie der Syphilis zu gedenken. Dieselbe findet sich auffallend
häufig in der Vergangenheit der Paralytiker, wenn sich auch gegen-
wärtige syphilitische Krankheitserscheinungen nur verhältnissmässig
selten nachweisen lassen. Damit stimmt die Erfahrung überein, dass
es anscheinend vorzugsweise leichte syphilitische Erkrankungen sind,
welchen ein ursächlicher Zusammenhang mit der Paralyse zukommt,
vielleicht deswegen, weil bei ihnen häufiger keine durchgreifende Be-
handlung stattfindet. Die Zwischenzeit zwischen der luetischen An-
steckung und dem Ausbruche der Paralyse ist sehr grossen Schwank-
ungen unterworfen. Unter 21 Fällen, in denen mir diese Zeit genauer
bekannt war, betrug sie 8 mal weniger als 10, 8 mal 10 — 20 Jahre;
die kürzeste Zwischenzeit waren 2, die längste 31 Jahre. Hirschl,
der über 78 Fälle verfügt, sah die Paralyse in 23 Fällen innerhalb
der ersten 10, in 40 Fällen zwischen 10 und 20 Jahren nach der An-
steckung zum Ausbruche kommen; die Grenzen waren 2 und 29 Jahre.
Ursachen. 287
Er weist im Anschlüsse an Obersteiner darauf hin, dass diese zeit-
lichen Beziehungen etwa denjenigen der tertiären Lues entsprechen.
lieber die Häufigkeit, mit welcher die Syphilis als Yor-
gängerin der Paralyse beobachtet wird, gehen die Angaben sehr
weit auseinander (11 — 77<*/o). Hougberg*) fand sogar in 75,7 bis
86,9 seiner Fälle vorausgegangene Syphilis. Meine eigenen Auf-
zeichnungen ergeben, übereinstimmend mit den Erfahrungen Gudden's
in der Charite, bei Männern sichere Syphilis in etwa 34o/o der Fälle.
Eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht ausserdem noch vielfach. Bei
Frauen ist es mir nicht gelungen, über diesen Punkt hinreichende
Sicherheit zu erhalten ; richtet man sich nach dem Yorkommen von
Aborten, so ergiebt sich annähernd dasselbe Yerhältniss wie bei
Männern. Wollenberg nimmt an, dass von seinen weiblichen
Kranken die Hälfte sicher oder sehr wahrscheinlich an Lues gelitten
habe. Hirse hl fand bei 200 Kranken in 6<'/o die sicheren Zeichen
überstandener Lues. Aus der Yorgeschichte von 175 paralytischen
Männern konnte er entnehmen, dass 56*^/0 sicher, 25*'/o wahrschein-
lich an Lues gelitten hatten, und nur bei IG^/o fehlten verwerthbare
Anhaltspunkte. Natürhch ist es aus naheliegenden Gründen un-
gemein schwierig, über frühere syphilitische Erkrankungen auch nur
einigermassen zuverlässige Angaben zu gewinnen, sei es, dass die
Ansteckung gar nicht bemerkt, sei es, dass sie verheimlicht wurde.
So konnte Hirschl feststellen, dass von Kranken mit tertiärer
Syphilis nicht weniger als 36,5% keinerlei Angabe über Ansteckung
oder frühere luetische Erscheinungen machen konnten. Alle bei
Paralytikern gefundenen Zahlen bedeuten daher nur untere Grenz-
werthe der wirklichen Häufigkeitsverhältnisse.
Jedenfalls steht der Zusammenhang zwischen Syphilis und
Paralyse über allem Zweifel fest. Heiberg will in Kopenhagen
gefunden haben, dass einer Häufung der syphilitischen Erkrankungen
nach 15 Jahren (12 Jahre Zwischenzeit, 3 Jahre Krankheitsdauer)
ein Höhepunkt der Todesfälle an Paralyse entspreche. Ferner hat
V. Krafft-Ebing die Yersuche eines vor der Hand ungenannten
Arztes über die Einimpfung von Syphilisgift bei 9 Paralytikern mit-
getheilt, bei denen bis dahin keinerlei Anhaltspunkte für eine frühere
Ansteckung vorlagen. In keinem dieser Fälle entwickelten sich
*) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, L, 3 u. 4.
•288 ^I- Die Dementia paraljtica.
Secundärerscheiniingen. Daraus wird geschlossen, dass bei jenen
Kranken höchst wahrscheinlich doch Lues voraufgegangen war. Auch
manche Punkte der oben angeführten allgemeinen Prädisposition,
insbesondere die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Selten-
heit der Paralyse bei Frauen der besseren Stände und bei katholischen
Geistlichen, ihre Häufigkeit bei Officieren, Kaufleuten, Prostituirten,
das Yorkoramen paralytischer Ehepaare sind mit grösster Wahr-
scheinlichkeit auf einen Zusammenhang zwischen Paralyse und Lues
zu beziehen, ebenso die verschiedene Betheiligung der Geschlechter,
da auch bei der Lues auf eine weibliche 4 männliche Kranke
Jiommen. Das Anwachsen der Paralyse bei den ganz jugendlichen
und bei den älteren Frauen lässt daran denken, dass die Lues im
■ersteren Falle vor, im letzteren während der Ehe erworben
wurde. Sehr auffallend ist es freilich, dass die Mehrzahl gerade der
französischen Irrenärzte die ursächliche Bedeutung der Syphilis für
die Paralyse leugnet und statt dessen den Alkoholmissbrauch in
den Vordergrund stellt. Unsere Erfahrungen in Deutschland führen
nach beiden Richtungen zu durchaus anderen Ergebnissen. Neuer-
dings mehren sich übrigens auch dort die Stimmen, welche die Lues
für das Entstehen der Paralyse verantwortlich machen. So berichtet
Morel-Lavallee von 5 Männern, die sich aus derselben Quelle
syphilitisch ansteckten und sämmtlich paralytisch wurden.
Von sonstigen Schädlichkeiten, denen man für die Entstehung
der Paralyse eine gewisse Rolle zuzuschreiben pflegt, sind auf körper-
lichem Gebiete der Alkoholismus, Sonnenstich, Wärmebestrahlung
des Kopfes und Kopfverletzungen zu nennen. An diese letzteren
schliesst sich die Erkrankung in einzelnen Fällen ziemlich bald an.
Da es sich hier meist um jugendliche, noch anderweitig zu Geistes-
störungen prädisponirte Personen handelt, so haben wir es nach
Gudden's Ansicht wesentlich mit einer Auslösung des Leidens durch
die Kopfverletzung zu thun. Andererseits sehen wir die Paralyse
dem Trauma oft erst nach Jahren folgen, so dass man mehr eine
vorbereitende Wirkung des Traumas anzunehmen hätte. Natürlich
wird dann die Sicherheit des Zusammenhanges eine immer geringere;
zugleich ist es wol zweifelhaft, ob solche Fälle wirklich gleichartig
und namentlich, ob sie ohne weiteres der Paralyse zuzurechnen sind-
Der Alkoholmissbrauch ist nach meinen Erfahrungen ziemlich häufig
Folge, aber schwerlich Ursache der Paralyse, wenn er auch eine
Wesen der Krankheit. 289
grosse vorbereitende und 'auslösende Rolle spielen mag. Ebenso
können auch manche andere Einflüsse, körperliche Erkrankungen,
das Wochenbett, psychische Schädlichkeiten die Entwicklung der
Krankheit beschleunigen. Namentlich eine sehr verantwortungsvolle,
mit heftigen Gemüthsschwankungen verbundene Thätigkeit, andauernde
Unruhe und Aufregung scheint die Entstehung der Paralyse zu be-
günstigen. Wenigstens sehen wir, dass der Krieg mit seiner An-
spannung der gesammten psychischen Leistungs- und Widerstands-
fähigkeit, das Börsenspiel, Ausschweifungen, der aufreibende Kampf
ums Dasein in dem lebhaften Getriebe der grossen Städte regel-
mässig zahlreiche Opfer fordert. Einfache Verstandesarbeit dagegen,
und sei sie noch so anstrengend an sich, hat auf die Entwicklung
der Paralyse schwerlich einen Einfluss. Allerdings ist bei allen
derartigen Erfahrungen die Beziehung zur Häufigkeit der Syphilis
nirgends abzutrennen.
Suchen wir uns nunmehr an der Hand der vorliegenden That-
sachen wenigstens ungefähr ein Bild von dem Wesen des paraly-
tischen Krankheitsvorganges zu machen, so muss gleich im Beginne
einer solchen Betrachtung betont werden, dass möglicherweise eine
Reihe verschiedener Krankheitsformen unter dem klinischen Bilde
des fortschreitenden Blödsinns mit Lähmung zusammengefasst werden,
die aus erst eine eingehendere Kenntniss der pathologischen Ana-
tomie dereinst auseinanderzuhalten lehren wird. Es ist ja ohne
weiteres begreiflich, dass jede ausgebreitete Zerstörung der Hirnrinde
annähernd die gleichen Erscheinungen zu erzeugen im Stande sein
wird. In der That finden wir auch heute schon gelegentlich bei
anscheinend dementer Paralyse an der Leiche ganz andersartige
allgemeinere und selbst umgrenzte Hirnerkrankungen, die wir später
noch etwas genauer zu besprechen haben werden.
Trotzdem aber darf es als sicher gelten, dass der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle von progressiver Paralyse ein ganz bestimmter,
einheitlicher Krankheitsvorgang zu Grunde liegt, der durch den fort-
schreitenden Schwund des Nervengewebes, namentlich in der Hirn-
rinde, gekennzeichnet ist. Das Wesen dieses Vorganges kann An-
gesichts der Bilder, die uns das Mikroskop liefert, nicht zweifelhaft
sein. Offenbar haben wir es hier mit einer Vergiftung zu thun,
welche in ihrem Ablaufe vollkommen den Erfahrungen bei anderen,
künstlich herbeigeführten Vergiftungen entspricht. Die anfänglichen
Kraepelin, Psychiatrie. C. Aufl. II. Band. 10
290 ^I- Die Dementia i)aral}tica.
Reizungserscheinimgen an den Zellen, der rasche Zerfall, die langsame
Schrumpfung, das gelegentliche Aufflackern des Krankheitsvorganges,
die Möglichkeit einer Kückbilduug wiederholen sich in ganz ähnlicher
Weise bei der schnelleren oder langsameren Vergiftung des Yer-
suchsthiers mit irgend einem Stoffe, der die Nervenzellen schädigt.
Dass diese anatomischen Thatsachen mit den klinischen Beobach-
tungen der schleichenden Yerblödung, der plötzlichen Erregungen
und Anfälle, der weitgehenden Besserungen in vollster Ueberein-
stimmung stehen, bedarf wol kaum des besonderen Hinweises.
Lassen wir für diese Betrachtung die Ausbreitung der Schädigung
auf andere Gebiete des Nervensystems zunächst ausser Acht, so be-
trifft die Vergiftung wesentlich die Ganglienzellen und das graue Netz
in der Hirnrinde. Der Untergang der markhaltigen Fasern und die
Wucherung der Neuroglia würden als die weiteren Folgen des Zellen-
schwundes anzusehen sein.
Das Gift, mit welchem wir es hier zu thun haben, muss im
Blute kreisen. Dafür spricht einmal die weite Verbreitung der
Schädigung, dann aber wol auch die häufige Betheiligung der Blut-
gefässe an dem Krankheitsvorgange. Man könnte sogar geradezu
daran denken, wie es häufig geschehen ist, dass erst die Erkrankung
der Hirngefässe den eigentlichen Anstoss zu der schweren Ernährungs-
störung gebe, die wir an den Ganglienzellen sich abspielen sehen.
Dieser Gedanke liegt um so näher, als die Schädlichkeiten, welchen
gewöhnlich die Entstehung der Paralyse zugeschrieben wird (Syphilis,
Alkohol, Gemüthsbewegungen), alle gemeinsam eine schwächende
Wirkung auf die Muscularis der Gefässwand auszuüben im Stande
sind. Gerade die Erschlafiung der Muscularis aber giebt, wie Thoma
nachgewiesen hat, den regelmässigen Anlass zur Entstehung end-
arteriitischer Erkrankungen, wie wir sie im paralytischen Gehirne
so häufig beobachten. Allein es muss darauf hingewiesen werden,
dass einerseits die Gefässerkrankungen eine zwar häufige, aber
keineswegs ausnahmslose Begleiterscheinung des paralytischen Krank-
heitsvorganges darstellen und jedenfalls keine bestimmte Beziehung
zu dem sonstigen anatomischen oder klinischen Bilde erkennen
lassen. Andererseits aber begegnen uns vielfach noch weit stärkere
Veränderungen an den Gefässen, ohne dass die eigenartige Störung
der Paralyse zu Stande käme.
Vielmehr weist uns das ganze klinische Bild der Paralyse, wie-
Wesen der Krankheit. 291
ich meine, mit grosser Bestimmtheit darauf hin, dass es sich hier
um eine schwere allgemeine Ernährungsstörung handelt, bei
welcher die Hirnerkrankimg zwar die wichtigste und auffallendste,
aber doch nur eine Theilerscheinung darstellt. Zur näheren Be-
gründung dieses früher schon kurz ausgesprochenen Satzes sei zu-
nächst auf die ganze Reihe von Störungen hingewiesen, welche die
Paralyse, im Gegensatz zu den reinen Hirnerkrankungen, in den
verschiedensten Theilen des Körpers hervorruft. Dahin gehören
ausser den Gefässveränderungen die häufigen Erkrankungen des
Herzens oder der Nieren, die vielleicht zum Theil mit jenen ersteren
in einem gewissen Zusammenhange stehen mögen, zum Theile jedoch
unmittelbar auf tiefgreifende Schädigungen der gesammteu Ernährungs-
vorgänge hinweisen. Sicherlich werden solche Schädigungen nicht
etwa erst durch das Verhalten der Krauken herbeigeführt, sondern
sie müssen in dem Krankheitsvorgange selber begründet sein. Dafür
zeugt die Thatsache, dass wir jene Erkrankungen bei anderen Formen
des Irreseins nicht wiederfinden, obgleich dieselben mit den gleichen
ungünstigen Umständen, mit Aufregung, Schlaflosigkeit, Nahrungs-
verweigerung u. s. f. einhergehen. Dasselbe gilt für die so sehr
in die Augen fallenden Störungen, die man als „trophische" von dem
Erkrankungsvorgange im Nervengewebe abhängig gedacht hat. Diese
Erklärung kann nur in sehr beschränktem Maasse und höchstens für
den Druckbrand zugestanden werden. Die erhöhte Brücliigkeit der
Knochen finden wir bei keiner einzigen örtlichen Hirnerkrankung
wieder, wol aber bei verschiedenen allgemeinen Ernährungsstörungen,
insbesondere bei den Greisenveränderungen.
Auch die gewaltigen Schwankungen des Körpergewichtes, die
schlechterdings nicht aus dem äusseren Verhalten der Kranken zu
erklären sind, sprechen für Krankheitsursachen, welche den Allgemein-
zustand des Körpers entscheidend beeinflussen. Nimmermehr kann
uns der Untergang des Nervengewebes bei der Paralyse erklären,
dass die Kranken zu gewissen Zeiten von einem Heisshunger be-
fallen werden, dessen rücksichtslose Befriedigung zu einer ungeheuer-
lichen Fettausamraluug im Körper führt, während gegen das Ende
des Leidens Avieder binnen kurzer Zeit die denkbar höchsten Grade
der Abmagerung erreicht werden. Bei keiner anderen Hirnerkran-
kung begegnet uns Aehnliches. Dagegen werden wir lebhaft an die
Erscheinungen bei gewissen Stoffwechselerkrankungen erinnert, ins-
19*
292 ^I- Die Dementia paralytica.
besondere an das Myxödem und den Diabetes. Hat doch v. Noorden
gezeigt, dass der übermässige Fettansatz vielfach geradezu auf
eine verminderte Lebhaftigkeit der Yerbrennungsvorgänge im
Körper zurückweist, die durch allgemeinere Stoffwechselstörungen
bedingt ist.
Wir haben ferner an jene früher angeführten Beobachtungen
zu denken, welche für tiefer greifende Yeränderungen im Yerhalten
des Blutes sprechen. Ebenso würden die gelegentlichen Steigerungen
wie die dauernden Senkungen der Körperwärme, die man meist auf
Schädigungen der Wärmeregulirungscentren zurückzuführen pflegt,
wol ungezwungener als Vergiftungserscheinungen aufzufassen sein.
Entvsprechende Störungen sind uns ja von anderen Yergiftungen her
genugsam bekannt. Man denke nur an die Eklampsie einerseits,
an das Myxödem andererseits. Aber auch die paralytischen Anfälle
selbst vertragen kaum eine andere Erklärung, als diejenige durch
Vergiftung. In den urämischen, den eklamptischen Anfällen, in den
epileptiformen Anfällen nach Schilddrüsenausschneidung, im Koma
diabeticum haben wir so zahlreiche Beispiele für eine solche Ent-
stehungsweise vor uns, dass wir diese Annahme jedenfalls als die
nächstliegende und am besten beglaubigte betrachten dürfen. Der
gelegentliche stürmische Zerfall der Zellen, wie er von Nissl ana-
tomisch im einzelnen festgestellt und von Lissauer geradezu als
Grundlage der paralytischen Anfälle betrachtet wurde, würde einer
solchen plötzlich eintretenden Ueberschwemmung mit dem Krank-
heitsgifte bestens entsprechen. Vielleicht können wir hier auch an
die von Kemmler studirten rhythmischen Zuckungen in Folge des
Anpralles der Blutwelle erinnern. Freilich ist mit Recht darauf
hingewiesen worden, dass gerade die paralytischen Anfälle die
Kennzeichen örtlicher Reizerscheinungen tragen, die darum schwer-
lich auf allgemeine Giftwirkungen zurückgeführt werden könnten.
Wir dürfen uns aber nach Ausweis des mikroskopischen Bildes
vorstellen, dass sich das Rindengewebe des Paralytikers vielfach in
ganz verschiedenen Stufen der Erkrankung befindet; ein im Blute
kreisendes Gift könnte daher recht wol zunächst nur in bestimmten,
gerade besonders empfindlichen Gegenden Reizerscheinungen aus-
lösen, die sich erst allmählich weiter ausbreiten. Man könnte sogar
versucht sein, den Unterschied zwischen apoplektiformen, allgemeinen
und umgrenzten epileptiformen Krämpfen auf das wechselnde Ver-
Wesen der Krankheit. 293
hältniss zwischen Stärke der Giftwirkung und örtlicher Empfindlich-
keit zurückzuführen.
Alle die angeführten Erfahrungen werden, wie ich meine, nur
dann verständlich, wenn die Paralyse, indem sie die gesammten
Ernährungsvorgänge und nach Umständen eine Reihe von Organen,
Gefässe, Herz, Nieren, Knochengewebe, in Mitleidenschaft zieht, zu-
gleich ein Gift erzeugt, welches weite Bezirke des Nervensystems
vernichtet. Kein Gebiet scheint völlig unverletzlich zu sein, doch
bestehen hinsichtlich der Widerstandsfähigkeit der einzelnen Gebiete
und Zellen vielfache Unterschiede. Der gleichen Erfahrung be-
gegnen wir bei anderen Vergiftungen, z. B. derjenigen mit Alkohol,
Auch durch ihn werden bei verschiedenen Menschen nicht immer
dieselben psychischen und nervösen Störungen, und sie werden
nicht immer in derselben Reihenfolge erzeugt. Wie es scheint, ge-
langt das paralytische Gift, ähnlich dem urämischen und dem
diabetischen, nicht dauernd oder doch nicht immer in grösseren
Mengen in die Blutbahn. A^ielmehr dürfte zeitweise ein Stillstand
in seiner Erzeugung eintreten, während zu anderen Zeiten reich-
lichere Mengen den Organen zugeführt werden. So wenigstens
würden sich am einfachsten die Nachlässe und Besserungen der
Krankheit einerseits, die Anfälle und Verschlimmerungen anderer-
seits erklären. Dass sowol Nachlässe wie Steigerungen der Krank-
heitserscheinungen durch äussere Verhältnisse einigermassen beein-
flusst werden, darf uns dabei nicht Wunder nehmen. Gerade wenn
der allgemeine Haushalt des Körpers durch die Krankheit wesentlich
gestört ist, wird es leicht verständlich, dass günstige hygienische
Verhältnisse, Ruhe, regelmässiges Leben, sorgfältige Ernährung
einen Ausgleich der Störung erleichtern, Ueberanstrengungen, Aus-
schweifungen, Gemüthsbewegungen denselben erschweren müssen.
Dazu kommt, dass natürlich auch die Widerstandsfähigkeit des
Nervengewebes gegen die andringende Schädlichkeit in beiden Fällen
eine sehr verschiedene sein muss.
Die hier durchgeführte Auffassung der Paralyse bringt die
Krankheit, wie man ohne weiteres übersieht, in eine gewisse Ver-
wandtschaft mit dem Myxödem und weiterhin mit Diabetes, Osteo-
malacie, Akromegalie. Bei diesen letzteren Krankheiten vermag
allerdings das zweifellos im Körper kreisende Gift nicht das Nerven-
gewebe zu zerstören. Dagegen haben wir früher in der Dementia
294 ^ I- Die Dementia paralytica.
praecox eine Form des Irreseins kennen gelernt, welche nach den
Ter schied ensten Richtungen hin das Bindeglied zwischen dem
Myxödem und der Paralyse zu bilden geeignet ist. Nur war dort
das vermuthete Gift ausser Stande, andere, als die Träger ganz be-
stimmter Verrichtungen des Hirns zu vernichten; das Urtheil, die
Gefühlsbetonung und die Willensentschliessungen wurden in erster
Linie in Mitleidenschaft gezogen, während Gedächtniss und Auf-
fassung verhältnissmässig wenig litten. Aehnlich sehen wir etwa
das Morphium in gewisser Beziehung die gleichen psychischen
Störungen erzeugen wie der Alkohol; andere, die Gewaltthätigkeit,
die Wahnbildungen, die Gedächtnissschwäche, ferner die neuritischen
Erkrankungen, die Epilepsie kommen auch bei dem läugstdauernden
Missbrauche des Mittels nie zu Stande. Yon besonderer Bedeutung
aber erscheint es mir, dass bei der Dementia praecox nicht nur
ganz ähnliche psychische Krankheitsbilder zur Entwicklung kommen
können Avie bei der Paralyse, die einleitende Verstimmung, der
Grössen wahn, die Hypochondrie, die einfache Verblödung u. s. f.,
sondern dass auch Anfälle, freilich meist leichterer Art, centrale
Sprachstörungen, Pupillenveränderungen, endlich jene auffallenden
Schwankungen des Körpergewichts sich dort wiederfinden, welche
diese beiden Krankheitsgruppen vor anderen auszeichnen.
Wir stehen nunmehr aber vor der Frage, wie weit sich die
hier vertretene Anschauung mit den bisher über die Entstehung der
Paralyse bekannten Thatsachen in Uebereinstimmung bringen lässt.
Hauptsächlich werden wir uns dabei nur mit der Verursachung durch
Syphilis abzufinden haben, da alle sonstigen Ursachen der Paralyse
theils überhaupt unsicher, theils doch nur als unterstützende Ein-
wirkungen zu betrachten sind.
Allerdings hat Bin s wanger''') den Satz aufgestellt, dass wir
den paralytischen Krankheitsvorgang „unbestritten als die Folge-
erscheinung einer functionellen Ueberanstrengung des Central-
nervensystems und dabei in erster Linie der Grosshirnrinde" zu
betrachten haben. Ich kann dieser Auffassung nicht zustimmen.
Wir kennen in der Hauptsache die Krankheitsbilder, welche durch
Erschöpfung erzeugt werden, ziemlich gut; sie entsprechen in keiner
Weise der Paralyse. Auch die besonderen Entstehungsbedingungen
*) Berliner klinische Wochenschrift, 1894, 49.
Weseu der Krankheit. 295
des Leidens bieten für die erwähnte Annahme schwerlich eine Be-
stätigung. Es ist zwar richtig, dass dauernde gemüthliche Erregungen
anscheinend die Entwickhmg der Paralyse begünstigen; doch lässt
sich gewiss nicht erweisen, dass sie wirkliche Ursachen der Krank-
heit sind, mag man der Verschiedenheit der persönlichen Wider-
standsfähigkeit einen noch so grossen Spielraum zugestehen. Sehen
wir doch zahllose kräftige Männer paralytisch erkranken, die in den
einfachsten und geregeltsten Yerhältnissen leben, während anderer-
seits die grösste Anspannung der geistigen und gemüthlichen Leistungs-
fähigkeit zwar regelmässig alle Störungen der nervösen Erschöpfung,
aber nicht Paralyse herbeiführt. Was aber meines Erachtens die
Frage entscheidet, ist der Umstand^ dass Ermüdung und Erschöpfung,
so viel wir wissen, sicher vorübergehende, vielleicht unter Um-
ständen auch einmal dauernde Schädigungen, nicht aber einen fort-
schreitenden Krankheitsvorgang erzeugen können. Fällt die Ur-
sache fort, so hört die AVirkung auf — diesen Satz finden wir
gerade bei den Störungen nach Erschöpfung überall bewahrheitet,
auch dort, wo schwere Schädigungen voraufgegangen waren. Es
wäre nicht zu verstehen, Avarum Ueberanstrengungen, die in keiner
Weise das Durchschnittsmaass überschreiten, so ungemein häufig
eine Erkrankung der Hirnrinde herbeiführen sollten, die trotz vollster
geistiger Ruhe sich nicht bessert, sondern unaufhaltsam bis zur Ver-
nichtung fortschreitet.
Dem gegenüber ist die Rolle der Syphilis offenbar eine durchaus
wesentliche. Es hat daher in älterer wie in neuerer Zeit auch nicht an
Forschern gefehlt, welche die Paralyse, ebenso wie die ihr offenbar
nahe verwandte Tabes, einfach als syphilitische Erkrankung des cen-
tralen Nervensystems auffassen zu können glaubten. Strümpell
hat die Paralyse in Parallele mit den diphtherischen Lähmungen
gestellt, indem er annahm, dass dort wie hier durch den lobenden
Ansteckungsträger, also bei der Paralyse den Syphiliskeim, nach
Ablauf des ersten Kraukheitsabschnittes ein chemisches Gift erzeugt
w^erde. welches nun in eigenthümlicher Weise auf die verschiedenen
Abschnitte des Nervensystems zerstörend einzuwirken im Stande sei.
Auch Möbius hält Tabes und Paralyse geradezu für Nachkrank-
heiten der Syphilis. Leider gestatten die heute vorliegenden That-
'sachen eine so einfache Deutung, wde mir scheint, noch nicht. Selbst
wenn wir die Annahme machen wollten, dass alle „wahren Paralysen"
296 VI. Die Dementia paralytica.
mit der Syphilis in ursächlichem Zusammenhange stehen, so er-
wachsen dem Yerständnisse doch noch eine Reihe von Schwierig-
keiten. Erstens lehrt uns die anatomische Untersuchung, dass bei
den paralytischen Yeränderungen von eigentlicher Syphilis keine
Rede sein kann. Zwar finden wir nicht so selten Infiltrationen der
Gefässwandungen, die als gummöse Erkrankungen aufgefasst werden
dürfen, vereinzelt auch einmal ein grösseres Gumma; dagegen ent-
spricht der Erkrankungsvorgaug in der Hirnrinde in keiner Weise
den uns sonst bekannten Einwirkungen der Syphilis. Dazu kommt,
dass die Paralyse durch antiluetische Behandlung erfahrungsgemäss
nicht zum Stillstande gebracht, noch weniger gebessert, geschweige
denn geheilt werden kann. In den nicht ganz seltenen Fällen, in
denen die Zeichen einer fortbestehenden Lues vorhanden sind, sehen
wir diese letzteren auf Quecksilber und Jodkalium in gewohnter
Weise schwinden, während die paralytischen Störungen völlig un-
berührt bleiben oder sich gar verschlimmern. Endlich aber ist zu
berücksichtigen, dass die Paralyse der syphilitischen Ansteckung
regelmässig erst nach recht langer Zeit, meist nach mehr als einem
Jahrzehnte, zu folgen pflegt.
Aus diesen Thatsachen geht mit Bestimmtheit soviel hervor,
dass die Paralyse schwerlich eine einfache syphilitische Erkrankung
sein kann. Dagegen muss sie im Stande sein, innerhalb längerer
Zeiträume auf irgend welche Weise eine tiefgreifende Stoflfwechsel-
erkrankung herbeizuführen, die als solche mit der Syphihs nichts
mehr zu thun hat und ihrerseits ein Gift erzeugt, das wir als die
letzte Ursache der paralytischen Yeränderungen anzusehen haben.
Eine solche Annahme würde, so viel ich sehe, allen besprochenen
Schwierigkeiten der Erklärung weitaus am besten gerecht werdeD.
Freilich können wir uns über das Wesen des Bindegliedes zwischen
Lues und Paralyse heute noch keine bestimmteren Yorstellungen
machen, doch möchte ich daran erinnern, dass z. B. auch Myxödem
durch die Syphilis erzeugt werden kaim, wenn die Krankheit gerade
die Schilddrüse zerstört. Auch hier wird sich das Myxödem erst lange
nach der syphilitischen Ansteckung entwickeln, da ihm die völlige Yer-
nichtuDg der Drüse voraufgehen muss; auch hier ist die antiluetische
Behandlung machtlos geworden, trotzdem sie andere gleichzeitige
Zeichen der Syphilis glatt beseitigt. Auch hier endlich haben die
anatomischen Yeränderungen nicht die geringsten Beziehungen mehr
Erkennung. 297
ZU der ursprünglichen Syphilis. Andererseits kann die Schilddrüse
auch durch Tuberculose, durch Geschwulstbildungen, durch das
endemische Gift des Kretinismus und wol noch durch eine Reihe
von weiteren Krankheitsvorgängen zerstört werden. Aehnlich sehen
wir die Addison 'sehe Krankheit, ebenfalls eine allgemeine Er-
nährungsstörung, oftmals durch die Tuberculose erzeugt werden, ob-
gleich diese letztere mit jenem Leiden nicht die geringste Yerwandt-
schaft besitzt. So wäre es denkbar, dass auch die gleiche, der
Paralyse zu Grunde liegende Allgemeinerkrankung auf verschiedenen
Wegen zu Stande kommen könnte, von denen derjenige der lueti-
schen Ansteckung nur der gangbarste ist. Damit endlich würde
die Thatsache begreiflich, dass uns die Syphilisstatistik immer noch
in einer ziemlich grossen Zahl von Fällen im Stiche lässt.
Die Erkennung der Paralyse*) ist eine der wichtigsten
Aufgaben des Irrenarztes, weil von ihr fast immer sehr ein-
schneidende Massregeln, namentlich auch wirthschaftlicher Natur
(Entmündigung, Auflösung von Geschäften), abhängig sind. Die
grössten Schwierigkeiten erwachsen natürlich im ersten Beginne,
so lange körperliche wie psychische Störungen noch unbestimmte
sind. Hier gilt zunächst die Regel, dass man bei geistigen Er-
krankungen, die ohne greifbare Ursache erstmals in mittleren Lebens-
jahren auftreten, besonders bei Männern, immer an die Möglichkeit
einer Paralyse denken soll. Von körperlichen Zeichen sind fast
unbedingt beweisend reflectorische Pupillenstarre und die eigenartige
Sprachstörung. jS^ach Siemerlings Zusammenstellung betraf die
Pupillenstarre bei Geisteskranken in 92"/o der Fälle Paralytikei-.
Ebenso dürfte die Unfähigkeit zur richtigen Zusammenordnung der
Wörter, Silben und Buchstaben nahezu oder ganz ausschliesslich
der Paralyse angehören, während die aphasischen Störungen be-
kanntlich auch anderen Hirnerkrankungen zukommen, die rein arti-
culatorischen aber zudem angeboren sein können. Auch die para-
lytischen Anfälle sind ungemein wichtige Zeichen der Krankheit;
doch ist es begreiflicherweise nöthig, im gegebenen Falle die Möglich-
keit epileptischer, alkoholischer, urämischer, diabetischer Anfälle aus
der Art derselben, aus der Vorgeschichte und durch die körper-
liche Untersuchung auszuschliessen. Anfälle mit vorübergehender
*) Hoc he, Die Frühdiagnose der progressiven Paralyse. 1896.
298 ^1- Die Dementia paralytica.
Aphasie oder rasch schwindenden Lähmungen sind stets in höchstem
Grade der Paralyse verdächtig. Nicht ganz selten gehen einzelne
körperliche Krankheitszeichen dem Auftreten der psychischen Ver-
änderungen lange Zeit voraus. Thomsen hat Fälle berichtet, in
denen Pupillenstarre, Augenmuskellähraungen, aphasische oder epi-
leptiforme Anfälle, Verschlechterung der Sprache 5, 7, ja 10 und
11 Jahre vor dem eigentlichen Ausbruche der Krankheit beobachtet
wurden. Ich kann diese Angaben durchaus bestätigen. Man wird
daher beim Auftreten derartiger Erscheinungen immer auf die all-
mähliche Entwicklung einer Paralyse gefasst sein müssen, auch
wenn sich zunächst Jahre lang keine weiteren Erscheinungen geltend
machen.
Wo psychische Veränderungen neben den angeführten kenn-
zeichnenden körperlichen Störungen vorhanden sind, zu denen
noch als weniger werthvoll Steigerung oder seltener Fehlen der
Kniesehnenreflexe und Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit
hinzuzufügen wären, wird im allgemeinen die Aufdeckung der
Krankheit keine Schwierigkeiten bieten. Wir sind aber that-
sächlich sehr häufig in der Lage, die Diagnose der Paralyse aus-
schliesslich oder wesentlich aus dem psychischen Zustande stellen
zu müssen. Einzelne Fehlgriffe sind dabei unausbleiblich, doch
ist die Zuverlässigkeit auch dieser Merkmale eine recht grosse.
In erster Linie steht dabei die Störung des Gedächtnisses und
der Merkfähigkeit, weiterhin die Urtheilsschwäche, die Gemüths-
stumpfheit, die Peeinflussbarkeit der Stimmung und die Bestimm-
barkeit des Handelns.
Alle diese Zeichen werden bei der Abgrenzung der Paralyse
von der Neurasthenie zu beachten sein, die in den ersten Zeiten
der Krankheit zuweilen ebenso schwierig wie durch die Sachlage
dringend gefordert erscheint. Wir haben der einzelnen Unter-
scheidungsmerkmale bereits bei Besprechung der nervösen Er-
schöpfung gedacht, möchten aber hier noch hinzufügen, dass den
Klagen über gelegentlichen Schwindel, leichtem Stottern, Zittern der
Zunge und massiger Steigerung der Sehnenieflexe keine schwer-
wiegende diagnostische Bedeutung zukommt. Klare Einsicht und
Verständniss für die Krankheitserscheinungen, nachhaltiges Streben
nach Beseitigung derselben. Zugänglichkeit für vernünftigen Zu-
spruch, fortschreitende Besserung durch angemessene Erholung
Erkennuui,^ 299
sprechen für Neurasthenie, Avähreud der Paralytiker manche deut-
liche Störungen (Gedächtnissschwäche, Reizbarkeit) selbst vielleicht
gar nicht beachtet, dafür andere in hypochondrischer Weise vor-
bringt, Belehrungen nur unvollkommen versteht und verarbeitet, im
Vergleiche zu seinen lebhaften Klagen merkwürdig wenig gegen
seine Krankheit unternimmt, keine Behandlung zu Ende führt und
durch einfaches Ausspannen oft gar nicht gebessert wird.
Sehr gTOSs kann öfters die äusserliche Aehnlichkeit der para-
lytischen Depression mit anderen, sonst ganz verschiedenartigen
Zuständen sein. Die Abgrenzung von der Melancholie kommt
namentlich beim weiblichen Geschlechte in Frage, bei dem ohnedies
depressive Paralysen ziemlich häufig sind; bei Männern wird wegen
der grossen Seltenheit wirklicher Melancholien vor dem 50. Jahre
schon das Lebensalter einen gewissen Anhalt geben. Für Paralyse
spricht ferner der Nachweis auffallender Schwäche des Urtheils, der
Stimmung, des Handelns und ganz besonders des Gedächtnisses,
mangelhafte zeitliche Orientirung, Yerständnisslosigkeit für die
Umgebung und die Sachlage, Unsinnigkeit und Zusammenhangs-
losigkeit der Wahnbildungen. Allerdings treten bei Frauen in den
50er Jahren, wo die Paralyse noch vielfach beobachtet wird, auch
in der Melancholie öfters schon die Zeichen einer psychischen
Schwäche deutlich hervor. Wenn hier nicht das Yerhalten des Ge-
dächtnisses die Sachlage klärt, kann die sichere Abgrenzung der
Paralyse von der Melancholie auf Grund des psychischen Bildes
allein in der ersten Zeit unmöglich worden. Verwerthbar ist bis-
weilen auch die Entwicklung des Leidens, die bei der Paralyse eine
allmählichere und schleichendere zu sein pflegt, als bei der Melan-
cholie. Den Ausschlag aber ward meist das Auffinden dieses oder
jenes entscheidenden körperlichen Krankheitszeichens geben müssen.
Aehnliches gilt von der Unterscheidung der Paralyse gegenüber
den Depressionszuständen des manisch-depressiven Irreseins. Wo frei-
lich die Vorgeschichte frühere manische oder depressive Erkrankungen
aufweist, ist die Erkennung leicht. Da sich aber die ersten Anfälle
eines manisch-depressiven Irreseins auch in mittlerem und höherem
Lebensalter zeigen können, so ist man bei der Diagnose nicht selten
auf das Zustandsbild allein angewiesen. Bei besonnenen und ge-
ordneten Kranken wird der Nachweis oder das Fehlen der Ge-
dächtnissstörung, der Urtheilsschwäche und der Bestimmbarkeit von
300 ^"I- Ke Dementia paralytica.
besonderer Bedeutung sein. Einfacher Stimmungswechsel und das
gelegentliche Auftauchen von Bewegungsdrang und leichten Grössen-
ideen ist wegen der Möglichkeit des Umschlagens in einen manischen
Zustand nur mit grösster Vorsicht für die Annahme einer Paralyse
zu verwerthen. Die Diagnose bei Stuporzuständen wird im all-
gemeinen zu berücksichtigen haben, dass circuläre Kranke einerseits
etwas besser aufzufassen pflegen, als paralytische, andererseits mo-
torisch gebundener sind. Sie folgen daher den Vorgängen in der
Umgebung mit grösserer Aufmerksamkeit, gerathen leichter in Angst,
wenn man sie etwa mit einer Nadel bedroht, bewegen sich aus
freien Stücken wenig und langsam, doch macht sich die innere Er-
regung bisweilen in flüsternden Selbstgesprächen Luft. Dem gegen-
über kümmern sich stuporöse Paralytiker wenig um die Aussenwelt,
beachten auch drohende Gefabren kaum, sind in ihren Bewegungen
freier, entweder unruhig, ängstlich oder stumpf, unzugänglich. Es
ist aber im einzelnen Falle natürlich nicht immer möglich, sich über
die inneren Vorgänge der Kranken soweit Klarheit zu verschaffen,
dass die Unterscheidung ohne Berücksichtigung der freilich auch
vielfach unsicheren körperlichen Zeichen rasch und zuverlässig
durchführbar wäre.
Die expansiven Erregungszustände der Paralytiker können zu
Verwechselungen mit manischen Erkrankungen Anlass geben. Ab-
gesehen von den körperlichen Zeichen sprechen Unfähigkeit, sich
neue Eindrücke einzuprägen, Unsicherheit in den Zeitangaben und
in den Schulkenntnissen (Eechnen), abenteuerliche und widerspruchs-
volle Wahnbildungen, grosse Beeinflussbarkeit der Stimmung, Lenk-
samkeit des "Willens für Paralyse. Auch in der Manie werden
übrigens nicht selten Wahnvorstellungen vorgebracht, die inhaltlich
ganz an diejenigen der Paralytiker erinnern, aber man merkt meist
bald, dass die Kranken mit ihnen mehr spielen, aufschneiden, ver-
blüffen wollen, sie nicht mit der naiven Ueberzeugtheit vorbringen
wie die Paralytiker. Manische Kranke haben ein weit besseres
Verständniss für ihre Lage, pflegen lebhaft nach Hause zu verlangen,
Thatendraug zu zeigen, lassen sich nicht so leicht beschMdchtigen
und vertrösten Avie paralytische. In den ganz schweren Erregungs-
zuständen ist die Auffassung, die Orientirung und der Gedanken-
zusammenhang bei den Paralytikern erheblich stärker getrübt, als
bei manischen Kranken. Nicht selten wird hier auch die Vor-
Erkeniuing. 301
geschichte, das frühere Auftreten manischer oder depressiver Er-
krankungen, Anhaltspunkte für die Diagnose liefern.
Manche sehr plötzlich auftretende Erregungszustände der Para-
lytiker können für Delirium tremens gehalten werden, besondei-s
wenn Alkoholmissbrauch vorlag. Im allgemeinen sind die Para-
lytiker dabei schwerer benommen, geben weniger Auskunft, zeigen
auch nicht die eigenthümliche Mischung von Angst und Humor,
die wir so oft bei Alkoholdeliranten finden. Bisweilen wird uns
aber erst die nach dem Schwinden des Deliriums zurückbleibende
psychische Schwäche über die paralytische Grundlage des Krank-
heitsbildes aufklären, wenn nicht Vorgeschichte oder körperliche
Anzeichen darauf schon hingewiesen haben.
Auf die Unterscheidung der Paralyse von der Amentia brauchen
wir wol kaum des näheren noch einzugehen. Es dürfte ge^
nügen, auf den Anschluss der Amentia an schwere erschöpfende
Schädigungen, auf die Erhaltung der Aufmerksamkeit bei tiefer
Störung des Verständnisses und der Orientirung, auf die Ver-
wirrtheit und Unbesinnlichkeit ohne eigentliche Schwäche des
Urtheils und des Gedächtnisses für die fernere Vergangenheit hin-
zuweisen.
Die Abgrenzung der Paralyse von den verschiedenartigen Zu-
ständen der Dementia praecox haben wir bereits bei der Darstellung
jener Krankheit besprochen. Massgebend ist überall ausser körper-
lichen Zeichen und klinischer Entwicklung der Krankheit die Ge-
dächtnissstörung der Paralytiker, die tiefere Trübung der Besonnen-
heit, das Fehlen oder doch die weit geringere Ausbildung der
eigenthümlichen katatonischen Erscheinungen. Dem paralytischen
Schwachsinn fehlen die Schrullen und Manieren sowie die perio-
dischen Erregungen, dem Stupor der zähe, unbeeinflussbare Nega-
tivismus, wenn auch Kahrungsverweigerung, Stummheit, Reactions-
losigkeit längere Zeit hindurch bestehen kann. In der Erregung
beobachten wir wol einzelne triebartige Bewegungsstereotypeu, aber
nicht die ganz beziehungslosen Antworten, die Sprachverwirrtheit;
zudem sind die Kranken nicht besonnen und orientirt wie zumeist
die Katatoniker. Immerhin sind auch hier die Fälle keineswegs
selten, in denen die Unterscheidung zwischen Paralyse und Dementia
praecox erst nach längerer Beobachtungszeit mit einiger Sicherheit
möglich ist, besonders da auch manche körperliche Zeichen, so die
302 ^ !• Die Dementia paral^'tica.
Anfälle, die Steigerung der Reflexe, hier für die Beurtheilung nicht
immer verwerthbar sind.
In ganz vereinzelten Fällen können besonnene Paralytiker zu-
nächst das Bild einer beginnenden Paranoia darbieten. Soweit die
Klärung hier nicht durch den Nachweis körperlicher Zeichen gelingt,
wird eine gCAvisse Weichheit und Nachgiebigkeit, Unklarheit und
Veränderlichkeit derWahnbildungen, zeitweise hervortretendes Krank-
heitsgefühl, Wechsel zwischen auffallender Gereiztheit und Stumpf-
heit die Diagnose erleichtern.
Bei weitem am schwierigsten, aber glücklicher Weise praktisch
weniger wichtig ist die Abgrenzung der Paralyse von gewissen
Krankheiten, die ebenfalls ausgebreitete Zerstörungen der Hirnrinde
mit sich bringen. Zunächst käme etwa der Altersblödsinn in seinen
verschiedenen Formen in Betracht. Yüv ihn spricht hohes Alter,
sehr langsamer Verlauf der Erkrankung, Dürftigkeit der Wahnideen
sowie geringere Entwicklung der motorischen Störungen, die sich
auf einfache Lähmungen und Paresen zu beschränken pflegen,
lieber die Abgrenzung einiger weiteren, zum Theil erst neuerdings
von der Paralyse getrennten Krankheitsbilder, welche durch diffuse
Hirnrindenveränderungen erzeugt werden, haben wir im folgenden
Abschnitte näher zu handeln. Hie und da sieht man auch einmal
eine Hirngeschwulst unter dem Bilde der dementen Paralyse ver-
laufen, indem der gesteigerte Hirndruck eine ähnliche allgemeine
Abschwächung der psychischen Leistungen erzeugt wie die paraly-
tische Vergiftung. Meist wird hier der Nachweis der Stauungspapille
Klarheit bringen, auch wenn wegen des Sitzes der Herderkrankung
keine örtlichen Ausfallserscheinungen vorhanden waren. Zerstreute
Herderkrankungen sind von der dementen Paralyse nur unter Be-
rücksichtigung des Lebensalters, durch den geringeren Grad der
geistigen Schwäche, das Fehlen der eigentlich kennzeichnenden
paralytischen Störungen und den meist viel langsameren Verlauf
des Leidens zu unterscheiden. Syphilitische Hirnerkrankungen, wenn
sie nicht herdartig sind oder durch den Erfolg der antiluetischen
Behandlung erkannt werden, lassen sich nicht mit Sicherheit von der
Paralyse abgrenzen. Das ist verständlich, weil eben die Lues an-
scheinend nur durch Erzeugung ausgebreiteter Gefässerkrankungen
und dadurch bedingte Ernährungsstörungen ausgeprägtere psychische
Krankheitsbilder hervorruft.
Behandlung. 308
Bei der Behandlung der Paralyse hat man in erster Linie
häufig genug die Ursache der Kiankheit dadurch zu beseitigen ge-
sucht, dass man mit kräftigen antisyphilitischen Massnahmen gegen
die Kranken vorging. Die Erfahrung lehrt indessen regelmässig,
dass hier noch weniger, als bei der Tabes, durcii Quecksilber oder
Jodkaliura Heilerfolge erzielt werden. Nachlässe der Krankheit
kommen allerdings ebenso wie bei jeder anderen Behandlungsart,
namentlich unter dem Einflüsse der Anstaltsruhe, nicht selten vor.
Auf der anderen Seite habe ich in einer ganzen Reihe von Fällen,
in denen Syphilis sicher voraufgegangen und zum Theil noch in
frischen Anzeichen vorhanden war, im unmittelbaren Anschlüsse an
eine Schmiercur raschen Verfall der Kräfte und plötzliches Auftreten
schwerer Aufregungszustände beobachtet. Ich kann daher in Ueber-
einstiramung mit der Mehrzahl der Irrenärzte einstweilen nur rathen,
sich im allgemeinen höchstens mit der Darreichung von Jodkalium
oder zunächst überhaupt mit symptomatischer Behandlung der
Paralyse zu begnügen.
Das wichtigste Erforderniss einer solchen ist in der ersten Zeit
vor allem Ruhe, Entfernung des Erkrankten aus den gewohnten
Verhältnissen und Beschäftigungen sowie eine sorgfältige Regelung
der gesammten Lebensweise. Aufgeregte Kranke und solche mit
Selbstraordneigung gehören unbedingt in eine Anstalt, um sie und
ihre Umgebung vor den Folgen ihrer Handlungen zu schützen; ruhige
und lenkbare Kranke in besseren Vermögens Verhältnissen können,
soweit eine sachverständige Behandlung und Ueberwachung mög-
lich ist, auch in privater Pflege erhalten werden. Zu vermeiden
sind jedoch besuchte Badeorte mit ihren vielfachen Zerstreuungen
und Aufregungen, anstrengende Reisen, alle schwächenden Mass-
regeln, angreifende Hunger-, Kaltwasser-, ßadecuren u. s. f. Eine
sehr gewöhnliche Erfahrung ist rasche Verschlechterung des AU-
geraeinzustandes und plötzlicher Ausbruch tobsüchtiger Erregung
in Folge von Kaltwassermisshandlung. Ausser der Ruhe ist Sorge
für kräftige Ernährung, Regelung der Verdauung, Bewegung in
frischer Luft, Vermeidung von geistigen Getränken, von Tabak,
Kaffee, Thee von Wichtigkeit; auch eine ganz milde, gut über-
wachte hydropathische Behandlung (Abreibungen, laue Bäder, Ein-
wicklungeu ; keine Doucbe, keine Ueber- und Untergüsse !) kann gute
Dienste leisten.
304 "^^I- I^ie Dementia paraljtica.
Bei den Aufregungszuständen der Paralytiker hilft sehr
häufig schon die Versetzung in eine ruhige Umgebung, die Bettruhe,
ein verlängertes Bad sowie die Ablenkung durch freundliches und
geschicktes, der Stimmung des Kranken angepasstes Entgegen-
kommen. Ist die Erregung sehr heftig, so gelingt es nur durch
grosse Geduld, allmählich die Kranken an die hier sehr empfehlens-
Tverthen Dauerbäder zu gewöhnen, zunächst vielleicht nach vorauf-
gehender Betäubung durch Sulfonal oder Hyoscin, später ohne Arznei-
mittel. Unter Umständen wird man, da die Kranken vielfach auch
keine genügende Nahrung zu sich nehmen, ein bis zwei Mal täglich
zur Sondenfütterung schreiten, bei der man versuchen kann, durch
Zusatz von 50 — 60 gr Alkohol oder von 1 gr Sulfonal längere
Huhe zu erzielen. Die grössten Schwierigkeiten für die Behandlung
bieten die ängstlichen Aufregungen der Paralytiker. Hier erweisen
sich die Bäder meist als undurchführbar, und auch die Arzneimittel
pflegen nicht viel Erfolg zu haben. Man wird sich daher unter
Umständen auf beständige üeberwachung, Schutz der Kranken vor
Verletzungen, sorgfältige Behandlung der entstehenden Hautabschür-
fungen u. s. w. beschränken müssen. Gelegentlich habe ich bei
starker, sinnloser Erregung den Versuch gemacht, durch planmässig
zweimal täglich wiederholte subcutane Infusionen Besserung zu er-
zielen; wir Messen jeweils etwa 750 gr Kochsalzlösung einf Hessen.
Die Behandlung wurde in einem Falle ohne üble Zufälle zwei Wochen
lang fortgesetzt. Es trat bei dem Kranken, der einem raschen Ver-
falle entgegen zu gehen schien, eine entschiedene, andauernde
Besserung ein, so dass weitere Versuche mit dem genannten Ver-
faiiren in verzweifelten Fällen gerechtfertigt sein dürften.
Die meiste Pflege erfordern die Paralytiker im letzten, bett-
lägerigen Stadium und besonders in den Anfällen. Schon vorher
ist es vielfach nothwendig, sorgfältig auf die Reinhaltung der Kranken
zu achten und die Nahrungsaufnahme zu überwachen, wegen des
mangelhaften Kauens nur gut zerkleinerte, leicht verdauliche Speisen
einzuführen und das gierige Schlingen durch vorsichtiges Eingeben
zu verhindern, da sonst leicht tödtliche Erstickungsanfälle vorkommen.
Im Anfalle und bei sehr erschöpften, blödsinnigen Kranken ist vor
allem der Entstehung von Decubitus vorzubeugen. Dieser Auf-
gabe dienen peinlichste Reinlichkeit, häufige Waschungen der ge-
fährdeten Theile mit kaltem Wasser oder einer Spirituosen Sublimat-
Behandlung. 305
lösung, sorgfältige Beseitigung aller Falten, Brodkrumen u. dergl.
aus dem Bette, die Anwendung von Wasser- oder Luftkissen oder
die Lagerung auf feine Holzwolle oder Moos, welche rasch jede
Verunreinigung aufsaugen, aber von den blödsinnigen Kranken leider
vielfach verzehrt werden. Endlich aber ist ein regelmässiger, durch
Wärterhände bewirkter Wechsel der Lage nothwendig, so dass der
Kranke (in schweren Fällen alle V2 Stunde Tag und Nacht) von
einer Seite auf die andere, auf den Rücken, den Bauch u. s. f.
herumgedreht wird. Diese von Gudden eingeführte Massregel,
welche bis zu einem gewissen Grade auch der Entstehung von
„hypostatischen" Pneumonien entgegenarbeitet, ermöglicht es, den
sonst für unvermeidlich gehaltenen Druckbrand von den Paralytikern
(10% derselben sollen nach Mendel's Angaben daran zu Grunde
gehen) fast ganz fernzuhalten und jedenfalls gefahrdrohende Formen
desselben vollständig zu verhüten. Weit schwieriger ist es, den
einmal entstandenen Druckbrand wdeder zur Heilung zu bringen,
zumal der Kranke durch seine Unruhe und Abreissen des Ver-
bandes dieselbe oft sehr erschwert. Eine regelrechte chirurgische
Behandlung hat mich bei rechtzeitigem Einschreiten dennoch stets
zum Ziele geführt, wo eine Nachlässigkeit des Wartpersonals die
Vorbeugung verabsäumt und (in wenigen Stunden!) das Uebel herbei-
geführt hatte.
Als ein ausserordentlich zweckmässiges Hülfsmittel sowol für
die Verhütung des drohenden Druckbrandes bei sehr unreinlichen
und schwer beweglichen Kranken wie zur Heilung selbst der aus-
gebreitetsten Formen kann ich das Dauerbad empfehlen, nach Um-
ständen unter Lagerung des Kranken auf ein durchgespanntes Tuch
oder auf ein Wattepolster. Selbst die Anwendung bestimmter Arznei-
stoffe auf die Wundflächen lässt sich mit Hülfe deckender Pflaster
im Bade ohne Schwierigkeit durchführen. Die Kranken pflegen
sich sehr leicht an das Verfahren zu gewöhnen, welches ich in
einzelnen Fällen mit bestem Erfolge Tag und Nacht hindurch forl-
gesetzt habe.
Für die Behandlung des paralytischen Anfalles empfiehlt Komm 1er
Einpackung des Kopfes in Eis, bei starken Krämpfen Klystiere von
Amylenhydrat (6 gr) oder Chloralhydrat; ersteres Mittel wurde auch
in 5 — 10<^/oiger Lösung subcutan gegeben. Ist rasche Wirkung
nothwendig, so soll zur Chloroformbetäubung bis zum Nachlasse der
Kraepelin, Psychiatrie. G. Anfl. II. Band. 20
306 VI. Die Dementia paralytioa.
motorischen Reizerscheinungen geschritten werden. Bei eintretender
Herzschwäche passen anregende Mittel, Coffein, Kampher, Alkohol in
kleinen Gaben, endlich Kochsalzinfusionen.
Die Entleerung des Mastdarms und der Blase bedarf im para-
lytischen Anfalle gewöhnlich nur anfangs einer Nachhülfe durch
Eingiessung, Auspressen der Blase oder Einführung des (sorgfältigst
gereinigten und desinficirten !) Katheters; später vollzieht sie sich
regelmässig von selbst, wenn man nicht durch zu langes Warten
UeberfüUung und dadurch Lähmung beider Organe hat entstehen
lassen, die dann zu dauernder Kunsthülfe zwingt. Leider wird die
Behandlung der sehr leicht eintretenden Blasenlähmung öfters
durch alte Stricturen erschwert. Zweckmässig ist es, an jede künst-
liche Entleerung der Blase regelmässig eine Ausspülung (Bor-
säure) anzuschliessen, der man bei Schlaffheit des Detrusor kühle
Temperatur gebe. Auch ausserhalb des Anfalles sind übrigens
Urin- und Kothentleerung dauernd zu beachten, wenn nicht an-
haltendes Urinträufeln und Schlussunfähigkeit des Mastdarms ent-
stehen soll. Ich habe bei einem Paralytiker, der bereits 2 Jahre
lang katheterisirt worden war, nach 2 mal täglich wiederholten
Blasenausspülungen (Tanninlösung) in Zeit von 4 Wochen die selb-
ständige Entleerung sich wiederherstellen und dann auch in einem
13 Tage dauernden paralytischen Anfalle nicht versagen sehen. Bei
demselben Kranken entstand trotz andauernden tiefsten Komas und
fast völliger Pulslosigkeit unter der oben erwähnten Behandlung bis
zum Tode keine Spur von Druckbrand. Die Ernährung hat im
Anfalle stets durch die Sonde zu geschehen (nur bei mehrtägigen
Anfällen nöthig); blosses Eingiessen in den Mund ist im höchsten
Grade gefährlich. Sorgt man dann noch für häufige Reinigung und
Desinfection des Mundes durch Auswischen mit einem feuchten
Läppchen (Kali chloricum) und für Feuchterhaltung der Hornhaut
durch regelmässiges (alle 1/2 Stunde) Bewegen der meist halbgeöffneten
Augenlider (Vermeidung von Ulcerationen), so kann es gelingen, die
Kranken noch nach 8 — 14 Tagen aus dem paralytischen Anfalle sich
erholen zu sehen.
Vn. Das Irresein bei Hirnerkrankuiigeii.
In ähnlicher Weise wie bei der Paralyse sehen wir auch bei
dem an sonstige Hirnerkrankungen sich anschliessenden Schwachsinn
Seelenstörungen mit nervösen Eeizungs- oder Ausfalls-
erscheinungen sich verbinden. Die besondere Gestaltung der
klinischen Krankheitsbilder ist dabei wesentlich durch die Aus-
dehnung, den Sitz und die Art des Hirnleidens bedingt. Wir
werden unter diesem Gesichtspunkte vor allem ausgebreitete
und örtlich begrenzte Erkrankungen auseinander zu halten
haben.
"Wie es scheint, lassen sich gerade unter den Hirnerkrankungen,
welche sich über einen grösseren Rindenbezirk erstrecken, noch eine
Anzahl verschiedener Krankheitsvorgänge von einander unterscheiden,
die wir jetzt mit anter dem Sammelnamen des „fortschreitenden
Blödsinns mit Lähmung'*, der Dementia paralytica, zusammenwerfen.
Ein Anfang in dieser Richtung ist bereits gemacht mit der besonders
von Fürstner*) und seinen Schülern näher studirten „Gliose der
Hirnrinde", vorwiegend tumorartigen, multiplen Ghawucherungen
in den oberflächlichen Rindenschichten mit Höhlenbildung und
Schwund der nervösen Bestandtheile. Die Krankheit entwickelt sich
überaus chronisch bei Menschen, welche schon von Jugend auf
einzelne, als erste Anfänge des Leidens zu deutende Störungen
(Krämpfe, Imbecillität, Reizbarkeit) dargeboten haben; später stellt
sich dann eine fortschreitende Verblödung ein, mit Gedächtniss-
schwäche, Sprachstörung, Opticusatrophie und häufig auch tabischen
Erscheinungen.
*) Fürstner und Stühlinger, Archiv f. Psychiatrie, XVII, 1.
20^
308 ^'^11- Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
In einer gewissen Verwandtschaft zu dieser Form steht vielleicht
auch jener Krankheitsvorgang, den man als diffuse Hirnsklerose
bezeichnet, eine ausgedehnte Vermehrung des Stützgewebes in
einer oder in beiden Hemisphären, die ebenfalls mit allmählich fort-
schreitendem Schwachsinn und mannigfachen centralen Ausfalls-
und Reizungserscheinungen einhergeht, Hemiplegien, Krampfanfällen,
Steigerung der Patellarreflexe und Spasmen in den Beinen. Ferner
hat Homen*) ein eigenthtimliches, bei mehreren Geschwistern be-
obachtetes Krankheitsbild als vermuthliche Erscheinungsform der
Lues hereditaria tarda beschrieben, welches klinisch der dementen
Form der Paralyse ähnelt. Das Leiden begann in jugendlicherem
Lebensalter mit Schwindel, Kopfschmerzen, Unsicherheit des Ganges
und fortschreitender Abnahme des Gedächtnisses und des Ver-
standes. Dazu gesellten sich später Verlangsamung und Er-
schwerung des Sprechens, Spasmen, Contracturen, Incontinenz,
Schluckstörungen, leichter Tremor und bisweilen auch Krämpfe,
während die geistige Schwäche bis zu den höchsten Graden fort-
schritt. Der Tod erfolgte nach einer Reihe von Jahren. Die ana-
tomische Untersuchung ergab vor allem sehr avisgedehnte end-
arteriitische Erkrankungen, ferner Faseratrophie, namentlich im
Stirnhirn, sowie leichte Veränderungen an den Pyramidenzellen und
geringe Neurogliaw ucherung.
Endlich ist in neuester Zeit der Versuch gemacht worden, noch
einige Krankheitsbilder von der Paralyse abzugrenzen, als deren
Grundlage umschriebene oder ausgebreitete Erkrankungen der Hirn-
gefässe betrachtet werden. In erster Linie ist die arterioskle-
rotische Hirnentartung zu nennen, wie sie von Binswanger*"^')
und Alzheimer***) bezeichnet worden ist. Es handelt sich dabei
um ausgebreitete, aber doch in einzelnen Herden auftretende
arteriosklerotische Veränderungen an den Hirngef ässen , denen
übrigens ähnhche Erkrankungen in anderen Organen, namentlich in
der Mere, auch im Herzmuskel, zu entsprechen pflegen. Die Ge-
fässe sind theils atrophisch, theils verdickt, die Gefässlumina stark
erweitert; vielfach sieht man Aneurysmenbildungen und die Spuren
*) Archiv f. Psycliiatrie, XXIV, 1.
**) Berliner klinische Wochenschrift 1894, 49.
***) Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. LI, 809; ebenda LIII, 863.
Diffuse Erkrankungen. 309
capillärer Blutungen. Diese letzteren habe auch ich in ausgedehn-
testem Maasse neben ungemein starken Gefässveränderungen bei
einem Kranken gesehen, der im Leben ganz das Bild der dementen
Paralyse darbot. Die Neuroglia ist gewuchert, ganz besonders in
Herden um die erkrankten Gefässe herum; endlich finden sich
Entartuugsvorgänge an Nervenzellen und Fasern. Klinisch soll die
Krankheit dui'ch die langsame Entwicklung mit Kopfschmerzen,
Schwindel, Reizbarkeit und "Verlust des Gedächtnisses, durch viel-
fache Nachlässe der Erscheinungen, das Auftreten stumpfer Be-
nommenheit neben vorübergehenden guten Yerstandesleistungen, ge-
ordnetes Benehmen bei bereits vorgeschrittenem Blödsinn gekenn-
zeichnet sein, doch erscheint die Abgrenzung des psychischen
Krankheitsbildes nach den bisher vorliegenden. Schilderungen noch
wenig zuverlässig. In körperlicher Beziehung wird auf die wesent-
lich paretische Sprachstörung, die aphasischen Erscheinungen und
die Häufigkeit umschriebener, dauernder Lähmungen hingewiesen.
Das Leiden entwickelt sich zu Ende der 40 er oder zu Beginn der
.50er Jahre und ist daher in nähere Beziehung zu den senilen Ent-
artungsvorgängen gebracht worden. Die Syphilis soll keine ursäch-
liche Rolle spielen. Alzheimer hat als perivasculäre Gliose auch
Fälle beschrieben, in denen alle Yeränderungen nur in einzelnen,
sich an die Gefässe anschliessenden Herden auftraten. Klinisch ent-
stand dadurch das Bild einer umschriebenen Hirnerkrankung.
Ein zweites Krankheitsbild hat Bins wanger mit dem Namen
der Encephalitis subcorticalis chronica progressiva be-
zeichnet. Auch diese Krankheit beginnt am häufigsten an der
Schwelle des Greisenalters und selbst noch später. Ihr sollen aus-
geprägte Atrophien des Marklagers mit sehr starker Erweiterung
der Hirnhöhlen zu Grunde liegen, besonders in den hinteren Theilen
des Gehirns. Zugleich findet sich ausgebreitete Atheromatose der
Gefässe. Im Krankheitsbilde, welches im allgemeinen wieder eine
allmählich fortschreitende Verblödung darstellt, sollen dauernde
Herderscheinungen (Lähmungen, die verschiedenen Formen der
Aphasie) stark in den Vordergrund treten; der Verlauf ist ein sehr
langsamer.
Bei der multiplen Sklerose gestaltet sich die Stärke und
Ausdehnung der psychischen Erscheinungen je nach der Oertlichkeit
und Grösse der einzelnen Herde sehr verschieden. Wo überhaupt
310 VII. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
das Grehirn in beträchtlicherem Maasse betheiligt ist, sehen wir in
der Regel einen einfachen, fortschreitenden Schwachsinn, Abnahme
des Verstandes und des Gedächtnisses ohne Yerwirrtheit oder Auf-
regung sowie allmählich zunehmende Stumpfheit und Willenlosigkeit
sich entwickeln. Unter Umständen können derartige Kranke grosse
Aehnlichkeit mit dementen Paralytikern darbieten; die Beachtung
der mehr auf einzelne Herde hinweisenden nervösen Störungen,
gelegentlich auch der scandirenden Sprache, des Intentionszitterns,
Nystagmus, sowie der Mangel jener eigenartigen, tieferen Bewusst-
seinstrübung, welche den Paralytiker auszeichnet, ermöglichen jedoch
fast immer die Unterscheidung.
Die multiple Sklerose bildet gewissermassen den Uebergang
von den diffusen zu den strenger umgrenzten Erkrankungen des
Gehirns. Im Bereiche dieser letzteren haben wir hauptsächlich zwei
grössere Gruppen von Veränderungen auseinander zu halten, die
Geschwülste auf der einen, die Blutungen, Erweichungen,
Embolien, Thrombosen auf der anderen Seite. Bei grösseren Ge-
schwülsten pflegen die psychischen Störungen meist wesentlich durch
die Steigerung des Druckes im Schädel, weniger durch ihren Sitz
bedingt zu werden. So kommt es^, dass dort, wo die Geschwülste
sehr langsam wachsen, oder wo sie mehr zerstören, als verdrängen,
die psychischen Erscheinungen lange Zeit hindurch gering sein
können. Einer meiner Kranken, dem eine über faustgrosse, im An-
schlüsse an ein Trauma aufgetretene tuberculöse Geschwulst den
grössten Theil des rechten Stirnhirns mit der Rinde vernichtet hatte,
bot bis wenige Tage vor seinem Tode keinerlei Störung der Be-
sonnenheit und des Verstandes dar, nur eine massige, von dem
Kranken selbst bemerkte Gedächtnissschwäche. Bei denjenigen
Geschwülsten dagegen, welche den Druck in der Schädelhöhle
erheblich steigern, stellt sich zunächst eine gewisse Benommenheit
und Unbesinnlichkeit ein. Die Aufmerksamkeit der Kranken wird
nur durch kräftigere Reize und auch dann nur für kurze Zeit
erregt; sie liegen theilnahmlos oder sich unter unerträglichen Kopf-
schmerzen herumwälzend da, ohne sich um ihre Umgebung zu
kümmern. Bisweilen tritt Katalepsie auf. Nach und nach werden
die Kranken immer stumpfer und schlafsüchtiger, obgleich vielleicht
noch gar keine ausgeprägteren Herderscheinungen hervortreten.
Nicht selten beobachtet man bis in die letzte Zeit der Schlafsucht
Herderkrankungen, 311
hinein einzelne Täuschungen auf Sinnesgebieten, die für gesunde
Reize völlig unerregbar geworden sind, namentlich, wie es scheint,
bei Kleinliirngesch Wülsten. In einem solchen, von mir beobachteten
Falle glaubte der blinde Kranke (Trinker) lange Reisen zu macheu,
sah bunte Gegenden und kleine Schnapsgläser vor sich, nach denen
er griff; ein anderer derartiger Kranker, der kein Trinker war, sah
trotz völliger Atrophie der Sehnerven ebenfalls monatelang wechselnde
„Bilder'' und hörte bei allmählich fortschreitender und schliesslich
vollständiger Taubheit sehr häufig seinen Namen und allerlei Schimpf-
worte rufen. Stärkere Aufregungszustände sind bei Hirngeschwülsten
selten.
Hiruabscesse können lange Zeit ohne jegliche psychische
Störungen verlaufen, namentlich, wenn sie sich sehr langsam ent-
wickeln. Ich sah einen Schreiber, der bis zum. Eintritte in die
Abtheilung seinen Dienst gethan hatte, dann aber unter den Er-
scheinungen leichter Benommenheit und mit Krampfanfällen er-
krankte, die auf das täuschendste hysterischen ghchen. Als er
3 AYochen später in einem solchen Anfalle starb, fand sich ein apfel-
grosser Abscess im linken Hinterhauptslappeu. Bei frischen trauma-
tischen Abscessen pflegt die Benommenheit im Vordergrunde des
Krankheitsbildes zu stehen. Die Kranken verstehen ihre Umgebung
und die an sie gerichteten Anreden nicht, geben ganz verkehrte
Antworten, sind theilnahmlos, unruhig, widerstrebend, deliriren bis-
weilen in traumhaft zusammenhangsloser Weise. Dazu können sich
dann noch Katalepsie, aphasische Störungen, Rindenepilepsie, Puls-
verlangsamung, Cheyne -Stockes'sches Athmen und andere Reiz-
erscheinungen gesellen.
Ein wesentlich anderes Bild pflegen die psychischen Störungen
bei Blutungen und Embolien darzubieten. In unmittelbarem
Anschlüsse an den Schlaganfall sind die Kranken meist benommen,
desorientirt, verwirrt, verkennen ihre Umgebung, begehen allerlei
verkehrte Handlungen. Bisweilen treten vorübergehend lebhafte
Erregungszustände mit lautem Schreien, Fortdrängen, Widerstreben
auf. Späterhin jedoch pflegen die Kranken, wenn nicht schon um-
fangreichere endarteriitische Veränderungen vorliegen, vollständig
klar und über ihre Umgebung orientirt zu sein. Am meisten in
die Augen fällt gewöhnlich neben den nervösen Störungen eine
mehr oder weniger erhebliche Gedächtnissschwäche. Die Kranken
312 ^'^II- Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
irren sich leicht, ohne es zu bemerken, hinsichtlich wichtiger Daten
und Ereignisse aus ihrem Vorleben; besonders die zeitliche Ord-
nung ist sehr unsicher. Das Rechnen geht schlecht, selbst wenn
früher grosse Fertigkeit darin bestand. Auch die Erinnerung an
die jüngste Vergangenheit haftet nicht zuverlässig. Dazu kommt,
dass dem Kranken leicht einzelne Klassen von Vorstellungen, Eigen-
namen und Zahlen, verloren gehen, Störungen, die bereits als
erste Andeutungen der amnestischen Aphasie zu betrachten sind.
Die Beurtheilung der Verstandesthätigkeit wird gerade durch das
Hineinspielen aphasischer und paraphasischer Störungen vielfach
sehr erschwert; die Kranken erscheinen dadurch bei flüchtiger Unter-
suchung oft weit blödsinniger, als sie wirklich sind. So stellte sich
bei einem jugendlichen Herzkranken meiner Beobachtung, der zu-
nächst eine wahrscheinlich embolische, linksseitige Hemiplegie mit
Hemianaesthesie, Hemianakusie, Abducens- und Trigeminus-Lähmung,
Gesichtsfeldeinschränkung, kurz darauf aber eine mit Krämpfen auf-
tretende rechtsseitige Hemiparese erlitt, ein eigenthümlicher Agram-
matismus ein, der ihn vollständig kindisch erscheinen liess, da er
ohne jede Construction nur in Infinitivsätzen nach Art der Kinder
sprach. Als sich diese Störung nebst sämmtlichen übrigen Krankheits-
zeichen allmählich verlor und er mit einer gewissen Anstrengung
auch die immer noch vorhandene Neigung zum Reden in Infinitiven
überwinden konnte, stellte sich heraus, dass der Verstand vollkommen
erhalten war und sogar nicht unbeträchtlich über das Mittelraaass
hinausging. Die gleiche Störung, das kindliche Reden in Infinitiv-
sätzen, beobachtete ich vorübergehend bei einer 62 jährigen Frau mit
Mammakarcinom und alter Lues nach einem SchlaganfaU mit Aphasie
und starker verwirrter Aufregung.
Wo es sich um ausgedehntere Zerstörungen in der Hirnrinde
handelt, pflegt eine gewisse Schwächung der gesammten Verstandes-
thätigkeit nicht auszubleiben. Namentlich langes Fortbestehen apha-
sischer Störungen scheint regelmässig eine empfindliche Einbussc der
geistigen Leistungsfähigkeit und des Vorstellungsschatzes nach sich
zu ziehen. Die Kranken zeigen eine Erschwerung und Verlang-
samung ihres Denkens, ermüden ungemein leicht, vermögen keinem
schwierigeren Gedankengange mehr zu folgen, verlieren in ihren
Erzählungen alle Augenblicke den Faden, werden leichtgläubig und
urtheilslos. Oft haben sie ein deutliches Gefühl für die Veränderung,
Herderkrankungen. 313
die sich mit ihnen vollzogen hat, jammern über ihre Unfähigkeit.
„Ich bin so dumm'', klagte mir eine solche Kranke. In einzelnen
Fällen treten dürftige Verfolgungsideen auf; eine Kranke meinte, ihr
Mann treibe Unzucht mit ihrer Tochter; sie werde verzaubert, spüre
es an ihrem Körper. Die Stimmung ist bald mehr weinerlich,
verdriesslich , querulirend , bald sorglos heiter und unbekümmert,
immer aber leicht erregbar und zu Schwankungen geneigt. Bisweilen
kommt es zeitweise zu lebhafteren Aufregungszuständen mit Ideen-
flucht, grosser Geschwätzigkeit und Grössenvorstellungen, namentlich
im Anschlüsse an epileptische Anfälle, wie sie bei alten Apoplektikern
nicht selten auftreten. Sehr auffallend ist oft die sittliche Stumpfheit,
die Gleichgültigkeit gegenüber den Angehörigen, gegenüber den früher
sorgfältig gepflegten Lebensinteressen, die ausgeprägte Selbstsucht
und die Unempfindlichkeit gegenüber den Geboten der Sitte und des
Anstandes. Der Kranke ist lenksam^ leicht bestimmbar, fängt häufig
an, zu bummein, zu trinken, zu vergeuden. Ein derartiger Kranker
aus guter Familie, der vor 13 Jahren eine rechtsseitige Lähmung in
Folge von Lues erlitten hatte, gerieth dadurch mit dem Strafgesetze
in Berührung, dass er bei jeder Gelegenheit ohne klaren Beweggrund
Strümpfe stahl.
Auch noch in anderer Richtung können die psychischen Störungen
nach Hirnblutungen eine bedeutende forensische Wichtigkeit ge-
winnen. Die Verstandesschwäche und ürtheilslosigkeit der Apo-
plektiker, ihre Reizbarkeit auf der einen, ihre leichte Bestimmbarkeit
auf der andern Seite stellen den Arzt bei den bisweilen vorkommen-
den Eheschliessungen, bei Kaufverträgen und Testamentsstreitigkeiten
vor die Frage nach dem Vorhandensein der Dispositionsfähigkeit.
Einer meiner Kranken, der sich durch seine besondere Tüchtigkeit
ein riesiges Vermögen erworben hatte, begann nach einem Schlag-
anfalle auf luetischer Grundlage, zu trinken, fremde Personen in ver-
schwenderischer Weise zu bewirthen, überall auf das handgreiflichste
zu prahlen und durch unsinnige geschäftliche Massnahmen alles zu
verschleudern, so dass er, trotz seines heftigsten Widerstandes,
entmündigt werden musste. Sein Zustand dauerte noch fast
20 Jahre in wesentlich gleicher Weise fort. Hier können be-
deutende Schwierigkeiten für die Beurtheilung entstehen, da die
Schwäche auf den verschiedenen Gebieten des psychischen Lebens
von den allerleichtesten, noch in die Gesundheitsbreite fallenden
314 VII. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
Schädigungen alle Grade bis zum tiefsten Blödsinn erreichen
kann.
Eine besondere, recht wichtige hierher gehörige Gruppe stellen
endlich die durch schwere Kopfverletzungen erzeugten Geistes-
störungen dar. Auch dann, wenn wir dabei nicht mit umschriebenen
Erkrankungen der Hirnrinde (Blutungen, Knocheneindrücke, Ein-
dringen von abgesprengten Splittern) zu rechnen haben, scheinen
heftige Erschütterungen des Kopfes dauernde und tiefgreifende Ver-
änderungen in den Rindenzellen hervorrufen zu können, über deren
Wesen wir allerdings einstweilen noch im Unklaren sind. Die
nächste Folge einer schweren Hirnerschütterung pflegt eine mehr
oder weniger lange anhaltende Bewusstlosigkeit zu sein, an die sich
bisweilen wochenlange Verwirrtheit anschliessen kann. Die Kranken
sind schwerfällig in ihrem Denken, vermögen sich zeitlich und ört-
lich nicht zu Orientiren, verstehen ihre Lage nicht und haben ge-
wöhnlich gar keine oder nur sehr unklare Erinnerung an den Un-
fall, erzählen ihn auch wol zu verschiedenen Zeiten ganz verschieden.
Sie fassen schlecht auf, verlieren leicht den Zusammenhang, können
sich nicht recht besinnen, fabuliren. Sie sind reizbar, eigensinnig,
unruhig, öfters weinerlich, sprechen viel, haben kein klares Ver-
ständniss für ihre Krankheit, fühlen sich ganz gesund und begreifen
nicht, was man von ihnen will. Bei einem meiner Kranken ent-
wickelte sich wenige Tage nach einem gewaltigen Schlage mit dem
Stuhlbein auf den Schädel eine Monate lang andauernde Benommen-
heit, in welcher der Kranke nach seiner Angabe „Papier vor den
Gedanken hatte". Er wurde in diesem Zustande, aus dem er ziem-
lich plötzlich mit sehr unklarer Erinnerung erwachte, vom Arzte für
blödsinnig gehalten.
In anderen Fällen verlieren sich die unmittelbaren Folgen der
Verletzung sehr rasch; nicht einmal eine eigentliche Bewusstlosigkeit
braucht zu Stande zu kommen. Früher oder später aber stellt sich
eine ausgeprägte Veränderung des psychischen Gesammtzustandes
heraus. Der Kranke ermüdet leicht, wird vergesslich, zerstreut, klagt
über Schwindel, Benommenheit, Ohrensausen, Kopfdruck. Er wird
reizbar, heftig, zeitweise ängstlich, verstimmt, zeigt meist ein starkes
Krankheitsgefühl. Dazu gesellen sich sehr häufig einzelne epilep-
tische Anfälle, so wol Krämpfe wie Ohnmächten, seltener Dämmer-
zustände, wie ja Hirnerschütterungen auch das Bild der einfachen
Kopfverletzungen. 315
Epilepsie erzeugen können. In einem von mir beobachteten Falle
stellte sich der erste und einzige Krampfanfall 3 Wochen nach der
ohne Bewusstlosigkeit verlaufenen Verletzung ein, während die psy-
chische Veränderung erst nach 5 Jahren deutlicher hervortrat. Der-
artig lange Zwischenzeiten scheinen durchaus nicht ungewöhnlich zu
sein. Im weiteren Verlaufe pflegt sich der Zustand nur langsam
und in geringem Maasse zu ändern. Es kann jedoch unter Um-
ständen zur Entwicklung eines ausgeprägten Schwachsinns kommen.
„Der Verstand wächst nicht mit", sagte der Vater eines Jungen, der
vor einigen Jahren vom 4. Stockwerk heruntergestürzt war, eine
Basisfractur mit Sehnervenatrophie und Glykosurie davongetragen
hatte und nun bei voller Besonnenheit kindisch, reizbar und ver-
gesslich geworden war.
Fast immer finden sich nach schweren Hirnerschütterungen
einzelne nervöse Zeichen, die auf eine organische Hirnerkrankung
hindeuten. In der ersten Zeit beobachtete ich wechselnde Pupillen-
starre; ferner sind ungleiche Innervation der Gesichtshälften, Zittern
der Zunge, der Mundmuskulatur, Abweichen der Zunge, namentlich
aber starke Steigerung der Sehnenreflexe sehr häufig. Meist besteht
besondere Empfindlichkeit gegen Alkohol. In einzelnen Fällen ent-
wickelt sich nach Trauma geradezu das Krankheitsbild der Paralyse.
Ob es sich dabei bis\veilen um eine eigenartige Erkrankung oder
nur um die Auslösung des bereits vorbereiteten Leidens handelt,
lässt sich nicht sicher entscheiden.
Die verschiedenen Formen des Schwachsinns bei Hirnleiden sind
im Ganzen überaus häufige Erkrankungen, wenn sie auch dem Irren-
arzte nur selten, vielmehr zumeist dem inneren Mediciner oder dem
ISTervenarzte zu Gesicht kommen. Wir dürfen annehmen, dass jede
ausgedehntere Erkrankung der Hirnrinde bis zu einem gewissen
Grade psychische Störungen erzeugen muss, auch wenn wir sie heute
bei oberflächlicher Betrachtung nicht immer aufzudecken verstehen.
Die Abgrenzung von der Paralyse ergiebt sich im Leben theils
aus den ursächlichen Verhältnissen, theils aus der Art der klinischen
Entwicklung, theils endlich aus den besonderen Zeichen herdartig
umschriebener Hirnerkrankungen. Diffuse Erkrankungen der Hirn-
rinde lassen sich, wie es scheint, durch die Symptome allein nicht
mit Sicherheit von der Paralyse trennen. Mitunter können organische
Hirnerkrankungen hysterieähnliche Bilder erzeugen, und umgekehrt
316 ^n. Das Irresein bei Hirnerkrankungen.
vermag die Hysterie die Zeichen eines schweren Hirnleidens vorzu-
täuschen. Auf die einzelnen Unterscheidungsmerkmale in solchen
schwierigen Fällen können wir indessen hier nicht eingehen, da sie
wesentlich auf rein neurologischem Gebiete liegen.
Die Behandlung wird sich hier im allgemeinen auf die Be-
kämpfung der Krankheitserscheinungen zu beschränken haben. An
eine ursächliche Behandlung kann nur bei den syphilitischen Herd-
erkrankungen, bei umschriebenen Geschwülsten, Abscessen und bei den
Hirnverletzungen gedacht werden, namentlich bei Knocheneindrücken
und Absprengungen. In frischen Fällen ist hier der operative Ein-
griff oft von ausgezeichnetem Erfolge begleitet. Dagegen hat die
Erfahrung gelehrt, dass bei langsam sich entwickelnden Störungen
nach Trauma die Ergebnisse auch dann weit weniger günstige sind,
wenn Knocheneindrücke, Narbenschmerzen, halbseitige Krämpfe auf
einen bestimmten Sitz des Leidens hinweisen. Meist erreicht hier
die Trepanation mit Entfernung der erkrankten Theile nur eine
vorübergehende Besserung; nach einiger Zeit pflegt sich der frühere
Krankheitszustand wieder herauszubilden. Wir müssen daraus
schliesseu, dass es sich in solchen Fällen thatsächlich nicht um eine
eng abgegrenzte, sondern um eine ausgebreitete Veränderung in
der Hirnrinde handelt^ welche sich durch den örtlichen Eingriff
nicht mehr beseitigen lässt.
YIII. Las Irresein des Eückbildungsalters.
Als Irresein des Rückbildungsalters wollen wir alle diejenigen
Geistesstörungen zusammenfassen, die in ursächlichen Beziehungen
zu den allgemeinen Altersveränderungen stehen. Ohne Zweifel giebt
es eine Reihe von psychischen Erkrankungen, die in den verschie-
densten Lebensabschnitten auftreten können; ebenso unzweifelhaft
ist es jedoch, dass sich in der Zeit des körperlichen Niederganges
ganz bestimmte Formen des Irreseins einstellen, die in ihrer klini-
schen Gestaltung den Ursprung aus den Rückbildungsvorgängen
verrathen. In besonderem Maasse gilt das für das eigentliche Greisen-
alter; aber auch schon vorher, vom 5. Lebensjahrzehnte an, beginnen
sich die ersten Zeichen auch des geistigen Rückganges in dem Auf-
treten eigenartiger Formen des Irreseins bemerkbar zu machen. Eine
scharfe Grenze lässt sich natürlich zwischen diesen beiden Lebens-
abschnitten nicht ziehen. Immerhin tragen die Geistesstörungen der
Rückbildungsjahre im engeren Sinne trotz mancher gemeinsamer
Züge doch ein etwas anderes Gepräge, als diejenigen des eigent-
lichen Greisenalters. Ihre kennzeichnende Erkrankungsform ist in
erster Linie die Melancholie; daneben werden wir noch kurz den
eigenartigen praesenilen Beeinträchtigungswahn zu schildern
haben. Den letzten Abschnitt dagegen bilden die verschiedenartigen
Gestaltungen des Altersblödsinns.
A. Die Melancholie.*)
Mit dem Namen der Melancholie bezeichnen wir alle krank-
haften ängstlichen Verstimmungen der höheren Lebens-
*) V. Krafft-Ebing, Die Melancholie; Christian, etude sur la melancolie
1876; Voisin, de la melancolie. 1881; Roubinowitsch et Toulouse, la me-
lancoUe. 1897.
318 VIII. Das Irresein des Eückbildungsalters.
alter, welche nicht Yerlaufsabschnitte anderer Formen
des Irreseins darstellen. Ausser der gemüthlichen Störung ge-
hören zum Krankheitsbilde der Melancholie regelmässig noch "Wahn-
bildungen, namentlich Yersündigungswahn, aber auch Yerfolgungs-
ideen und hypochondrische Vorstellungen. Die Entwicklung der
Krankheit vollzieht sich allmählich, nachdem meist bereits Monate,
bisweilen selbst Jahre lang allerlei unbestimmtere Anzeichen vorauf-
gegangen sind, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Ver-
stopfung, Mattigkeit, Schwere in den Gliedern, Herzklopfen, Ohren-
sausen, Unschlüssigkeit, Arbeitsunlust. Die Kranken werden nieder-
geschlagen, verzagt, weinerlich, ängstlich; wüste Gedanken steigen ihnen
auf, Sorgen, Befürchtungen, Zweifel, Selbstquälereien. Sie fühlen
sich schwer krank, dumm im Kopf, sind zerstreut, vergesslich,
bringen nichts mehr fertig, legen die Hände in den Schooss, um ver-
zweifelt zu jammern und zu wehklagen. Freilich schieben sich
dazwischen einzelne freiere Tage oder Stunden ein, allein allmählich
stellt sich immer klarer heraus, dass die vielleicht zunächst als Folge
eines traurigen Ereignisses aufgefasste Verstimmung krankhafte Aus-
dehnung gewinnt.
Vor allem zeigt sich sehr bald die Entwicklung der dem melan-
cholischen Krankheitsbilde besonders eigenthümlichen Versündi-
gungsideen. Der Kranke beginnt in seiner Verstimmung sein
früheres Leben zu mustern. Mit erschreckender Deutlichkeit stellen
sich ihm dabei eine ganze Reihe von kleinen und grossen Ver-
fehlungen vor Augen, die ihm jetzt als schwärzeste Unthaten und
als der wahre Grund seiner trüben Gemüthsverfassung erscheinen.
Bisweilen klagen sich die Kranken nur in allgemeinen Ausdrücken
an. Sie seien schlecht, nichts mehr werth, Scheusale, mit Bosheit
angefüllt, haben Fehler begangen, etwas angestellt, dumme Streiche
gemacht, betrogen, Unkeuschheit getrieben, nicht gelebt, wie sich 's
gehört. Meist aber knüpfen sich die Selbstanklagen an bestimmte,
aber mehr oder weniger harmlose, oft sehr weit zurückliegende Er-
lebnisse an. So führte ein 59 Jahre alter Kranker an, er habe
als Junge „Aepfel und Nüss'" gestohlen, „einer Kuh an der Natur
herumgespielt". Das Gewissen regt sich; „freilich wär's besser ge-
wesen, wenn es sich schon früher geregt hätte", meinte er auf meinen
Einwand, dass er sich doch bis dahin über die vermeintlichen Sünden
keine Gedanken gemacht habe. Andere haben einmal einen Bettler
Melancholie. 319
unfreuiKllich abgewiesen, bei einer Erkrankung nicht rechtzeitig den
Arzt gerufen, den Tod eines Angehörigen durch mangelhafte Pflege
verschuldet, unrichtige Aussagen gemacht, Jemanden beim Kauf
übervortheilt, im Amte nicht ihre volle Kraft eingesetzt. Durch das
Miethen einer Wohnung, das Unternehmen eines Neubaues, einen
unbedachten Kauf, einen Selbstmordversuch haben sie ihre Familie
ins Elend gebracht; sie haben gelogen, ihre Krankheit übertrieben,
sich verstellt, den Arzt und die Angehörigen hintergangen, sich nicht
genug „zusammengenommen", hätten nicht in die Anstalt gehen
sollen, dann wäre alles ganz anders gekommen. In ganz vereinzelten
Fällen endlich liegen auch wirkliche ernstere Verschuldungen zu
Grunde, mit denen sich der Kranke in gesunden Tagen längst ab-
gefunden hatte, die aber nun von neuem drohend in seiner Erinne-
rung auftauchen. Häufig spielen die Selbstanklagen in das religiöse
Gebiet hinüber. Der Kranke kann nicht mehr so beten wie früher,
hat den Glauben, den Segen Gottes, die ewige Seligkeit verloren,
die Sünde wider den Heiligen Geist begangen, die Kirche nicht
fleissig besucht, das Göttliche verkauft, nicht genug Lichter geopfert,
ist vom Herrgott abgefallen, vom Teufel besessen; der Geist Gottes
hat ihn verlassen; der böse Feind hat ihn holen wollen. Ihm ist,
als dürfe er nicht in die Kirche hinein; er muss mit der Sünden-
schuld in die Ewigkeit gehen, arme Seelen erlösen.
Einen guten Einblick in den Seelenzustand solcher Kranken
gewährt der nachfolgende Ausschnitt aus dem Briefe einer Dame,
in welchem sich Yersündigungsideen mit unklarem Krankheits-
gefühl und der Hoffnung auf Genesung in sehr bezeichnender Weise
mischen.
„Ein krankhafter, teuflischer Zug trieb mich von Hause fort; ich war krank,
ebenso wie ich jetzt krank bin, geplagt von Gewissenspein. Die Meinigen mussten
glauben, dass ich krank sei, mussten mich hierher bringen, weil ich noch mehr
Krankheit heuchelte, als factisch da war, und nur ein in derartigen Betrügereien
erprobter Arzt das Falsche vom Wahren unterscheiden konnte." . . . „Mein Leben
war eine lange Kette von Lügen, indem ich mich besser stellte, als ich war, tiefere
Gefühle heuchelte, als ich sie hatte, wovon ich mich gerade in letzter Zeit immer
mehr überzeugte , dass ich lange nicht das leisten konnte . was man von mir
voraussetzte. Ich kam eben in emen solchen Zwiespalt, dass ich zur Verbrecherin
wurde, indem ich N. verliess." . . . „Wenn ich immer sagte, ich könne nicht mehr
lügen, so wollte ich damit sagen, dass ich nicht mehr im Stande sei, ein schein-
bar guter Mensch zu sein, während ich doch eigentlich durch und durch nichts
taugte." ... „0 fürchterliches Gericht, dass ich, ein erbärmliches Wesen, ein
320 VIII. Das Irresein des Eückbildungsalters.
Eätbsel, wie es vielleicht nur wenige giebt, so viel Schönes, Edles zerstören musste.
Mir graut davor; ich möchte mich einzeln zerstückeln lassen, wenn ich nur etwas
ungeschehen machen könnte." . . . „Jetzt, wo alles zu spät ist, kommt es mir vor,
als könnte es wieder sein, wenn Alle nur vergessen könnten, aber dies ist unmög-
lich, und das Fatum muss sich erfüllen."
Griesinger hat das Auftreten von Versündigimgsideen aus
dem Untergrunde der trüben Verstimmung als eine Art Erklärungs-
versuch angesehen, den der Kranke unternimmt, um sich über den
Ursprung des peinlich empfundenen Unbehagens Rechenschaft zu
geben, ähnlich etwa, wie der Gesunde nach einem schweren Schicksals-
schlage geneigt ist, über die Fehler und Unterlassungen nachzu-
grübeln, Avelche vielleicht das Unheil haben herbeiführen helfen.
Es ist wahrscheinlich, dass in der That ein tieferer Zusammenhang
zwischen Verstimmung und Versündigungswahn besteht, aber schwer-
lich ist derselbe durch Ueberlegungen vermittelt. Das lehren am
besten die häufigen Fälle, in denen die Kranken sich geradezu
gegen die in ihnen zahlreich auftauchenden Selbstvorwürfe mit allen
Kräften wehreu. Ich habe doch nichts Schlechtes gethan, nichts
gestohlen, das Vaterland nicht verrathen, hört man solche Kranke
jammern. Andere fürchten, dass man sie wegen des Todes eines
Angehörigen im Verdachte des Giftmordes haben könne („Ist denn
Gift gefunden ?''), sie vor Gericht stelle, weil sie über den Kaiser
geschimpft, ein Attentat geplant haben sollen.
Für den gemeinsamen Ursprung der Versündigungsideen und
der Verstimmung aus einer krankhaften Veränderung des Gesammt-
zustandes spricht ferner auch die häufige Beobachtung, dass die
Selbstanklagen sich fortlaufend an alle Handlungen und Erlebnisse
des Kranken anknüpfen. Er merkt, dass er immer neue Fehler
begeht, so dumm daherredet, Alle beleidigt. „Was ich mache, ist
verkehrt; ich muss immer alles wieder zurücknehmen, was ich
rede.'' Er macht zu viel Mühe, ist Schuld, dass die Andern so
jammern, fortgebracht werden. „Ich werd' wol der Thäter sein von
all Dem", meinte ein Kranker. Er hat alle Mitkranken herein-
gebracht, muss für Alle sorgen, ist für Alle verantwortlich, jammert,
dass er doch nicht im Stande sei, die Andern zu füttern, den Dienst
des Oberwärters zu versehen, für Alle zu zahlen. Alle müssen
hungern, wenn er isst.
In solchen Fällen gewinnen alle Vorgänge in der Umgebung
Melancholie. 321
sofort eine besondere Bedeutimg für das eigene Wohl und Wehe.
Der Kranke bezieht jede Aeusserung der Mitkranken auf sich; die-
selben sind unruhig um seinetwillen, beschimpfen ihn, sprechen
über seine Angelegenheiten. „Jemand hat von Amerika gesprochen;
gewiss ist mein Sohn mit dem Schiff untergegangen," sagte eine
Frau. Der Kranke fühlt sich zu viel da, gehört nicht daher, sollte
fort, ist Allen ein Dorn im Auge. Die Anderen missbilligen seine
Anwesenheit, empfinden sie als eine Beleidigung, können ihn gar
nicht mehr unter sich dulden. Er ist ehrlos, wird ausgelacht, kann
sich nicht mehr sehen lassen.
An das bisher gezeichnete Bild des Versündigungswahns
schliessen sich nicht selten noch andere depressive Yorstellungskreise
an, die nach verschiedenen Richtungen hin entwickelt sein können.
Am häufigsten handelt es sich um die Befürchtung schwerer Strafen,
die sich gewissermassen als Folgerung aus dem Schuldbewusstsein
ergiebt. Der Kranke ist so sündhaft und verworfen, dass ihm Gott
nicht mehr verzeihen kann; er wird verdammt werden, in die Hölle
kommen. Man wird ihn abholen, fortschleppen, vor Gericht stellen,
ihm den Process machen, ihn ins Zuchthaus sperren, öffentlich preis-
geben, hinrichten, ins Feuer, ins heisse Wasser Averfen, ersäufen.
Die Leute stehen schon draussen; die Anklageschrift ist schon ge-
schrieben; er ist ganz verlassen, bittet um gnädige Strafe; wie wirds
ihm ergehen ! Freilich hat er es nicht anders verdient, ist das Essen
nicht werth, das man ihm reicht, will gerne büssen für seine
Schlechtigkeit, verlangt Gift. Nicht selten schildert er daher seine
Fehler in recht lebhaften Farben oder bekennt selbst Dinge, die er
gar nicht begangen hat, um die Bestrafung zu erreichen, die ihm die
Ruhe seines Gewissens wiedergeben soll. Auch die Angehörigen müssen
leiden, werden gemartert; „sie werden doch hoffentlich noch daheim
sein?" Die Familie ist eingesperrt; die Kinder verhungern, liegen
in Ketten, werden von den Wölfen gefressen; die Tochter muss
nackt im Schnee herumirren.
In anderen Fällen tragen die Wahnvorstellungen mehr hypo-
chondrischen Inhalt. Der Kranke ist das elendeste, unglücklichste
Menschenkind auf der ganzen Welt; so, wie er, hat noch nie ein
Wesen gelitten; seit Jahrtausenden ist so etwas nicht vorgekommen.
Alles ist aus und vorbei durch seine eigene Schuld; er ist jetzt so
tief hineingerathen, dass seine Genesung gar nicht mehr möglich ist.
Kraepelin, Psychiatrie. G. Aufl. II. Band. 21
322 VIII. Das Irresein des Eückbildungsalters.
Er hat Gift bekommen; Krebs und Schlaganfall sind im Anzüge;
jede Hoffnung ist verloren; er muss „verrückt" -werden, sein Lebe-
lang in der Anstalt bleiben, sterben, verlangt operirt zu werden.
In Polge von alten „Jugendsünden", Onaniren, überstand ener Syphilis
ist das ganze Nervensystem zerrüttet, die Lunge angegriffen, der
Magen vollständig in Unordnung; der Stuhlgang geht nicht mehr;
man hat ihn dumm gemacht. Endlich erstrecken sich die Befürch-
tungen häufig auch auf die äusseren Yerhältnisse des Ej-anken. Es
langt nicht mehr; er muss sparen, kann nicht mehr zahlen, hat
sein ganzes Vermögen verloren, soll aus dem Amte gejagt werden,
muss betteln gehen.
Nicht selten bestehen neben den Wahnvorstellungen einzelne
Sinnestäuschungen, freilich meist ziemlich unbestimmter Art.
Der Kranke sieht Engel, Kinder, Teufel, Schutzmänner, die ihn holen
wollen, erblickt seine Angehörigen als Leichen vor sich; man führt
ihm alles Schreckliche von Hause vor Augen; alles wird ihm vor-
gespiegelt, ganz tolles Zeug. Innere Stimmen, „Einsprechungen"
fordern ihn zum Selbstmorde auf, machen ihm Vorwürfe, rufen ihm
zu: „Du schlechtes Mensch!"
Das Bewusstsein der Kranken ist meist ungetrübt. Abgesehen
von den wahnhaften Deutungen fassen sie die Personen und Vor-
gänge in ihrer Umgebung richtig auf; die Orientirung bleibt er-
halten. Freilich kommt es vor, dass die Kranken glauben, an ganz
anderem Orte, nicht in der ,,richtigen" Anstalt, bei „richtigen'^
Aerzten, sondern im Zuchthause zu sein, dass sie die Mitkranken
für Bekannte oder Angehörige halten, Briefe als gefälscht bezeichnen.
Allein man überzeugt sich leicht, dass dabei die "Wahrnehmung an
sich nicht gestört ist. Auch der Gedankengang zeigt keine gröberen
Widersprüche und ist zusammenhängend, wenn auch meist sehr ein-
förmig. In dem begrenzten Rahmen der krankhaften Vorstellungen
kann dabei allerdings die Menge der auftauchenden Gedanken eine
recht grosse sein. Die Kranken müssen zwangsmässig immer wieder
über die Vergangenheit und über allerlei traurige Möglichkeiten
nachgrübeln. Vielfach klagen sie geradezu darüber, dass ihnen so
Vieles einfällt und sie sich an alle möglichen Dinge erinnern müssen,
die ihnen längst entfallen waren und nun mit peinlicher Deutlich-
keit sich wieder aufdrängen. „Ich komme in der ganzen Welt herum
mit meinen Gedanken," meinte eine solche Kranke. In der Regel
Melancholie. 323
besitzen sie ein deutliches Gefühl für die Veränderung, welche die
Krankheit erzeugt hat, wenn auch nicht immer die wirklichen
Krankheitszeichen als solche klar erkannt werden; der Kopf ist
verfinstert; „ich hab's gerade wie eine Gemüthskrankheit". Vor-
übergehend werden auch wol einzelne der Wahnvorstellungen
von dem Kranken berichtigt; sobald jedoch die gemüthliche Er-
regung steigt, geht die besonnene Ueberlegung rasch wieder ver-
loren.
Von diesen leichteren Formen der Erkrankung führen all-
mähliche Uebergänge zu einer zweiten, weit weniger zahlreichen und
besonders den höheren Lebensaltern angehörenden Gruppe von
Fällen, bei der die Wahnbildungen der Kranken einen ganz aben-
teuerlichen, unsinnigen Inhalt annehmen. Es handelt sich hier
um jenes klinische Bild, welches man vielfach unter dem Namen
des depressiven Wahnsinns geschildert hat. Die ganze Umgebung
erscheint in schreckhafter Weise verändert. Die Häuser machen
den Eindruck von Festungen: die Anstalt ist ein Todtenpalast, ein
ewiges Haus, ein Gefängniss ohne Ausgang und Zugang, in welchem
sich fürchterliche Ereignisse abspielen. Jedes Geräth, jeder Vorgang
hat einen grauenerregenden, unheimlichen Anstrich; die Worte der
Umgebung enthalten einen versteckten Sinn. Das Licht ist ein
Todtenlicht, das Bett ein Zauberbett, der rasselnde Wagen draussen
ein Leichenwagen; die Bäume im Walde, die Felsen erscheinen
unnatürlich, als wenn sie künstlich gemacht und eigens für ihn dort
aufgebaut wären. Die Personen, die ihn besuchen, sind nicht die
richtigen, werden ihm nur vorgemacht; die Aerzte sind Figuranten,
ja selbst die Sonne, der Mond, das Wetter sind ganz anders, als
früher, und kommen ihm vor wie Blendwerk, dazu bestimmt, ihn
noch mehr zu verwirren. Aus allen Wahrnehmungen ziehen die
Kranken die absonderlichsten Schlüsse. Fliegende ßaben bedeuten,
dass die Tochter im Keller zerschnitten wird; der Sohn hat beim
Besuche einen schwarzen Shlips getragen, also ist die Kleinste todt.
Ein abgenutztes Streichholz sagt dem Kranken, dass er ebenfalls
verbraucht sei und den Kopf verlieren müsste; die Krautsuppe bei
Tisch soll ihn an den Scharfrichter „Krauts" erinnern, der ihn alsbald
hinrichten wird.
Der Kranke hat die ganze Welt ins Unglück gestürzt, die eigenen
Kinder gegessen, die Gnadenquelle fortgetrunken, die Dreifaltigkeit
21*
324 VIII. Das Irresein des Kückbildungsalters,
gepeinigt, kann nicht leben vor Schande. Die Häuser fallen ein:
Städte und Länder sind um seinetwillen verwüstet worden; jedes-
mal, wenn er isst oder wenn er sich im Bette umdreht, wird ein
Mensch hingerichtet. In der Nacht schläfert man ihn ein, bringt
ihn fort, lässt ihn tolle Streiche begehen, für die man ihn später
verantwortlich machen wird, ohne dass er etwas davon weiss. Er
ist nicht werth, dass man mit ihm spricht, ihn auch nur ansieht;
man soll ihn doch nur erschiessen, in ein finsteres Loch werfen,
lebendig begraben, ihm die Zunge herausreissen, den Kopf ab-
schlagen ; er will sich vom Abfall nähren und auf der Diele schlafen.
Man soll ihn in den Fluss werfen, nackt in den Wald hinauslaufen
lassen, am besten, wenn es recht schneit und friert. Die Welt geht
unter; das jüngste Gericht kommt; die Rache Gottes bricht herein;
er wird von einer Million Teufel geholt, auf ein „Extraschaffot" ge-
schleppt, nach Sibirien zu den Eskimos geschickt, an eine Leiche
festgebunden, nackt im wilden Wald von den Wölfen zerrissen, in
1000 Stücke zerfetzt; ihm wird die Haut abgezogen; Hände und
Füsse werden ihm abgehackt. Die Angehörigen werden vom Pöbel
umgebracht, gekreuzigt, müssen Trillionen von Jahren unter
Räubern und Mördern leben; den Kindern ist das Augenwasser
herausgelassen worden.
In einzelnen Fällen wird das Krankheitsbild ganz durch so-
genannte „nihilistische" Wahnideen beherrscht. Es ist kein Geld
mehr da; es giebt keine Eisenbahnen, keine Städte, keine Aerzte mehr;
das Meer läuft aus. Alle Menschen sind todt, verbrannt, verhungert,
weil es nichts mehr zu essen giebt, weil der Kranke in seinen un-
geheuren Magen alles hineingeschlungen, die Wasserleitung leer
getrunken hat. Niemand isst oder schläft mehr; der Kranke ist das
einzige Wesen von Fleisch und Blut, allein auf der Welt, nicht mehr
da, überhaupt gar nichts mehr. Er hat kein Nachtlager, keinen
Namen, kann nicht sterben, nicht todtgeschlagen werden, ist so alt
wie die Welt, muss ewig herumlaufen. Es wird nicht mehr Nacht;
alles ist gefälscht und Schein; die Menschen sind Schatten und
Geister; es ist ein ganz anderes Jahrhundert. Einer meiner Kranken
hielt die Sonne für künstliche elektrische Beleuchtung und beklagte
sich über die Schwäche seiner Augen, weil er die eigentliche Sonne
(in der Nacht) nicht sehen könne. Bisweilen gesellt sich dazu die
Vorstellung häufiger Ortsveränderung. „Ich bin wieder da," sagte
Melancholie. 325
eine Kranke bei jeder Visite, da sie meinte, sie werde immer fort-
geführt, sei jede Stunde an einem anderen Ort.
Häufig sind ferner gerade hier unsinnige hypochondrische Vor-
stelhiDgen. Es ist ein Stück aus dem Kopf in den Schlund gefahren;
der Teufel hat das Gehirn herausgenommen; im Schädel ist Dreck;
die Adern sind eingetrocknet, mit Gift gefüllt; die Kehle geht zu;
ein Stein sitzt im Halse; in allen Gliedern steckt Eiter und geht
massenhaft mit dem Stuhlgang fort, wird beim Räuspern aus-
geworfen. Unter der Haut liegen "Würmer und krabbeln ; die Haut
ist über den Achseln zu eng; der Körper dehnt sich aus oder
schrumpft zusammen; auf der Brust sitzt das Panzergefühl. Es ist
aus; der Kranke ist todt, versteinert, syphilitisch, innerlich verfault,
stinkt, wird das ganze Krankenhaus anstecken, hat keine Augen,
keinen Athem, keinen Kopf, keine Seele und kein Herz mehr, kann
nicht sitzen, keinen Schritt gehen, nicht die Hand geben. Er ist in
ein wildes Thier verwandelt, wenigstens innerlich, muss bellen, rasen
und toben.
Auch geschlechtliche Wahnideen sind nicht selten. Eine 65jährige
Kranke beklagte sich über unsittliche Angrifife, glaubte, in einem
schlechten Hause untergebracht, in die Wochen gekommen zu sein ;
eine andere in gleichem Alter wähnte sich fortwährend den Nach-
stellungen alter Junggesellen ausgesetzt, die sich zu ihr ins Bett
legten. Vielfach halten weibliche Kranke ihre Mitkranken für ver-
kleidete Männer. Ein älterer Herr wurde seiner Meinung nach
gegen seinen Willen allnächtlich in Bordells herumgeschleppt, um
dort syphilitisch gemacht zu werden.
Endlich kommt es in einzelnen Fällen, namentlich bei vor-
geschrittener geistiger Schwäche, auch zur Entwicklung dürftiger
Grössenideen. Die Kranken erzählen mit geheimnissvoller Miene,
dass man sie für die Jungfrau Maria halte, die nun bald mit Christus
niederkommen werde, dass man immer glaube, sie hätten die ganze
Welt hergestellt, könnten Wunder thun, Gold machen und alle
Krankheiten heilen. Sie sollen in einem „silbernen Kessel" gesotten
werden; der Kaiser soll kommen und sie ansehen. Der Arzt ist
der Grossherzog, andere Personen der Schah von Persien oder die
Königin von England. Eine Kranke mit Xamen Fürst meinte, sie
sei nun eine Fürstin^ und verlangte fürstliches Essen.
Sinnestäuschungen pflegen hier vielfach eine Rolle zu spielen.
326 VIII. Das Irresein des Eückbildungsalters.
Teufelsstimmen tönen ins Ohr; im Kopf sitzt ein Männlein, welches
schwätzt; die Gedanken werden laut. Eine meiner Kranken gab
an, in der Zunge zu fühlen, dass sie immerfort unverantwortliche
Sachen rede. Viele dieser Täuschungen sind wol mehr als Illusionen
aufzufassen. Das „schreckliche" Essen ist fade von Geschmack oder
brennt wie Feuer auf der Zunge. Oft stinkt es wie die Pest, und
der Kranke bemerkt nun bei genauerem Zusehen, dass es ganz
verdorben, mit Schimmel bedeckt ist, sich bewegt, oder dass dem-
selben die abscheulichsten Bestandtheile, Würmer, Grünspan, Blut,
Menschenfleisch, Sperma, ganz kleine abgeschnittene Köpfe mit grin-
senden Fratzen beigemischt sind. Die kleinen Knötchen seiner Bett-
leinwand erscheinen ihm wie zahlloses Ungeziefer; am Fenster er-
blickt er Todtengesichter, die Skelette seiner Angehörigen, an den
Bäumen aufgehängte Leichen, oder er sieht Schlangen auf dem
Boden kriechen, Katzen, kleine Männer im Zimmer herumlaufen,
glaubt bis an die Kniee im Blute zu waten.
Das Bewusstsein erscheint bei dieser Form öfters stärker
getrübt, die Orientirung unklar, der Gedankengang verworren und
ungemein einförmig, namentlich in den Zeiten stärkerer Erregung.
Dennoch ist man vielfach überrascht durch die Besonnenheit, mit
welcher die Kranken auf Fragen Auskunft geben und ihre krank-
haften Vorstellungen äussern. Bisweilen besteht sogar ein dumpfes
Bewusstsein von der Natur der Störung; die Kranken klagen, dass
man sie durch das Essen, die Arzneien ganz verwirrt gemacht,
hypnotisirt habe, dass sie immerfort Unsinn reden, bald dies, bald
jenes Verbrechen bekennen müssten, verrückt geworden seien. In
anderen Fällen fehlt den K^-anken die Fähigkeit vollkommen, selbst
die gröbsten Widersprüche zu erkennen und zu berichtigen; sie
behaupten, dass sie keinen Bissen mehr gemessen könnten, während
sie mit vollen Backen kauen; „dies ist der letzte," meinte einer
meiner Kranken jedesmal, Avenn man ihn auf diesen Widerspruch
hinwies. Sie bitten in einem Augenblicke, dass man sie durch Gift
aus der Welt schaffen möge, während sie im nächsten erklären,
dass sie überhaupt nicht sterben könnten, was immer man auch mit
ihnen anfange.
Den Grundzug der melancholischen Verstimmung bildet, wie ich
glauben möchte, ganz regelmässig eine mehr oder weniger deutliche
Angst, das Gefühl eines schweren Druckes, einer inneren Beklemmung.
Melancholie. 327
„Berg und Thal liegen auf mir," sagte mir eine Bäuerin, die später
durch Selbstmord endete. Die Kranken fühlen sich verzagt, klein-
müthig, unbehaglich und pflegen diese Verstimmung als „Heimweh",
Sehnsucht nach den Angehörigen, dem Geschäft, Scheu vor der
fremden Umgebung zu deuten.
Gleich wol wird die heimliche Furcht und Beunruhigung regel-
mässig ganz besonders durch den Verkehr mit denjenigen Personen
verstärkt, an die den Kranken die innigsten Gefühlsbeziehungen
knüpfen. Je stärker der gemüthliche Widerhall ist, den ein Ein-
druck in seinem Innern weckt, desto lebhafter werden auch die
krankhaften Gefühle angeregt. Der fremden Umgebung stehen sie
ziemlich theilnahmlos gegenüber, obgleich sie alle Vorgänge gut
aufzufassen pflegen. Sie sind jedoch so völlig mit sich selbst be-
schäftigt, dass sie dadurch wenig berührt werden. So erklärt es
sich, dass ganz ruhige Melancholiker durch die Aufregungszustände
ihrer Mitkranken auffallend wenig belästigt werden und gewöhnlich
erst dann darüber klagen, wenn die eigene Verstimmung schon be-
deutend abgenommen hat.
In einer Reihe von Fällen entladet sich die innere Beängstigung
in heftigen Gefühlsausbrüchen. Man spricht dann wol von einer
Angstmelancholie (Melancholia activa), doch giebt es zwischen diesen
imd den weniger stürmisch auftretenden Formen (Melancholia Sim-
plex) keinerlei scharfe Grenzen. Die Lebhaftigkeit der krankhaften
Verstimmung und Erregung zeigt regelmässig vielfache Schwankungen.
Während die Kranken vorübergehend nahezu frei erscheinen können,
brechen zu anderen Zeiten, namentlich nach Besuchen oder vorzeitigen
Entlassungen, bisweilen plötzlich Angstanfälle von ausserordentlicher
Heftigkeit herein, die sogar mit tiefer, selbst deliriöser Bewusst-
seinstrübung einhergehen können (Raptus melancholicus). Hie und
da, besonders in sehr schweren Fällen, sieht man auch wol ganz
vorübergehend eine eigenthümlich heitere Stimmung hervortreten.
Bald kommt es nur zu einem unbestimmten Lächeln, bald auch
zu einer Art Galgenhumor. Die Kranken sind ärgerlich und ver-
zweifelt, lachen aber über ihre Dummheit, ihre krankhaften Ideen,
über Vorkommnisse in ihrer Umgebung, machen Avitzige Bemer-
kungen und jammern zugleich darüber, dass sie lachen, da ihnen
nichts weniger als froh zu Muthe sei. Das Auftreten dieser Stim-
mung scheint Zeichen einer gewissen geistigen Schwäche zu sein.
328 VUI. Das Irresein des Eückbildungsalters.
Das Handeln des Kranken Avird durch die melancholische
Yerstimmung- stets erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Er ver-
liert die Lust und das Interesse an seiner Thätigkeit, die Thatkraft,
kann nicht mehr recht schaffen, sich zu keinem Entschlüsse auf-
raffen. Ein estnischer Bauer sagte mir, er komme sich vor vpie ein
Rad am Wagen, das willenlos mitlaufen müsse. Man kann sich
jedoch leicht davon überzeugen, dass nicht die Ausführung der Be-
wegungen an sich erschwert ist. Die Kranken befolgen Aufforde-
rungen, wenn sie nicht durch ihre Angst gehindert werden, ohne
Zögern, vollziehen alle Verrichtungen in natürlicher, freier Weise,
wenn auch ohne besondere Kraft und Schnelligkeit.
Es scheint sich demnach bei der Melancholie nicht um eine
psychomotorische Hemmung, sondern wesentlich um die Wirkung
der gemüthlichen Verstimmung auf die Schaffensfreudigkeit zu
handeln. Dem Kranken erscheint seine Berufsarbeit zwecklos und
vergeblich; alles wird ihm zu viel, steht bergehoch vor ihm. In
Folge dessen verabsäumt er die noth wendigsten Geschäfte und
Pflichten, lässt alles gehen, wie es geht. Manche Kranke suchen
noch eine Zeit lang gegen diese Unfähigkeit anzukämpfen, führen
mit grösster Anstreogung nothdürftig ihre täglichen Aufgaben durch ;
andere entwickeln sogar eine fieberhafte Thätigkeit, bitten flehentlich
um Arbeit, stehen des Nachts auf, um zu schaffen, stricken bis zur
völligen Erschöpfung, um dem vermeintlichen Vorwurfe der Faul-
lenzerei zu entgehen.
Der Gesichtsausdruck der Kranken ist bald bekümmert,
bald weinerlich oder ängstlich gespannt. Manche geben nur spär-
liche, von Seufzern und Jammern unterbrochene Auskunft; andere
haben das Bedürfniss, sich auszusprechen, erzählen eingehend
von ihrem Zustande, kommen aber freilich immer rasch auf
ihre Klagen zurück, sobald man den Versuch macht, über fern-
liegende Dinge mit ihnen zu sprechen. Vielfach wird das Bild
vollkommen von der ängstlichen Unruhe und Erregung beherrscht.
Die Kranken sind unfähig, ein geordnetes Gespräch zu führen
oder sich zusammenhängend zu beschäftigen, jammern vor sich hin,
verkriechen sich, fragen, ob sie fortmüssen, fortgejagt werden, ent-
schuldigen sich, dass sie noch da sind. Bei stärkerer Angst können
sie schliesslich nicht mehr ruhig sitzen oder liegen, springen immer
von neuem wieder auf, um rastlos umherzuwandern, irren im
Melancholie. 329
Wald herum, Ivlammern sich an Yorübergohende an, drängen zur
Thüre hinaus, da sie nicht mehr dableiben können, „so starkes
Heimweh haben". Auch im Bette finden sie keine Kühe, sondern
steigen immer und immer wieder heraus, reissen auch Andere aus
den Betten, rufen um Hülfe, flehen um Gnade, klagen sich an,
jedem Zuspruche unzugänglich, anfangs leise, dann immer lauter,
Tag und Nacht unablässig, einförmig dieselben abgerissenen Rede-
wendungen wiederholend, bis zur völligen Heiserkeit. Sie ringen
die Hände, zittern und beben am ganzen Leibe, zupfen sich Nase,
Finger, Lippen, Ohrläppehen blutig, schlagen sich mit der Faust
vor die Stirn, zerraufen ihre Haare, entblössen ihre Genitalien,
zerschlitzen ihre Kleider und wälzen sich am Boden. Allen
äusseren Einwirkungen, allen Beschwichtigungsversuchen setzen
sie unter raschem Anwachsen der Angst den verzweifeltsten Wider-
stand entgegen.
Es ist unter diesen Umständen selbstverständlich, dass die Be-
friedigung der körperlichen Bedürfnisse bei den Kranken erhebliche
Störungen erleidet. Die Kranken hören auf, regelmässig zu essen,
verlieren ganz den Appetit, weisen schliesslich auch wol die Nah-
rung, wenigstens das Fleisch, zurück, spucken alles wieder aus^
weil sie das Essen nicht werth sind, den Andern nichts wegnehmen
wollen, nicht bezahlen können, Gift oder ünrath im Essen bemerken.
Auch Arzneien oder Bäder werden abgelehnt, so dass die Sorge für
Reinlichkeit und Körperpflege auf grosse Schwierigkeiten stösst. Ein
Kranker lief barfuss herum, um an die Kälte gewöhnt zu sein, wenn
er in den Schnee hinausgejagt werde. In einzelnen Fällen tritt
Harnverhaltung und Bettnässen auf, sei es, dass die Kranken
das Bedürfniss nicht beachten, sei es, dass sie nicht wagen, es zu
befriedigen.
Das bei weitem schwerste und von allen Irrenärzten mit Recht
ausserordentlich gefürchtete Krankheitszeichen ist bei Melancholi-
schen die Neigung zum Selbstmorde, die nur sehr selten ganz
fehlt, oft genug aber auch ungemein stark in den Yordergrund tritt.
Diese Erfahrung steht in voller Uebereinstimmung mit der statistischen
Thatsache, dass die Häufigkeit des Selbstmordes auch in der gesunden
Bevölkerung mit wachsendem Lebensalter stetig zunimmt. Der An-
trieb zum Selbstmorde erscheint bisweilen als der Ausfluss einer
gewissen Ueberlegung. Der quälende Gedanke, ein unnützes und
330 VIII. Das Irresein des Eiickbildungsalters.
sittlich verworfenes Geschöpf, von aller Welt verachtet zu sein,
der Blick in eine vermeintlich finstere und trostlose Zukunft,
die Unerträglichkeit des gegenwärtigen Zustandes regen in dem
Kranken den Wunsch der Yernichtung des Daseins an. Wenn
er nur weg von der Welt, nie geboren, als kleines Ejnd ge-
storben wäre! Alle würden dann von ihm befreit sein und er
selber Ruhe haben; er strebt daher bisweilen in geradezu leiden-
schaftlicher Weise nach einer Gelegenheit zur Ausführung seiner
Selbstmordpläne.
In anderen Fällen tauchen die Selbstmordgedanken ganz
plötzlich, triebartig auf, selbst noch bei weit vorgeschrittener
Besserung, ohne dass die Kranken sich über die eigentlichen
Beweggründe klare Rechenschaft ablegen können. Eine meiner
Kranken war mit häuslicher Ai'beit beschäftigt, als ihr unver-
mittelt der Antrieb kam, sich zu erhängen, was sie auch sofort
ausführte; mit Mühe wurde sie gerettet. Nach solchen Handlungen
wissen die Kranken oft selbst nicht, wie es kam, ja sie erinnern
sich manchmal des Vorganges überhaupt nicht, besonders nach Er-
hängungsversuchen. Hie und da beginnt die Krankheit nach sehr
unbestimmten Yorboten mit einem plötzlichen Selbstmordversuche,
nach welchem erst das ganze Bild deutlich hervortritt. Bisweilen
hat man endlich auch den Eindruck, dass die Kranken nur mit dem
Gedanken des Selbstmordes spielen, ohne den Muth und die Kraft
zu seiner Ausführung zu haben. Sie selbst geben das so an; trotz-
dem darf man niemals sicher sein, dass nicht plötzlich einmal ein
Angstanfall den krankhaften Drang verstärkt und den gesunden
Widerstand überwältigt.
Jeder Melancholiker ist daher als ein äusserst gefährlicher
Kranker zu betrachten, um so gefährlicher, wenn er besonnen oder
gar zu Yerstellung und List geneigt und befähigt ist. Er kann dann
auf die verschiedenste Weise die Wachsamkeit seiner Umgebung
täuschen, sich in der Badewanne ertränken, an der Thürkliuke, an
irgend einer vorspringenden Ecke im Abtritte, ja selbst im Bette
(auch in der Zwangsjacke!) erwürgen, Nadeln, Nägel^ Glasscherben
verschlucken, sich die Treppe hinunterstürzen, den Schädel mit einem
schweren Gegenstande zertrümmern, sich aushungern u. s. f. Be-
achtenswerth erscheint es, dass die Kranken in ihrer Aufregung fast
ganz unempfindlich gegen körperlichen Schmerz zu sein pflegen, ein
Melancholie. 331
Umstand, der ihnen die Ausführung ihres Vorhabens wesentlich er-
leichtert. Eine meiner Kranken, die sich mit einem Küchenmesser
im Abtritte eine grosse Schnittwunde am Halse beigebracht hatte,
bohrte in derselben mit dem stumpfen Stiel einer Abtrittsbürste
herum, um sie zu erweitern; ein anderer Kranker schlug mit dem
Halse so oft auf die Schneide eines am Boden aufgestellten Stemm-
eisens, bis dasselbe durch die ganzen Weichtheile in den Wirbel-
körper eindrang.
In einer kleinen Zahl schwerer Fälle kann man einzelne kata-
tonische Krankheitszeichen beobachten, namentlich langdauemde
Stummheit, eigenthümlich gezwungene Stellungen, Katalepsie, auch
wol Echolalie. Stets besteht hier stärkere Bewusstseinstrübung.
Ich muss es einstweilen dahingestellt sein lassen, ob diese Formen,
die zum Theil in Genesung, zum Theil in Blödsinn übergehen, der
Melancholie zuzurechnen oder etwa als Katatonien aufzufassen sind.
Einstweilen möchte ich mich mehr der ersteren Ansicht zuneigen,
da die eigentlich kennzeichnenden Erscheinungen der Katatonie, der
starre Negativismus bei erhaltener Besonnenheit, die Bewegungs-
stereotypen und Manieren, die Triebhandlungen, in den von mir
beobachteten Fällen nicht vorhanden waren und wir ja auch bei
der Paralyse gelegentlich katatonische Andeutungen auftreten sehen.
Immerhin ist die Frage keineswegs spruchreif.
Begleitet wird das Krankheitsbild der Melancholie regelmässig
von einer Reihe von Störungen, die auf eine allgemeine Betheiligung
verschiedener Körperverrichtungen an dem Kraukheitsvorgange hin-
weisen. Der Schlaf der Kranken ist regelmässig schlecht, kurz,
unruhig, von lebhaften, unangenehmen und quälenden Träumen,
bisweilen von nächtlichem Aufschreien begleitet. „Der Geist kann
nicht schlafen," sagte mir ein Kranker. Bei Tage besteht ein
dauerndes Gefühl der Abspannung, Müdigkeit und Schwere in allen
Gliedern, eine dumpfe Benommenheit im Kopfe, die sich bisweilen
zu wirklich schmerzhaften Empfindungen, Druck auf der Scheitel-
höhe, Spannung im Hinterkopfe u, dergl. steigert. Hie und da be-
obachtet man die ersten Zeichen seniler Hirnveränderungen, Schwindel-
anfäUe, träge Pupillenreaction, Facialisdifferenz, Zittern der Zunge und
der Hände. Einmal sah ich während einer ängstlichen Erregung
vorübergehend aphasische Störungen auftreten. Schwerhörigkeit als
Alterszeichen ist nicht gerade selten. Sehr gewöhnlich wird über
332
VIII. Das Irresein des Eückbildungsalters.
unangenehme Empfindungen in der Herzgegend geklagt,
Spannung, Druck, „Unruhe", „Beängstigung", „Vibriren" am Herzen,
die bisweilen anfallsweise, namentlich Nachts, stärker hervortreten;
„das Herz hat arg Angst". Der Muskeltonus erscheint herabgesetzt;
gleichzeitig besteht das Gefühl allgemeiner körperlicher Schwäche
und Hinfälhgkeit. Die Ernährung nimmt nach Ausweis der
Körpergewichtscurve stets, auch dort, wo keine Nahrungsverweigerung
besteht, im Beginne der Erkrankung rasch ab, um erst mit dem
Eintritte der Besserung sich wieder zu heben. Die Curve IX giebt
dafür ein Beispiel. Hier wurde der anfangs günstige Krankheits-
verlauf durch einen vorzeitigen, von den Angehörigen erzwungenen
Entlassungsversuch unterbrochen. Nach
einem Selbstmordversuche zu Hause
wurde die Kranke in die Klinik
zurückverbracht, wo sie nach einigen
"Wochen nochmals einen schweren
Selbstmordversuch unternahm. Erst
nach diesem stellte sich rasche Ge-
nesung ein.
Die Schleimhäute sind blass, blut-
leer. Die Esslust ist sehr gering oder
ganz aufgehoben, die Verdauung träge;
sehr häufig findet man äusserst hart-
näckige Stuhl Verstopfung. Starker
Belag der Zunge und foetor ex ore
pflegen diese Störungen anzuzeigen.
Die Wärmeproduction wie die Wärmeabgabe ist vermindert, die
Temperatur häufig dauernd herabgesetzt, vielfache Unregelmässig-
keiten in ihrer Vertheilung auf die einzelnen Körperpartien dar-
bietend. Sehr erhebliche Störungen zeigen regelmässig die Kreis-
laufsorgane. Abgesehen von den atheromatösen Veränderungen an den
Blutgefässen, wie sie dem Lebensalter der Kranken entsprechen,
finden wir Kleinheit und Verlangsamung, öfters auch Unregel-
mässigkeit des Pulses, Kälte und Cyauose, ja sogar Oedeme der
Füsse und Hände. Der Befunde von Reinhold, welcher allerdings
die Melancholie viel Aveiter fasst (Veränderungen des Spitzenstosses,
der Herzdämpfung und Herztöne), ist bereits bei früherer Gelegenheit
gedacht worden. Seltener werden auch an der Haut die Erscheinungen
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Curve IX.
Melancholie ; Rückfall ; Genesung.
Melancholie. 333
ungenügender Ernährung, Trockenheit, Sprödigkeit, kleienartige Ab-
schuppung u. s. w. beobachtet.
Der Verlauf der Melancholie zeigt regelmässig ein langsames
Ansteigen und nach längerer Dauer ein noch langsameres Schwinden
der Krankheitserscheinungen. Während der ganzen Zeit aber pflegt der
Zustand fast immer mehr oder weniger regelmässige Schwankungen
darzubieten, welche die Geduld der Kranken und namentlich der
Angehörigen oft auf eine recht harte Probe stellen. Zeitweise kann
sich der Kranke ganz leicht und wohl fühlen, um doch vielleicht
bereits am nächsten Tage von trüber Stimmung und schweren Ge-
danken wieder völlig beherrscht zu sein. Sehr häufig findet sich
ein Nachlass der Krankheitserscheinungen gegen Abend, während
am Morgen die Verstimmung in verstärktem Maasse wiederkehrt.
Ferner pflegen äussere Schädigungen, namentlich Briefe oder Besuche
der nächsten Angehörigen, auf der Höiie der Krankheit fast immer
eine deutliche Verschlechterung nach sich zu ziehen. Endlich wird
auch bisweilen ein ziemlich regelmässiger Wechsel zwischen schlim-
meren und besseren Zeiten oder Tagen beobachtet, ohne dass sich
eine äussere Ursache dafür auffinden Hesse.
Das allmähliche Schwinden der Krankheit unter vielfachen
Nachlässen und Verschlimmerungen ist durchaus die Regel; plötz-
liche, im Verlaufe weniger Tage eintretende „Heilungen" bedeuten,
wenn es sich nicht um ganz leichte und kurzdauernde Erkrankungen
handelt, die Zugehörigkeit des Krankheitsbildes zum manisch-
depressiven Irresein und damit meist das Umschlagen der traurigen
in eine heitere Verstimmung. Einen sehr guten Anhaltspunkt für
die prognostische Beurtheilung der Veränderungen im psychischen
Krankheitsbilde giebt das Verhalten des Körpergewichtes an
die Hand. Stetiges Ansteigen desselben deutet mit Entschiedenheit
auf eine bevorstehende günstige Wendung hin. Gleichzeitig bessern
sich nach und nach Schlaf und Verdauung; die Nachlässe der Ver-
stimmung werden anhaltender und ausgiebiger, wenn auch noch
einzelne schlechte Tage dazwischen vorkommen. Nicht selten ent-
wickelt sich in dieser Zeit eine ausserordentliche Reizbarkeit, die
von den Kranken selbst als krankhaft empfunden oder auch wol im
Sinne des Versündigungswahnes als sittliche Verschlechterung auf-
gefasst wird. An Stelle der früheren Angst und Verzagtheit tritt
eine missmuthige, nörgelnde, unzufriedene Stimm uug. Man kann
334 VIII. Das Irresein des Eückbilduagsalters.
ihnen nichts mehr recht machen; alles quält sie, regt sie auf; sie
können es nicht mehr aushalten und drängen stark nach Hause,
wo sie „besser ihre Ordnung haben". In einzelnen Fällen kann,
wie es scheint, eine solche unleidliche, reizbare Stimmung bei
unvollkommener Einsicht als Ueberbleibsel der Krankheit nach
dem Schwinden der anderen Störungen dauernd zurückbleiben.
Als ein Zeichen von besonders guter Vorbedeutung ist die Rückkehr
des Interesses für die gewohnten Beschäftigungen zu betrachten.
Sobald der Kranke wieder beginnt, zu arbeiten, zu lesen, sich zu
unterhalten, pflegt die Keizbarkeit bald zu schwinden; er wird ein-
sichtig, geduldig, dankbar und gehorsam. Gleichwol besteht immer
noch für einige Zeit eine leichtere Ermüdbarkeit sowie eine ver-
mehrte Empfindlichkeit gegen äussere Schädlichkeiten, besonders
Gemüthsbewegungen, Ueberanstrengungen, Ausschweifungen, welche
vorübergehende YerschHmmerungen nach sich ziehen können, bis
sich im Laufe der Wochen und Monate auch diese Störung voll-
kommen ausgleicht.
Die Prognose der Melancholie muss im ganzen als eine zweifel-
hafte bezeichnet werden. Yon meinen Kranken fanden nur 32*'/o
volle Genesung; ausserdem wurden allerdings noch 23<>/o soweit
gebessert, dass sie in ihre Familie zurückkehren und selbst bis zu
einem gewissen Grade ihre frühere Beschäftigung wieder aufnehmen
konnten. Ungeheilt blieben 26°/„, während 19®/o innerhalb der
ersten zwei Jahre nach Beginn der Krankheit zu Grunde gingen.
Die Wahrscheinlichkeit der Heilung wird nicht unbedeutend durch
das Lebensalter der Erkrankten beeinflusst. Yon meinen Kranken
unter 55 Jahren wurden 40o/o, von den älteren dagegen nur 25 7o
vollständig geheilt.
Eine ungünstige Wendung des Krankheitsverlaufes pflegt sich
im allgemeinen durch eine Abnahme der gemüthKchen Erregung
ohne Zurücktreten der krankhaften Yorstellungen oder gar mit der
Ausbildung unsinnigerer Wahnideen anzukündigen. In den leichteren
Fällen schwindet nun allmählich die Yerstimmung nebst den Wahn-
ideen, aber die Kranken sind trotz einer ungefähren Krankheits-
einsicht doch stumpfer, gleichgültiger, leistungsunfähiger geworden.
Zugleich besteht meist noch ein kleinmüthiges, verzagtes oder weiner-
liches Wesen. Bei weiter fortschreitender Schwäche pflegen zwar
auch die Wahnvorstellungen mehr und mehr zu verblassen, aber die
Melancholie.
335
Kranken werden gedankenarm, verworren, desorientirt, vergesslich,
blöde, affectlos, arbeitsunfähig, gewinnen keine Krankheitseinsicht,
stehen stumpfsinnig und trübselig herum oder jammern eintönig vor
sich hin. Andere werden ganz unzugänglich, kindisch-eigensinnig,
mürrisch, kreischen, sobald man sie anrührt, kratzen, schlagen rück-
sichtslos um sich, gehen zeitweise aus dem Bett, um ihre Nachbarn
zu misshandeln, gesticuliren vor sich hin, murmeln unverständlich
und zusammenhangslos. Hie und da erhalten sich auch wol noch
einzelne zerfahrene Reste der früheren "Wahnvorstellungen und Sinnes-
täuschungen. Das Körpergewicht kann, wie die Curve X zeigt.
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Curve X.
Melancholie ; Ausgang in Schwachsinn.
sehr bedeutend sinken, um nun dauernd auf niedrigem Stande zu
bleiben; bisweilen jedoch erfolgt später wieder ein ausgiebiges An-
steigen ohne psychische Besserung. Das erste rasche Sinken war
hier durch Nahrungsverweigerung bedingt, die durch Kochsalz-
infusionen erfolgreich bekämpft wurde.
Der Tod erfolgte in meinen Fällen meist unter den Er-
scheinungen der Herzschwäche in lebhaften ängstlichen Aufregungs-
zuständeu, einige Male an Lungentuberculose nach längerem Krank-
heitsverlaufe. Zwei meiner Kranken erhängten sich wenige Tage
nach der gegen ärztlichen Rath erfolgten Entlassung zu Hause. Die
pathologische Anatomie hat uns ausser verbreiteter Arteriosklerose
mit ihren Folgezuständen am Herzen und in den Nieren einst-
336 Vni. Das Irresein des Eückbildungsalters.
weilen kein verwertbbares Ergebniss geliefert. Bei zwei älteren
Kranken wurden die Zeichen einer beginnenden Hiruatrophie auf-
gefunden.
Die Dauer der Melancholie erstreckt sich regelmässig über eine
längere Reihe von Monaten, selbst über Jahre. Von meinen ge-
heilten Fällen dauerten die meisten etwa ^/^ — 1 Jahr; fast ein
Drittel derselben erstreckten sich jedoch über 1 Jahr hinaus. Auch
in anscheinend leichten Fällen ist es immer misslich, bestimmte
Vorhersagen über die muthmassliche Dauer zu machen, da sich
der Krankheitsverlauf oft ungemein sciileppend gestaltet, ohne dass
man darum die Hoffnung auf endliche Genesung aufzugeben brauchte.
Einzelne Fälle heilen noch nach 2 — 3 Jahren.
Die Melancholie, wie sie hier geschildert wurde, ist eine Er-
krankung des beginnenden Greisenalters. Sie ist vielleicht als der
krankhafte Ausdruck jenes schon dem gesunden Alter eigenthüm-
lichen Gefühls der wachsenden Unfähigkeit und Unzulänglichkeit
zu betrachten, im Gegensatze zu dem überquellenden Kraftbewusst-
sein der Jugendjahre. Mehr als 64% meiner Kranken standen
zwischen dem 50. und 60. Lebensjahre. Die ersten Erkrankungen
beginnen bald nach dem 40,, die letzten bald nach dem 65. Jahre.
Ob auch gewisse der Schwangerschaft und der Lactation angehörige,
klinisch ähnliche Formen aus früherem Lebensaltei- hierher zu rechnen
sind, möchte ich einstweilen noch unentschieden lassen. In den
höheren Altersklassen werden allmählich die Formen mit unsinnigen
Wahnbildungen häufiger. Das weibliche Geschlecht liefert etwa 60 %
der Kranken, ist also ein wenig stärker betheiligt, als das männliche.
Das gilt ganz besonders für die Erkrankungen im 5. und zu Anfang
des 6. Lebensjahrzehntes, wo Männer nur ausnahmsweise melancho-
lisch werden, während beim Weibe das Klimakterium gerade für
diese Form des Irreseins den günstigen Boden abzugeben scheint.
Späterhin ist ein Unterschied zwischen beiden Geschlechtern kaum
mehr erkennbar.
Die erbliche Veranlagung scheint hier hinter der erworbenen
Disposition zurückzustehen, da ich nur bei 53 7o der Kranken mit
genauer bekannter Vorgeschichte irgend eine, wenn auch öfters
nur entfernte Familienaulage auffinden konnte. Auffallend oft be-
gegneten mir bei Geschwistern und Eltern Apoplexien und Alters-
blödsinn, auch Alkoholismus. Zu berücksichtigen ist übrigens, dass
Erkennung. 337
bei den älteren Kranken genauere Angaben über das Verhalten der
Eltern und deren Geschwister vielfach fehlen. Dadurch wird die
Yergleichbarkeit der Zahlen über die erbliche Anlage beeinträchtigt.
Dem entspricht die Erfahrung, dass hier die Häufigkeit ron Geistes-
störungen bei Geschwistern gegenüber derjenigen bei den Eltern stark
in den Vordergrund trat. Eine Reihe der Kranken werden als
Sonderlinge, kleinliche, ängstliche Naturen, zu Grübeleien geneigt
geschildert; mehrfach fand sich vorzeitiges Greisenthum. Sehr häufig
scheinen bestimmte äussere Anlässe den Ausbruch der Melancholie
zu begünstigen. Als solche sind zu nennen körperliche Krankheiten
(Influenza, Magenkatarrh), Operationen, Vermögensverluste, Schreck,
Sorgen durch Unternehmungen, Veränderungen in den ganzen Lebens-
verhältnissen, vor allem aber Krankheit und Tod der nächsten An-
gehörigen.
In der hier gegebenen Abgrenzung umfasst die Melancholie den
grössten Theil jener Beobachtungen, die man früher als einfache
und als Angstmelancholie zu bezeichnen pflegte, ferner den de-
pressiven Wahnsinn und endlich die senilen Depressionszustände.
Dass diese und nur diese Formen in der That eine innere Zu-
sammengehörigkeit darbieten, davon glaube ich mich in den letzten
Jahren überzeugt zu haben. Aus dieser Auffassung ergiebt sich,
dass zunächst alle depressiven Verstimmungen der jugendlicheren
Altersstufen nicht zur Melancholie zu rechnen sind. Sie gehören
nach meiner Ueberzeugung entweder dem manisch-depressiven Irre-
sein oder der Dementia praecox an, einzelne dem Entartungsirresein
und vielleicht auch der Hysterie. Andererseits ist zu bedenken,
dass sich bisweilen auch das manisch-depressive Irresein erst in den
Rückbildungsjahren entwickelt. Auffallend rascher und günstiger
Verlauf des Anfalles und das Auftauchen einzelner manischer
Andeutungen, starker Thatendrang, Ideenflucht, Grössenideen, fröhliche
Stimmung ohne die Zeichen des Schwachsinns werden hier die
Unterscheidung ermöglichen. Nicht selten freilich wird es recht
schwierig sein, den vorliegenden Anfall richtig zu deuten. Den
besten Anhalt giebt, wie mir scheint, das psychomotorische Ver-
halten. "Während das Benehmen der Melancholiker in allen Stücken
den natürlichen Ausdruck ihrer ängstlichen oder reizbaren Stimmung
bildet, sehen wir in den Depressionszuständen des circulären Irre-
seins die Entschlussunfähigkeit, die Verlangsamung und Erschwerung
Kraepelin, Psychiatrie. 6. Aufl. 11. Band. 22
338 VIII. Das Irreseiu des Rückbilclungsalters.
aller Willenshandlungen durchaus in den Vordergrund treten. Anderer-
seits geht die bei dieser Krankheit gelegentlich beobachtete reizbare
Verstimmung regelmässig mit lebhaftem Thätigkeits- und Rededrang
einher, indess die Reizbarkeit der Melancholiker das Gepräge der
inneren Beängstigung trägt.
Auch die Melancholie zeigt übrigens eine gewisse Neigung^
sich zu wiederholen. Unter meinen Kranken fanden sich 15<^/o
die vor der beobachteten schon einmal eine Melancholie über-
standen hatten, regelmässig ebenfalls in den Rückbildungsjahren.
Fast immer waren die früheren Anfälle sehr leicht verlaufen.
Endlich fand sich noch eine ganz kleine Gruppe von Fällen^
bei denen schon im 4. Lebensjahrzehut eine depressive Geistes-
störung vorausgegangen war; gerade diese Kranken schienen sich mir
durch grosse psychische Beeinflussbarkeit, Zunahme des Jammerns
bei äusserer Anregung, Einförmigkeit des Affectes und Dürftigkeit
der Wahnbildungen auszuzeichnen. Ich bin nicht sicher, ob sie der
Melancholie zuzurechnen sind und habe sie bei meinen Unter-
suchungen überall unberücksichtigt gelassen.
Die mit stärkerer geistiger Schwäche und unsinnigeren Wahn-
bildungen einhergehenden Formen der Melancholie leiten ganz all-
mählich in die senile Verwirrtheit hinüber. In einzelnen Fällen
kann die Frage entstehen, ob Avir es nicht mit einer Dementia
praecox zu thun haben, namentlich beim Auftreten von katatonischen
Zeichen. Wir werden uns für die Annahme einer, in diesem Alter
freilich recht seltenen, katatonischen Erkrankung entscheiden, wo
sich starrer Negativismus, eigenartige läppische Erregungszustände
und Manieren entwickeln, zumal bei Fortbestehen der Besonnenheit
und Orientirung. Bei weitem die grössten diagnostischen Schwierig-
keiten jedoch entstehen bei der Abgrenzung der Melancholie von
der Paralyse. Namentlich diejenigen Fälle, welche etwa zwischen
dem 45. und dem 55. Jahre liegen, können lange Zeit zweifelhaft
bleiben, da die psychischen Kraukheitsbilder einander bisweilen fast
vöUig gleichen. Grössere Besonnenheit und Klarheit, lebhafter,
gleichmässiger Affect, subacute Entwicklung ohne länger zurück-
reichende Vorboten sprechen mehr für Melancholie, während die
Paralyse aus den Zeichen der sonst in diesen Jahren noch nicht
leicht vorkommenden psychischen Schwäche (Vergesslichkeit, mangel-
hafte zeitliche Orientirung, Unbesinnlichkeit, Urtheilslosigkeit, un-
Behandlung. 339
sinnige und Aviderspruchsvolle "Wahnbildungen, Schwächliclikeit des
AfTectes), dann aber namentlich auch aus den körperlichen Krank-
heitszeichen erkannt wird. Auch die schleichende Entwicklung des
Leidens unter den bekannten Zeichen einer allmählichen Verblödung
kann in dieser Richtung einen Fingerzeig geben. Wie weit die
arteriosklerotischen Hirnerkrankungen das Bild der Melancholie dar-
bieten können, entzieht sich einstweilen meiner Beurtheilung.
Die Behandlung*) der Melancholie hat dem Kranken unter allen
Umständen Ruhe zu verschaffen, deren das leidende Gehirn un-
bedingt bedarf. In erster Linie wird es daher nöthig sein, für die
Entfernung aller den Kranken schädigenden Reize zu sorgen.
Dazu gehören namentlich diejenigen Personen und Dinge, welche
ihn gemüthlich am meisten berühren, die nächsten Anverwandten,
das eigene Heim und die Berufsarbeit. Bei ganz leichter Erkrankung
kann unter Umständen ein einfacher Aufenthaltswechsel, die Unter-
bringung bei einer befreundeten, verständnissvollen Familie genügen.
Dringend zu warnen ist vor „Zerstreuungen", anstrengenden Reisen,
eingreifenden Curen, lebhafter Geselligkeit, die ebenso wie lange
Auseinandersetzungen und Zurechtweisungen immer rasch ver-
schlimmernd wirken. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird
die Verbringung in die Anstalt nothwendig sein, ganz unbedingt
dann, wenn irgendwie Selbstmordneigung hervortritt.
Das beste Beruhigungsmittel ist die Bettlagerung, die man
namentlich bei schwachen oder sehr gequälten Kranken mit kurzen
Unterbrechungen durch Aufenthalt im Freien lange Zeit hindurch
fortsetzen kann. Besondere Aufmerksamkeit erfordert ferner die
Sorge für eine gute, kräftige Ernährung. Der Kranke wird
regelmässig zum Essen angehalten; die Appetitlosigkeit und Ver-
dauungsträgheit wird durch Eingiessungen oder milde Abführmittel,
unter Umständen durch Magenausspülungen, sowie durch passende
Auswahl der Speisen bekämpft. Meist gelingt es besser, in häufiger
Wiederholung kleinere Mengen von Nahrung zuzuführen, als die
reichlicheren Hauptmahlzeiten einzuhalten. Geduld und Beachtung
der Wünsche des Kranken vermag hier viel zu erreichen. Bei sehr
ängstlichen und erregten Kranken wird man die Sondenfütterimg
nicht immer umgehen können, ja ich habe bei drohender Herz-
schwäche auch schon zu Kochsalzinfusionen meine Zuflucht nehmen
*) Ziehen, Erkennung und Behandhing der Melancholie in der Praxis. 1897,
22*
340 Vlll. Das Irresein des Rückbildungsalters.
müssen. Besonnene Kranke geben den Widerstand gegen das Essen meist
bald auf, sobald man ihnen die Nutzlosigkeit desselben vor Augen führt.
Von grösster Wichtigkeit ist selbstverständlich ferner die
Eegelung des Schlafes. Bei der langen Dauer der Krankheit
ist die Anwendung von Arzneimitteln möglichst zu beschränken, da
sie meist nicht sehr lange hintereinander fortgegeben werden können.
Häufig thut der Alkohol recht gute Dienste, der in kleinen Gaben
die innere Spannung mildert, in grösseren den Schlaf begünstigt.
Ausserdem passen gelegentliche Gaben von Trional, Sulfonal, auch
von Brom oder Paraldehyd. Yon diätetischen Massregeln kommen
abendliche verlängerte Bäder, Priesnitz'sche Einpackungen, massige
Bewegung im Freien u. dgl. in Betracht, soweit sie nicht die Angst
der Kranken steigern.
Als Beruhigungsmittel hat sich namentlich bei den heftigeren Angst-
zuständen der Melancholiker mit Recht das Opium und Morphium
einen grossen Ruf erworben. Man giebt diese Mittel planmässig
in rasch steigender Gabe (bis zu dreimal täglich 50 oder selbst
60 Tropfen Opiumtinctur), um später allmählich wieder herunterzu-
gehen. Wo nicht bald ein deutlich beruhigender Einfluss bemerk-
bar wird, ist die Fortsetzung der Cur zwecklos. Ausserdem aber
giebt es einzelne Fälle, in denen nicht nur keine Besserung, sondern
geradezu eine Steigerung der Angst eintritt; hier ist schleunige, aber
vorsichtige Beseitigung des Mittels geboten. Bei den leichteren und
ruhigeren Formen der Melancholie erweist sich oft die Verbindung
massiger Opiumgaben mit Bromnatrium nützlich.
Wo die geringsten Anzeichen von Selbstmordneigung hervor-
treten, ist auch in den anscheinend mildesten Formen der Er-
krankung dringend eine sorgfältige Ueberwachung geboten,
wie sie nur in einer zuverlässigen Irrenanstalt (nicht sogenannten
„offenen" Curanstalt) durchgeführt werden kann. Tag und Nacht
muss in solchen Fällen Jemand in unmittelbarer Nähe des Kranken
sein und ihn unausgesetzt im Auge behalten. Das Schlafen eines
Wärters im gleichen oder gar im Nebenraum ist in irgendwie
bedenklichen Fällen durchaus unzureichend. Diese peinliche Auf-
merksamkeit, die den Kranken keinen Augenblick, auch auf dem
Abort nicht, ausser Acht lässt, ist bis zur vollen Genesung fort-
zusetzen, da oft unvorhergesehene Verschlechterungen mit Wieder-
erwachen der krankhaften Triebe vorkommen und die Besserung
Behandlung. 341
bisweilen nur eine scheinbare, zur Erreichung der Entlassung vor-
getäuschte ist.
Die psychische Behandlung muss eine ruhige, gleichmässig
freundliche und geduldige sein. Viele Gespräche über den psychi-
schen Zustand sind zu vermeiden; auch tröstender Zuspruch pflegt
meist wenig oder nichts zu helfen. Weit zweckmässiger ist es, eine
Ablenkung des Yorstellungsverlaufes auf ganz fernliegende Gebiete
anzustreben, was allerdings fast nur in leichteren Fallen mit einiger
Sicherheit gelingt. Auf der Höhe des Leidens verbieten sich solche
Versuche von selbst; in der Genesungszeit jedoch sind sie ein
wichtiges Hülfsmittel, das Denken und Fühlen wieder in die ge-
wohnten Bahnen zu leiten. Dazu dient anregende, nicht ermüdende
Beschäftigung, Lesen, Zeichnen, Handarbeit, sobald mit dem Nach-
lassen der Verstimmung eine freiere Hingabe an dieselbe möglich
wird. Diese Entwicklung pflegt sich ganz von selbst zu vollziehen;
der Arzt hat nichts zu thun, als dieselbe nach Kräften zu fördern
und Störungen durch Ueberanstrengung, starke Gemüthsbewegimgen,
körperliche Schädlichkeiten zu verhüten. Besuche seitens der nächsten
Angehörigen wirken namentlich auf der Höhe der Krankheit nicht
selten sehr aufregend, machen dem Kranken das Herz schwer; hier
ist besondere Vorsicht geboten.
Von Wichtigkeit ist es endlich, den Kranken nicht zu früh
aus der Anstaltsbehandlung zu entlassen; Selbstmorde sind
nur zu häufig die Folge davon. Bisweilen kehren die Kranken auch
von selbst wieder zurück, da sie merken, dass sich ihr Zustand zu
Hause sofort wieder verschlechtert. „Mich hat gleich alles gereut,"
sagte mir ein solcher Kranker. Sehr häufig hat man freilich den
besonnenen, über „Heimweh" klagenden, stark drängenden Kranken
und noch mehr ihren Angehörigen gegenüber einen schweren Stand.
Erst wenn das ungeduldige Drängen verschwindet, volle Krankheits-
einsicht besteht, die Ernährung auf ihren früheren Stand zurück-
gekehrt und der Schlaf ungestört ist, kann man die Heilung als
vollendet und die Zeit der Entlassung als gekommen ansehen ; Aus-
nahmen sind nur bei sehr günstigen Verhältnissen und zweifellos
fortschreitender Genesung zulässig. Jedenfalls bedürfen alle Ent-
lassenen noch längere Zeit hindurch einer gewissen Schonung und
Pflege sowie einer verständigen, ruhigen Behandlung seitens ihrer
Umgebung.
342 VIII. Das IiTesein des Eückbilduagsalters.
B. Der praeseuile Beeinträchtigungswalin.
Unter dieser Bezeichnung möchte ich eine kleine Gruppe von
Fällen aus den Rückbildungs jähren zusammenfassen, die durch all-
mähliche Entwicklung grosser Urtheilsschwäche mit Wahn-
bildungen und gesteigerter gemüthlicher Erregbarkeit
gekennzeichnet sind. Der Beginn der Krankheit ist immer ein
schleichender. Ganz unmerklich stellt sich eine Yeränderung im
"Wesen und Benehmen der Kranken heraus. Sie werden stiller,
menschenscheu, unzufrieden, grundlos traurig, misstrauisch und
reizbar. Die Besonnenheit und Orientirung bleibt vollkommen er-
halten. Dagegen tauchen nach und nach Wahnvorstellungen
auf, anfangs unbestimmt und flüchtig, später hartnäckiger und in
ausgeprägterer Form. Zunächst sind es vielfach hypochondrische
Ideen. Die Kranken klagen über die verschiedenartigsten, häufig
wechselnden nervösen Schmerzen, Singultus, krampfhaftes Zucken,
Schwindel, Schmerzen hier und dort, unruhige Träume, Schwäche
Schwellungen, Krachen im Kopf u. dergl. Sie erinnern dadurch
sehr an Hysterische, doch laufen auch sehr unsinnige Klagen mit
unter; das Rückenmark ist geschwunden, das Gehirn vertrocknet,
alle Kraft verloren gegangen.
Weiterhin pflegen sich Verfolgungsideen einzustellen, die eben-
falls einen ganz abenteuerlichen Inhalt annehmen können. Kleider
und Gegenstände werden vertauscht oder gestohlen; das Klavier
ist nicht mehr das alte, muss heimlich ausgewechselt worden
sein. Es sind Räuber im Hause; Nachts schleicht sich Jemand
ein; verdächtige Dinge geschehen: im Essen, in der Cigarre ist
Gift. Eine meiner Kranken Hess durch den Tapezierer das
Sopha öfEaen, da sie vermuthete, dass in demselben Jemand stecke,
der das Haus in die Luft sprengen wolle. Die Aerzte machen
heimliche Eingiessungen und Einreibungen, treiben Schweinerei,
reissen die Gebärmutter heraus, erzeugen die Krankheit künst-
lich, um daran zu studiren; die Frau wendet hinter dem Rücken
der Kranken Mittel an.
Ganz besonders häufig pflegt der Wahn ehelicher Untreue
in den Vordergrund zu treten. Der Mann verkehrt mit allen
Krankheitsbild. 843
möglichen Frauenzimmern, liebäugelt auf der Pferdebahn hinter
der Zeitung mit seiner Nachbarin, tauscht verständnissvolle Blicke
mit begegnenden Mädchen, hat ein Verhältniss mit der Dienstmagd,
bestellt sich zu jeder Reise eine Dame, die im gleichen Zuge mit-
fahren muss, empfängt Briefe von den Schulfreundinnen der Tochter.
Die Frau steht in der Nacht ohne genügenden Grund aus dem
Bette auf, stöhnt in eigenthümlicher Weise, schrickt bei der Heim-
kehr des Mannes zusammen, verliert einen Zettel mit höchst ver-
dächtigen Andeutungen.
Gewöhnlich sind alle diese Wahnvorstellungen ungemein ver-
änderlich; sie tauchen in einem Augenblicke auf, um im nächsten
von dem Kranken preisgegeben zu werden, aber ebenso rasch in
anderer Form wiederzukehren. Viele Kranke geben auf eindring-
liche Yorstellungen ohne weiteres zu, dass sie sich getäuscht haben
könnten, krank seien, aber sie kommen nicht zu einem wirklichen
Verständnisse für die Unsinnigkeit ihrer Vorstellungen; man findet
sie vielleicht schon nach einer halben Stunde in der grössten Er-
regung darüber, dass sie mit der Milch soeben ein schreckliches
Gift zu sich genommen hätten, unfehlbar sterben müssten, dass ein
Mann unter dem Bette gesteckt haben müsse, ein eigenthümliches
Gefühl am Herzen ihnen nunmehr den Tod ihrer Tochter
ganz bestimmt angezeigt habe. Auch jetzt genügen meist wieder
einige beruhigende Worte, um diese Befürchtungen in den Hinter-
grund zu drängen.
In einzelnen Fällen geht der Wahn mit Sinnestäuschungen
einher. Der Kranke wird bedroht, hört, wie fremde Personen sich
des Verkehrs mit seiner Frau rühmen, wie seine gemisshandelten
Kinder schreien, sieht Nachts eine dunkle Gestalt zur Thür hinaus
huschen, fühlt beim Hinüberlangen, dass Jemand neben der Frau
im Bette liegt. MerkAvürdiger Weise sucht er nun den Schuldigen
nicht näher zu überführen; indessen auch wenn die sofortige Unter-
suchung kein Ergebniss liefert, ist er nur entrüstet über die Scham-
losigkeit und Schlauheit, mit der die eheliche Treue in seiner Gegen-
wart gebrochen wird.
Der Gedankengang der Kranken bleibt vollkommen geordnet.
Dagegen ist man immer wieder aufs neue erstaunt über die ausser-
ordentliche Schwäche des Urtheils, welche den Kranken die aben-
teuerlichsten Wahnvorstellunffen bei voller Besonnenheit ohne weiteres
344 VIII. Das Irresein des Eückbilduugsalters.
hinnehmen lässt. Ihm fehlt offenbar durchaus die Fähigkeit, deren
Unsinnigkeit wirklich klar einzusehen; er lässt sich im Augenblicke
wol ohne Mühe überreden, aber nicht überzeugen. Das Gedächtniss
für frühere Zeiten zeigt keine Störung, doch schieben sich in die
Darstellung der wahnhaft verarbeiteten Erlebnisse leicht allerlei Zu-
sätze und Verdrehungen hinein.
Die Stimmung der Kranken ist in der ersten Zeit nieder-
geschlagen, ängstlich; nicht selten kommt es zu Selbstmordversuchen.
Späterhin tritt meist eine gewisse Erregung und Reizbarkeit hervor.
Die Kranken sprechen viel, beklagen sich mit grossem Wort-
schwall, führen lärmende Auftritte herbei, gerathen in heftige Wuth,
schimpfen, lassen sich aber meist leicht beruhigen, lachen und weinen
ohne Anlass. Oefters macht sich gehobenes Selbstgefühl bemerkbar.
An die Wahnvorstellungen schliessen sich vielfach allerlei un-
sinnige Handlungen. Manche Kranke laufen bei allen Aerzteu
herum, lassen sich ungezählte Rathschläge geben, ohne einen einzigen
zu befolgen; andere hören zeitweise auf, zu essen, ziehen sich von
ihrer Umgebung zurück, zerstören plötzlich, was ihnen unter die
Finger kommt, werden gewaltthätig. Eine meiner Kranken hatte
ihr Dienstmädchen so vollständig von der Wirklichkeit ihrer Yer-
folgungsideen überzeugt, dass dieses mit ihr das Haus nach ein-
gedrungenen Mördern durchsuchte und den Nachbarn der Yertauschung
des Kronleuchters beschuldigte. Der Eifei'suchtswahn führt zu
peinlicher Ueberwachung des Gatten. Das Dienstmädchen wird ihm
nachgesandt; aus dem Papierkorbe werden zerrissene Briefe wieder
zusammengestellt, um den Beweis der Schuld zu erbringen. Es
kommt zu unverständlichen Wuthausbrüchen gegen die vermeintlichen
Verführerinnen; eine Dame ging auf die Polizei, um ein ihr ver-
dächtiges Fräulein unter Sittencontrolle stellen zu lassen.
Im weiteren Verlaufe werden die Wahnvorstellungen immer
unsinniger. Frau und Kinder werden gemartert, das Söhnchen am
Boden festgenagelt, am Gartenzaun aufgehängt. Die Frau geht jede
Nacht aus einer Hand in die andere; alle sprechen davon. Weib-
liche Kranke glauben, dass sich der Mann mit den eigenen Kindern,
ja mit anderen Männern abgiebt, die sie für verkleidete Frauen-
zimmer halten; sie merken es an den Empfindungen ihres eigenen
Körpers, wenn er sie mit anderen betrügt. Der liebe Gott verkündet
alles, spricht dem Kranken ins Ohr, liegt Nachts wie ein Schatten
Abgrenzung. 345
rechts neben ihm im Bett. Personen und Umgebung sind vertauscht;
der eigene Körper wird entstellt,' beeinflusst. Manche Kranke verhalten
sich daher sehr ablehnend, verhüllen sich, sprechen zeitweise kein
Wort, um dann plötzlich Avieder ganz freundlich und mittheilsam zu
werden. Die Wahnvorstellungen wechseln vielfach, treten wol auch
vorübergehend in den Hintergrund, wenn auch gewisse allgemeine
Grundzüge immer wiederzukehren pflegen. Trotz weit vorgeschrittenen
Schwachsinns werden aber die Kranken, soweit meine Erfahrung
reicht, nicht verwirrt. Heilungen oder auch nur weitgehende Besse-
rungen scheinen nicht vorzukommen.
Das hier versuchsweise abgegrenzte Krankheitsbild ist nicht
gerade häufig; ich habe in den letzten 10 Jahren höchstens etwa
ein Dutzend Fälle gesehen. Die Mehrzahl bildeten Frauen; bei
ihnen begann das Leiden regelmässig im 5. oder im Beginne des
6. Lebensjahrzehntes, während die Männer immer erst in den 50er
Jahren zu erkranken pflegen. Fast überall bestand erbliche Ver-
anlagung zum Irresein; sonstige greifbare Ursachen habe ich nicht
auffinden können.
Es liegt daher die Annahme nahe, dass wir es hier mit einer
vorzeitigen Alterserkrankung auf krankhaft vorbereitetem Boden zu
thun haben, um so mehr, als wir im eigentlich senilen Verfolgungs-
wahn ein Bild kennen, welches viele ähnliche Züge aufweist.
Ob es sich indessen um einen eigenartigen Krankheitsvorgang
handelt, wird erst weitere Erfahrung entscheiden müssen. Meist
werden wol diese Fälle zur Paranoia gerechnet. Sie unterscheiden
sich aber meiner Auffassung nach von jener Krankheit dadurch
ganz scharf, dass es hier nicht zu einer w^eiteren Verarbeitung
der Wahnvorstellungen kommt. Vielmehr machen die Kranken gar
keinen Versuch, die feindseligen Wahrnehmungen etwa auf eine be-
stimmte Quelle zurückzuführen. Die Verfolger bleiben ganz unbestimmt,
oder sie wechseln doch überaus häufig; selbst die beargwöhnten
Ehegatten werden nicht eigentlich als Feinde, sondern vielfach als
Verführte betrachtet. Auch zielien die Kranken aus ihren auf-
tauchenden und wieder schwindenden Wahnvorstellungen keine weiteren
Schlussfolgerungen für ihr Handeln; abgesehen von gelegentlichen
Heftigkeitsausbrüchen behandeln sie die vermeintlichen Verfolger
gar nicht besonders feindselig, verkehren mit den untreuen Gatten
weiter, ja drängen sich ihnen auf, sind plötzlich gegen dieselben
346 VIII. Das Irresein des EiickbiWungsalters.
Personen zugänglich und freundlich, die sie kurz vorher verdächtigt
und beschimpft haben. Vielfach bleiben sie auch trotz der Klagen über
alle möglichen Nachstellungen recht gern in der Anstalt, freuen sich
über den Schutz, den sie dort geniessen. Endlich aber sind die
Wahnvorstellungen durchaus nicht feststehend, sondern vielfachem
Wandel unterworfen, bisweilen sogar in ganz kurzen Zeiträumen.
Die Kranken gestehen oft überraschend bereitwillig und nicht blos,
um den Arzt zu täuschen, die Möglichkeit eines Irrthumes zu. Auch
ihre Erregungszustände scheinen weniger durch Ueberlegungen, als
durch gemüthliche Schwankungen bedingt zu sein.
Auf der anderen Seite könnte man geneigt sein, diese Formen
des Irreseins einfach der Dementia praecox zuzurechnen, die zweifel-
los, wenn auch nicht häufig, noch in diesem Alter beobachtet wird.
Ich vermag diese Auffassung nicht bestimmt zu widerlegen, möchte
aber darauf hinweisen, dass die Kranken keine katatonischen Zeichen
darbieten. Ihr gelegentliches Widerstreben, ihre Stumm heit, ihre
Nahrungsverweigerung, ihre Erregungen sind regelmässig durch
Wahnvorstellungen oder Stimmungen begründet, nicht einfach
zwangsmässig oder triebartig. Die Kranken werden auch nicht
rasch gemüthlich stumpf, sondern bleiben im Gegentheil erregbar;
die Urtheilsstörung überwiegt weit diejenige des Fühlens und
Handelns. Der Ausgang ist niemals tiefer Blödsinn oder Sprach-
verwirrtheit, sondern ein massiger Schwachsinn mit einzelnen
wechselnden und zusammenhangslosen Wahnvorstellungen. Gegen-
über der Paralyse ist, abgesehen natürlich von den körperlichen
Zeichen und dem weiteren Verlaufe, auf den Mangel einer Gedächt-
nissschwäche trotz bedeutender Urtheilslosigkeit hinzuweisen.
Von einer eigentlichen Behandlung dieser Krankheitszustäude
kann heute keine Rede sein. Manche Kranke bedürfen der Anstalts-
pflege, weil sie zu störend werden und ihre Umgebung in hohem
Grade beunruhigen; sie pflegen sich vielfach ohne besondere
SchAvierigkeiten in die Freiheitsentziehung und die Tagesordnung
der Anstalt zu finden. Andere vermögen unter einigermassen
günstigen Verhältnissen auch ausserhalb der Anstalt zu leben, ohne
dass die tiefgreifende Störung allzu auffallend hervorträte.
347
0. Der Altersblödsinn.*)
Schon bei Besprechung der allgemeinen Ursachen des Irre-
seins sind in grossen Umrissen die Wandlungen geschildert worden,
welche die psychische Persönlichkeit im Alter regelmässig zu erleiden
pflegt. In ihrer stärksten Ausprägung führen diese Yeränderungen
zum Krankheitsbilde des Altersblödsinns, Der Grundzug desselben
ist eine allmählich fortschreitende, eigenartige Verblödung.
Die Auffassung äusserer Eindrücke geschieht nur noch in grossen
Umrissen. Feinheiten, kleinere Abweichungen werden nicht mehr
bemerkt, der Zusammenhang verwickelterer Erscheinungen nicht mehr
verstanden. Der Kranke verliert daher leicht die klare Orientirung
in den täglichen Vorkommnissen, findet sich nicht gut zurecht,
weiss im Gespräche nicht, wovon die Eede ist, überhört und über-
sieht wichtige Einzelheiten. Er wird schläfrig, denkfaul, benommen,
zeitweise verwirrt, verliert leicht den Faden.
Die Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit des Denkens ist
dahin; die schöpferische Thätigkeit versagt; der Kranke ist unfähig
geworden, seinen geistigen Standpunkt zu verändern, neue Ge-
sichtspunkte zu gewinnen. Das altgewohnte Spiel erstarrter Vor-
stellungsverbindungen erhält sich noch in stetem Kreislaufe, aber es
ist keiner weiteren Entwicklung mehr fähig, keiner Anregung von
aussen mehr zugänglich. Die gleichen Gedankenreihen kehren immer
wieder, flechten sich ohne Rücksicht auf das Ende überall ein, so-
bald sie einmal angeregt wurden. Die geistige Verarbeitung äusserer
Eindrücke, die Bildung von Urtheilen und Schlüssen, die kritische
Sichtung und Prüfung aufsteigender Vorstellungsreihen wird immer
ungenügender und unsicherer. Daraus erklärt sich der völlige
Mangel an Verständniss für fremde Anschauungen und Verhältnisse,
die Unbeugsamkeit seniler Vorurtheile und die geringe Widerstands-
fähigkeit gegenüber den hier sehr häufig sich einstellenden Wahn-
ideen. Meist pflegen sich diese letzteren im Rahmen übertriebener
*) Fürstner, Archiv f. Psychiatrie XX, 2; Nötzli, Ueber Dementia senilis,
Diss. Zürich, 1895; Alzheimer, Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie,
1898, 101.
348 VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
Krankheitsfurcht, unsinnigen Misstrauens oder kindischer Selbst-
überschätzung zu halten. Die Kranken haben keinen Stuhlgang
mehr, werden bestohlen, von den Franzosen todtgeschossen. Bis-
weilen tauchen Selbstmordgedanken auf. Dazu kommen vielfach
Sinnestäuschungen, namentlich Illusionen, aber auch einzelne Hallu-
cinationen. Die Kranken hören Engel, Leute, die ihnen den Hals
abschneiden wollen, sehen abenteuerliche Bilder, namentlich Nachts,
Landschaften, bunte Scenen, bekannte Persönlichkeiten. Wirkliche
Krankheitseinsicht besteht nicht, doch klagt der Kranke öfters, dass
er zu nichts mehr nütze sei, sich über nichts mehr freue, etwas im
Kopfe habe, dass es mit ihm aus und vorbei sei.
Sehr erheblich sind regelmässig die Störungen auf dem Gebiete
des Gedächtnisses. Zwar die Erinnerung an längst entschwundene
Tage haftet noch fest, ja einzelne Erlebnisse aus früher Kindheit
tauchen nicht selten mit erstaunlicher Lebhaftigkeit wieder auf, um
in weitschweifiger Breite immer von neuem vorgebracht zu werden.
Allein das Gedächtniss für die jüngste Vergangenheit beginnt immer
zahlreichere und unbegreiflichere Lücken aufzuweisen. Die Gegen-
wart geht fast spurlos, ohne zu haften, an dem Kranken vorüber;
sie ist ihm schon nach kurzer Zeit völlig entschwunden, weil sie
keinen Widerhall in seinem Innern findet. Er vergisst, was er
gestern, vorgestern gethan hat, erzählt im Laufe einer Unterhaltung
dieselben altbekannten Geschichten zum zweiten Male, ohne es zu
bemerken, verirrt sich in seiner neuen Wohnung, weiss sich auf die
Namen alter Bekannter nicht zu besinnen und verwechselt die
Personen seiner Umgebung. Ganz ähnlich wie in der Paralyse
können auch hier die wirklichen Erinnerungen nicht nur vielfache
unwillkürliche Abänderungen erfahren, sondern es können auch die
Lücken geradezu durch allerlei Erdichtungen ausgefüllt werden,
deren subjective Entstehung dem Kranken selbst nicht klar wird.
Halberlebtes und frei Erfundenes mischt sich derart zu höchst un-
zuverlässigen Erzählungen, dass der Wahrheitskern oft äusserst
schwierig oder gar nicht sich herausschälen lässt. Endlich kommt
es bei dem fortschreitenden Versagen des Gedächtnisses, dem kein
neuer Erwerb gegenübersteht, mehr und mehr zu einer Ver-
armung des Vorstellungsschatzes, deren Folge uns in der ausser-
ordentlichen Dürftigkeit und Einförmigkeit des Gedankeninhaltes
entgegentritt.
Krankheitsbild. 349
Auch im Gemüthsleben macht sich die Yerödung geltend.
Der Kranke wird stumpf und theilnahmslos ; seine Empfänglichkeit
für die Leiden, aber auch für die Freuden des Daseins erlischt. In
den Vordergrund des Interesses tritt mehr und mehr das eigene
Ich und die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse und Launen.
Das körperliche AVohlbefinden, das Essen und Trinken, die Yer-
dauung, der Schlaf, der Tabak gewinnen eine ganz besondere
Wichtigkeit. Verlust der nächsten Angehörigen und ähnliche Schick-
salsschläge gehen ohne nachhaltigen Eindruck vorüber. Die Familie,
der Beruf, seine Lieblingsbeschäftigung werden dem Kranken gleich-
gültig. Den Stimmungshintergrund bildet bald mürrische Unzu-
friedenheit, bald mehr kindische Fröhlichkeit und gehobenes
Selbstgefühl.
Dabei nimmt die augenblickliche Erregbarkeit häufig zu. Der
Kranke ist rücksichtslos, eigenwillig, rechthaberisch, fühlt sich durch
jeden Widerspruch gereizt und beleidigt. Dennoch sind die
Schwankungen der Stimmung oberflächlich und ohne Nachhaltigkeit;
■weinselige Kührung, läppische Freude, klägliches Verzagen werden
durch die geringfügigsten Anlässe hervorgerufen, um ebenso rasch
wieder zu verschwinden. Der Geschlechtstrieb ist vielfach ge-
steigert und äussert sich in schamlosen Reden, stutzerhafter Kleidung,
zotigen Aufschneidereien, Heirathsplänen, aber auch in unzüchtigen
Handlungen, namentlich an Kindern, für deren strafrechtliche Be-
deutung dem geschwächten Verstände die klare Einsicht mangelt.
Im übrigen zeigt das äussere Verhalten der Kranken grosse
Verschiedenheiten. Viele bleiben immer ruhig, harmlos, zufrieden,
geben trotz ihrer w^achsenden geistigen und gemüthlichen Stumpf-
heit zu keinerlei Störungen Anlass; sie werden ohne Schwierigkeit
in ihren Familien, in Pfründen und Siechenhäusern verpflegt. Bei
anderen dagegen entwickelt sich allmählich eine wachsende Un-
ruhe. Die Kranken jammern, klagen, nörgeln, zanken mit ihrer
Umgebung, schimpfen bei jeder Gelegenheit in den unfläthigsten
Ausdrücken, drohen oder werden sogar gewaltthätig. Andere be-
ginnen viel zu schwatzen, sich Ausschweifungen hinzugeben, zu
raasturbiren, laufen zwecklos herum, verirren sich im Walde, machen
unsinnige Einkäufe und Pläne, sammeln allen möglichen Plunder
bei sich an und gerathen durch ihr unvernünftiges Treiben in
mannigfache Schwierigkeiten. Namentlich in der Nacht finden sie
350 VIII. Das Irresein des Rückbildungsalters.
keine Ruhe, sondern führen durch vielfaches Aufstehen, Herum-
wandern im Hause, Kramen in alten Scharteken, unvorsichtiges
Hantiren mit Licht allerlei Störungen und selbst ernste Gefahren
herbei. Am Tage sind die Kranken dann müde und schläfrig,
nicken mitten im Gespräche oder bei der Mahlzeit ein. Für ihre
körperliche Pflege sind sie nicht im Stande, selbst zu sorgen, ver-
kommen daher vielfach in Schmutz und Ungeziefer, wenn Niemand
sich ihrer annimmt.
Die körperlichen Begleiterscheinungen der Dementia
senilis sind ausser der unregelmässigen Störung des Schlafes ein sehr
beträchtlicher Rückgang des allgemeinen Kräftezustandes, gewöhn-
lich auch eine Abnahme der Esslust. Die abgemagerten Kranken
sehen mit ihren gerunzelten Zügen und der fahlen Gesichtsfarbe
meist noch älter aus, als sie wirklich sind; ihre Muskulatur ist
schwach ; die Körperkräfte sind gering. Der ergraute, spärliche Haar-
Schriftprobe X.
wuchs, der Greisenbogen an der Hornhaut, die Linsentrübungen, die
Schwerhörigkeit, die Schwerfälligkeit der Bewegungen, das Zittern
sind als Zeichen des Greisenalters auch bei unseren Kranken häufig.
Die besonderen Eigenthümlichkeiten der letztgenannten Erscheinung
im Gegensatze zu dem Zittern der Paralytiker und der Trinker, die
grosse Regelmässigkeit und Ausgiebigkeit der einzelnen Bewegungen,
lässt die beigegebene Schriftprobe deutlich erkennen. Dazu können
sich eine Reihe von Erscheinungen gesellen, welche auf leichtere
oder tiefere Yeränderungen in der Hirnernährung hindeuten, Kopf-
schmerzen, Schwindelanfälle mit vorübergehenden oder andauernden
aphasischen Erscheinungen, ferner Hemianaesthesie , Hemianopsie,
Ptosis, Hemiparesen des Gesichtes, der Zunge, der Extremitäten;
auch die Gefahr wirklicher Apoplexien und Hemiplegien liegt hier
überall ausserordentlich nahe. Die Pupillen sind nicht selten eng,
ungleich, reagiren träge, in einzelnen Fällen gar nicht; die Reflexe
sind gesteigert, seltener geschwunden; die Sprache ist undeutlicli.
Senile Verwirrtheit. 351
Vielfach bestehen neuritische Störungen, bisweilen Pruritus senilis.
An den geschlängelten, starren Arterien, an dem harten, aber
kleinen und verlangsamten, nicht selten unregelmässigen Pulse
lassen sich oft schon im Leben die Zeichen der arteriosklerotischen
Veränderungen erkennen, welchen wir wol nicht mit Unrecht
die wichtigste Rolle in der Entstehungsgeschichte der Dementia
senilis zuschreiben dürfen.
Die höchsten Grade des Altersblödsinns bezeichnen wir als
senile Verwirrtheit. In diesen Zuständen geht das Verständniss
der Lebensereignisse und die Orientirung allmählich ganz verloren.
Die Kranken fassen wol noch Anreden auf, geben auch sinngemässe
Autworten, haben aber keine Ahnung mehr davon, wo sie sich be-
finden, reden die Personen ihrer Umgebung wahllos mit den Namen
längst verstorbener Jugendbekannter an, kennen ihre eigenen An-
gehörigen nicht mehr, wissen nicht, Avie alt sie sind, wie viel Kinder
sie haben, entschuldigen sich mit ihrer Vergesslichkeit. Meist sind
sie ungemein ablenkbar, vermögen keinen Gedanken festzuhalten.
Der Vorstellungskreis ist stark eingeengt; die gleichen, oft ganz
sinnlosen Wendungen werden immer wieder vorgebracht. Auch
sinnlose, eigen thümlich rhythmische, halb singende Wiederholung
einzelner Wörter oder Silben wird beobachtet. Bisweilen bemerkt
man in dem Fehlen der Hauptwörter und in der eigenthümlichen
Unbestimmtheit der Reden die Spuren aphasischer Störungen. Ein
Beispiel dafür giebt die folgende Nachschrift:
„0 Gott, wie ich dann herein gekommen bin in die Stube, wo die vielen
sind, wie sie da auch sind in der Stube, da haben sie gekrischen und da haben
sie mir mein Sach ausgezogen. Und da ist er heraus und die haben es zugemacht
und haben mich hier dabei gelassen und die auch, wo da so kreischen, und da
haben sie mich in die Stube daneben hinein und da — ach Gott ich bin ganz
verwälscht — es ist mir nicht ganz klar — mein Kopf — ich bin doch recht
geseheidt."
Vielfach entwickeln sich ganz abenteuerliche, wechselnde Wahn-
bildungen, Verfolgungs- oder Grössenideen. Hier bestehen fliessende
Uebergänge zu den früher besprochenen Spätformen der Melancholie,
deren unsinnigen hypochondrischen und nihilistischen Vorstellungen
wir wieder begegnen. Der Kranke kann nichts mehr reden, nichts
essen, ist todt, wird bestohlen, soll geschlachtet w^erden; man will
ihn prügeln, ihm den Zwangskittel anziehen, den Bauch auf-
schneiden, die Därme herausnehmen: „die Wärter freuen sich schon
352 ^ III- Das Irresein des Kückbildiingsalters.
darauf." Der Arzt ist ein Mörder, wird ihn vergiften; die Frau
hält es mit anderen Männern; er miiss die Leiden des Heilands
durchmachen. Kleider, Geld, Kaffee ist für ihn angekommen;
er besitzt Millionen, ist von Adel; Gott gehorcht ihm auf den
leisesten Wink.
Ganz besonders ausgebildet pflegt die Neigung zum Fabuliren
zu sein. Der Kranke erzählt von allen mögliehen wahnhaft er-
fundenen Erlebnissen, dass er einen Brief erhalten, Besuch gehabt,
einen Spaziergang gemacht habe. Er hat Kartoffeln herausgenommen,
kommt soeben aus dem Stall. Gestern hat er beim Kaiser gespeist,
im Kriege ein ganzes Regiment eigenhändig umgebracht, fabelhafte
Reisen unternommen und Abenteuer erlebt, deren Einzelheiten sich
durch Gegenfragen leicht beeinflussen lassen. Bei diesen Erzäh-
lungen lässt sich öfters ein gewisses Gefühl der Unsicherheit fest-
stellen; der Kranke verbessert sich, nimmt auf eindringlichen Vor-
halt seine Aussagen zurück, meint, er sei ganz irre, nicht richtig
im Kopf. Vielfach leben die Kranken wie in einer Traumwelt, weit
zurück in der Kindheit, verkehren mit Eltern und Grosseltern,
halten sich für 20 Jahre alt, faseln von ihrer Hochzeit, glauben,
die Menses zu haben, wähnen sich bei einer eingebildeten Be-
schäftigung. Einzelne Sinnestäuschungen, besonders des Gesichts,
sind nicht selten.
Die Stimmung ist bald niedergeschlagen, ängstlich, verzagt,
bald reizbar, unwirsch, bald entwickelt sich eine läppische Heiterkeit,
die allerdings oft unvermittelt in weinerliche Angst umschlägt. Die
Kranken jammern und schimpfen, kratzen, schlagen zu, sind eigen-
sinnig und widerspenstig, machen plötzliche Selbstmordversuche; sie
tänzeln mit freundlich-blödem Lächeln herum, springen ausgelassen
durchs Zimmer, werfen Kusshände. Oft sind sie sehr unruhig,
ganz besonders des Nachts, gehen aus dem Bette, Avollen fort,
wühlen ihre Bettstücke durcheinander, packen alles zusammen,
um abzureisen, zerstören, schmieren, kriechen und wischen am
Boden herum, entkleiden sich am Tage, weil sie meinen, es
sei Schlafenszeit, Sie werden hülflos und unrein; der Schlaf ist
stets sehr gestört, die Nahrungsaufnahme bald gierig, bald ganz un-
genügend. —
Auf der Grundlage des Altersschwachsinns können sich eine
Reihe von Krankheitsbildern entwickeln, in deren klinischer Ge-
Klinische Formen. 353
staltung mehr oder weniger deutlich der Einfluss der allgemeinen
psychischen Rückbildung zum Ausdrucke kommt. Wir sehen dabei
ganz ab von denjenigen Störungen, die in jedem und somit auch in
hohem Alter eintreten können, wenu auch eine gewisse Färbung
derselben durch die Greisenveränderungen sich häufig genug be-
obachten lässt.
Die überwiegende Mehrzahl der Geistesstörungen des Greisen-
alters sind Depressionszustände, deren senile Gestaltungen wir
bereits in dem Abschnitte über Melancholie eingehender geschildert
haben. Erheblich seltener sind manische Erregungszustände, entweder
in der leichteren Form der Hypomanie oder mit starker ideen-
flüchtiger Verwirrtheit, Wahnbildungen und Sinnestäuschungen. Da
solche Erregungen sich meist mehrmals wiederholen, öfters auch mit
deutlichen Depressionen abwechseln, so halte ich es für wahrschein-
lich, dass wir es hier einfach mit Spätformen des manisch-depressiven
Irreseins zu thun haben. Im Klimakterium gehört die Entwicklung
zweifellos circulärer Geistesstörungen nicht gerade zu den Selten-
heiten, aber auch noch erheblich später habe ich einzelne ganz
sichere dei'artige Fälle beobachtet.
Etwas anders liegt die Sache, wie mir scheint, mit den deli-
r lösen Erkrankungen des Greisenalters; hier dür